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Sind "Biomedizin" und "Bioethik" behindertenfeindlich?

Ein Versuch, die Anliegen der Behindertenbewegung für die ethische Diskussion fruchtbar zu machen

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Ethik in der Medizin Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Zwischen Medizinethik und Behindertenbewegung besteht Uneinigkeit darüber, ob von einer Diskriminierung von behinderten Menschen durch biomedizinische Verfahren, wie der Pränatal- und der Präimplantationsdiagnostik, gesprochen werden kann. Dieser Konflikt beruht u. a. darauf, dass sich gesellschaftspolitische und ethische Argumente oft auf unterschiedlichen Ebenen bewegen. Während in der Ethik danach gefragt wird, ob durch die genannten Verfahren unmittelbar individuelle Rechte von Menschen mit Behinderungen verletzt werden, scheint es der Behindertenbewegung um die Verletzung des kollektiven Anspruches auf kulturelle Anerkennung zu gehen. Mit der Unterscheidung verschiedener Anerkennungsverhältnisse in zwischenmenschlichen Beziehungen beabsichtigt der Beitrag, einen Rahmen für das Verständnis der Anliegen der Behindertenbewegung bereitzustellen. Daran anschließend wird eine Ethikkonzeption skizziert, die geeignet ist, die Argumente der Behindertenbewegung für eine konstruktive ethische Diskussion fruchtbar zu machen.

Abstract

Definition of the problem: There is disagreement between medical ethics and the disability rights movement as to whether biomedical procedures such as prenatal and preimplantation genetic diagnosis can be termed discriminatory towards people with disabilities. Arguments and Conclusion: One reason for this conflict is that sociopolitical and ethical arguments are often positioned on different levels. While in ethics the question is whether the procedures in question directly violate the individual rights of people with disabilities, the disability rights movement is concerned about violation of the collective demand for cultural recognition. By distinguishing between different types of recognition in interpersonal relationships the article strives to create a framework for understanding the concerns of the disability rights movement. It then goes on to outline a conception of ethics which allows the arguments of the disability rights movement to be utilized for a constructive ethical debate.

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Notes

  1. Es wird explizit darauf hingewiesen, dass sich dieser Beitrag nicht mit der "Singer-Debatte" beschäftigt, sondern mit den Positionen, die in der Behindertenbewegung häufig unter dem Label "Biomedizin-" und "Bioethik-Kritik" diskutiert werden. Deshalb stehen diese Begriffe hier durchgehend in Anführungszeichen.

  2. Honneth selbst verwendet hierfür den Begriff "Selbstschätzung", gelegentlich aber auch den umgangssprachlichen Begriff "Selbstwertgefühl".

  3. Benhabib will allerdings mit dem Standpunkt des "konkreten anderen" auch die emotionale Verbundenheit ansprechen. Sie differenziert hier nicht zwischen persönlichen und gesellschaftlich bzw. kulturell vermittelten Interaktionen zwischen Menschen.

  4. Dabei stützt sich Conradi auf Ausführungen von Honneth zur Diskursethik.

  5. Honneth setzt hier das Gelingen der Mutter-Kind-Beziehung einfach voraus. Primäre persönliche Nahbeziehungen sind für ihn offenbar vor allem deshalb interessant, weil er hier die Relevanz des Anerkennungsverhältnisses für die personale Identität unter Bezug auf empirisch gesichertes Wissen begründen kann.

  6. Dazu neigen auch konservative, tugendethische Ansätze, die sich damit beschäftigen, wie gesellschaftliche Strukturen geschaffen sein sollten, um den Bedürfnissen von Kindern sowie von kranken, behinderten und alten Menschen gerecht zu werden, wie beispielsweise Alasdair MacIntyre [20].

  7. Ulrike Riedel zeigt in ihrer Arbeit zur "Kind-als-Schaden-Rechtssprechung", dass in diesem Zusammenhang nicht die Gerichtbarkeit die normsetzende Instanz ist, sondern die Ärzteschaft [25].

Literatur

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  3. Aktion Mensch (2003).www.1000fragen.de. Gesehen Juli 2003

  4. Aktion Mensch und Deutsches Hygienemuseum (2003) Dokumentation der Ausstellung "Der [im]perfekte Mensch", 20.12.2000–12.8.2001 in Dresden und 16.3.2002–2.6.2002 in Berlin.www.imperfekt.de. Gesehen Juli 2003

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  6. Beck-Gernsheim E (1991) Technik, Markt und Moral. Über Reproduktionsmedizin und Gentechnologie. Fischer, Frankfurt/Main

  7. Behindertenbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Stein I (2001) Dokumentation: Biotechnologie & Biomedizin im 21. Jahrhundert. Eine Gefahr für das behinderte Leben? Fachtagung der Behindertenbeauftragten der Bayerischen Staatsregierung, München

  8. Benhabib S (1995) Selbst im Kontext. Suhrkamp, Frankfurt/Main

  9. Birnbacher D (1999) Selektion am Lebensbeginn—ethische Aspekte. Vortrag auf dem Kongress für Philosophie, Konstanz

  10. Conradi E (2001) Take care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit. Campus, Frankfurt/Main

  11. Daele W van den (2002) Zeugung auf Probe. In: Die Zeit 41/2001

  12. Daele W van den (2003) Empirische Befunde zu den gesellschaftlichen Folgen der Pränataldiagnostik: Vorgeburtliche Selektion und Auswirkungen auf die Lage behinderter Menschen. Wissenschaftszentrum, Berlin

  13. Disabled Peoples' International Europe (2000) The right to live and be different. Deklaration vom 12./13. Februar 2000

  14. Fraser N (1997) Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats. Suhrkamp, Frankfurt/Main

  15. Honneth A (1998) Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Suhrkamp, Frankfurt/Main

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  17. Interessensvertretung Selbstbestimmt Leben (2002) PID—da machen wir nicht mit! Auswirkungen der modernen Fortpflanzungsmedizin auf die Gesellschaft. Kassel

  18. Kittay EF (1999) Love's labor. Essays on women, equality, and dependency. Routledge, New York

  19. Landesarbeitsgemeinschaft "Hilfe für Behinderte" Berlin (2002) Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen. Ethik und Behinderung IV., Berlin

  20. MacIntyre A (2001) Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugenden. Rotbuch, Hamburg

  21. O'Neill O (1996) Tugend und Gerechtigkeit. Eine konstruktive Darstellung des praktischen Denkens. Akademie, Berlin

  22. Parens E, Ash A (2000) The disability rights critique of prenatal testing. In: Parens E, Ash A (eds) Prenatal testing and disability rights. Georgetown University Press, Washington DC, pp 3-43

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  24. ReproKult (2002) Reproduktionsmedizin und Gentechnik. Frauen zwischen Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Normierung. Dokumentation der Fachtagung 15.–17. November 2001 in Berlin. Erhältlich über die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZGA) Köln, S 130–140

  25. Riedel U (2003) "Kind als Schaden". Die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Arzthaftung für den Kindesunterhalt bei unerwünschter Geburt eines gesunden, kranken oder behinderten Kindes. Mabuse, Frankfurt/Main

  26. Rommelspacher B (2002) Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft. Campus, Frankfurt/Main

  27. Werz DC, Fletcher JC (1992) Sex selection through prenatal diagnosis. In: Holmes HB, Purdy LM (eds) Feminist perspectives in medical ethics. Indianna University Press, Bloomington, pp 240–253

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Graumann, S. Sind "Biomedizin" und "Bioethik" behindertenfeindlich?. Ethik Med 15, 161–170 (2003). https://doi.org/10.1007/s00481-003-0246-1

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