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Wolfgang Huemer FORM UND ERKENNTNIS: WIE KUNST UND LITERATUR WISSEN VERMITTELN AUSSAGE VERSUS ORNAMENT Die Behauptung, dass Kunst kognitiven Wert haben kann, erscheint prima facie unproblematisch: Kunst gilt als wesentlicher Bestandteil der Bildung und neben den anderen Funktionen, die sie in unserer Gesellschaft einnimmt, scheint es unbestreitbar, dass die Auseinandersetzung mit Kunstwerken uns neue Einsichten bieten und unser Verständnis vertiefen kann. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass viele Künstler und Schriftsteller den Anspruch erheben, mit ihren Werken Aussagen zu treffen, die die Rezipienten zum Nachdenken anregen und, im besten Fall, ihre Meinungen und althergebrachten Vorurteile ändern können. Es wurde jedoch von vielen Philosophen bezweifelt, dass sich dieser Anspruch verwirklichen lasse. Kunstwerke, so heißt es, haben per se keinen Erkenntniswert; sie dienten in erster Linie dem ästhetischen Wohlgefallen oder, profaner ausgedrückt, der Unterhaltung. Die Aussage, die ein Künstler machen will, könne genauer und adäquater in einem theoretischen Essay ausgedrückt werden, der sich durch seine argumentative Struktur auszeichne und dadurch besser in der Lage sei, Wissen zu vermitteln. Geht es uns um Erkenntnis, sei es demnach ratsam, Lehrbücher, Dokumentarfilme oder Fotographien zu konsultieren, die – anders als Romane, Spielfilme oder Gemälde – zumindest den Anspruch erheben, Ereignisse oder Personen so zu beschreiben bzw. abzubilden, wie sie wirklich waren oder sind. Kunst kann in dieser Konzeption, die die Funktion von Kommunikation im Wesentlichen in der Vermittlung von Information sieht, im besten Falle die Rolle eines unterhaltsamen, aber letztlich überflüssigen Ornaments einnehmen. Die Wurzeln dieser Argumentationslinie finden sich schon im Werk Platons, der Maler und Dichter der Unwahrheit beziehungsweise der Täuschung bezichtigt: Da sie Gegenstände nur nachahmen, entfernen sie sich einen (weiteren) Schritt von deren Wesen und somit von der Wahrheit.1 1 Für Platon stehen physische Gegenstände in einer mimetischen Beziehung zu den Ideen Erschienen in: Alex Burri und Wolfgang Huemer (Hrsg.): Kunst denken. Paderborn: mentis, 2007, S. 117-134. 118 Wolfgang Huemer Maler seien „Gaukelkünstler und Nachahmer“2, die „Kinder und Toren täuschen“, also solche Personen, die nicht imstande sind, „zwischen Wissen und Nichtwissen und Nachahmung scharf zu scheiden.“3 Besonders heftig kritisiert Platon die Dichter, die, wie die Maler, aus dem idealen Staat verbannt werden sollten. Dies zeigt, dass „zwischen Philosophie und Poesie ein alter Streit besteht“4, der letztlich darin beruht, dass die faktengetreue Beschreibung der Wirklichkeit und die argumentative Untermauerung der aufgestellten Behauptungen, die in Philosophie und Wissenschaft von zentraler Bedeutung sind, im Bereich der Kunst keine wesentliche Rolle spielen. Dass die Frage nach der Wahrheit gerade im Fall der Literatur besonders ausgiebig diskutiert wird, liegt auch an deren Medium: literarische Texte sind Texte, sie enthalten (u.a.) Propositionen, die, wie wir in unserer ersten Logikvorlesung gehört haben, einen Wahrheitswert haben; sie sind wahr oder falsch, abhängig davon, ob sie die Welt richtig oder falsch beschreiben. Literarische Texte zielen jedoch nicht einmal darauf ab, die (reale) Welt zu beschreiben, sie thematisieren vielmehr fiktionale Szenarien5, sprechen von Personen, die nie gelebt, und von Ereignissen, die nie stattgefunden haben. Das hat viele Philosophen zu der Konklusion geführt, dass die literarische Sprache eine Sonderform darstelle, die ganz anderen Regeln folge als die Alltagssprache. Propositionen in literarischen Texten, so wurde behauptet, komme entweder gar kein Wahrheitswert zu6, oder sie seien allesamt falsch.7 Folgt man der ersten Position, kommt man zu dem Schluss, dass Literatur durch einen abartigen Sprachgebrauch gekennzeichnet sei, der überhaupt erst möglich ist, weil er ein parasitäres Verhältnis zur Alltagssprache einnimmt; während letztere zu dem Vorwurf einlädt, dass Dichter, wie David 2 3 4 5 6 7 und sind demnach einen Schritt von ihrem wahren Wesen bzw. der Wahrheit entfernt. Bilder und literarische Texte wiederum stehen in einer mimetischen Beziehung zu den physischen Dingen – sie bilden physische Gegenstände wie Tische, Bäume oder Personen ab, nicht die Ideen beziehungsweise das Wesen dieser Dinge – und sind deshalb einen weiteren Schritt von der Wahrheit entfernt. Platon, Der Staat, übersetzt von Otto Apelt, Leipzig: Meiner, 1993, S. 393, 598d. Ebd., 598c. Ebd., S. 408, 607b. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass wir zwischen Literatur und Fiktion unterscheiden müssen: nicht alle literarischen Text sind fiktional, so gelten zum Beispiel gut geschriebene Autobiographien, Texte des New Journalism oder die Geschichtsbücher von Tacitus als literarische Werke, obwohl sie – zumindest vorgeblich – reale Szenarios beschrieben. Umgekehrt sind nicht alle fiktionalen Werke Literatur: Spielfilme, Seifenopern oder Cartoons stellen fiktionale Szenarien dar, gelten aber, schon aus rein formalen Gründen, nicht als Literatur. Wir finden diese Position schon bei Sir Philip Sidney: „Now for the poet, he never affirmeth, and therefore never lieth: for, as I take it, to lie is to affirm that to bee true“ (Sir Philip Sidney, A Defence of Poetry, Oxford: Oxford University Press, 1973, S. 52). So stellt zum Beispiel Bertrand Russell in Bezug auf Shakespeares Hamlet explizit fest: „the propositions in the play are false because there was no such man“ (Bertrand Russell, An Enquiry into Meaning and Truth, London: Allen and Unwin, 1962, S. 277). Form und Erkenntnis 119 Hume es pointiert formuliert hat, professionelle Lügner8 seien. In beiden Fällen versteht man Literatur als ein in sich geschlossenes System, das keinen Bezug zur realen Welt hat und demnach seiner Natur nach von keinerlei kognitivem Interesse sein kann. Diese Argumentationslinie lässt sich auch auf andere Kunstformen ausweiten, sofern sie – wie es im Bereich des Films oder der Malerei zweifelsfrei der Fall ist – auf Zeichensystemen beruhen, deren primäre Aufgabe darin besteht, die Welt zu repräsentieren. Dass Kunst in unserem Alltagsleben dennoch einen nicht unwesentlichen Platz einnimmt9, erklärt man damit, dass sie eigentlich anderen Funktionen als der Vermittlung von Erkenntnis diene. Es ist ein alter Gemeinplatz, dass wir bei Kunstwerken drei Aspekte – Form, Inhalt und Ausdruck – unterscheiden können (wobei häufig argumentiert wird, dass ein gelungenes Kunstwerk diese Aspekte in harmonischer Form vereinige). Die philosophische Tradition, die die Wirkung der Kunst darauf reduziert, ästhetisches Wohlgefallen auszulösen, schreibt diese Wirkung für gewöhnlich den Aspekten des Ausdrucks und der Form zu. So stellt Carnap die Metaphysik auf eine Stufe mit der Kunst, weil beide im besten Falle in der Lage seien, ein Lebensgefühl, die “Haltung, in der ein Mensch lebt, die gefühls- und willensmäßige Einstellung zur Umwelt, zu den Mitmenschen, zu den Aufgaben, an denen er sich betätigt, zu den Schicksalen, die er erleidet”10, auszudrücken. Dies geschehe in adäquater Weise in der „Formung des Kunstwerkes“, das Lebensgefühl offenbart sich in „Stil und Art des Kunstwerkes“11 – in metaphysischen Abhandlungen aber nur in inadäquater Weise. Auch David Hume spricht dem Aspekt der Form eine zentrale Rolle für die Wirkung der Kunst zu. In seiner Diskussion des (heute) so genannten Paradox of Tragedy, also des Problems, wie es möglich ist, dass wir uns an Tragödien erfreuen, obwohl uns die dargestellten Ereignisse eigentlich erschüttern sollten, stellt er fest, dass das ästhetische Wohlgefallen in erster Linie aus dem Formaspekt resultiert: 8 9 10 11 David Hume, A Treatise of Human Nature, Oxford: Clarendon Press, 1978, S. 121: „Poets themselves, tho’ liars by profession, always endeavour an to give an air of truth to their fictions“. Mir ist klar, dass diese Behauptung auf Widerspruch stoßen kann. Kunst, so wird häufig argumentiert, ist das Vergnügen einer kleinen, gebildeten Elite; im Alltagsleben der „breiten Masse“ nehme sie aber keinen wesentlichen Stellenwert ein. Dieses Argument beruht meines Erachtens auf einem sehr engen Kunstbegriff, der auf einer normativen Verwendung beruht und sich auf den kleinen Kreis der sehr gelungenen Kunstwerke bezieht. Fassen wir den Begriff weiter und beziehen fiktionale Kontexte der Alltagskultur wie Filme, Cartoons, Seifenopern oder „Schundromane“ mit ein, bei denen sich dieselben Probleme stellen, so gewinnt die These, dass Kunst einen wesentlichen Stellenwert im alltäglichen Leben eines breiten Publikums hat, an Plausibilität. Rudolf Carnap, „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“, Erkenntnis 2 (1931), 219–241, S. 239. Ebd. 120 Wolfgang Huemer This extraordinary effect proceeds from that very eloquence with which the melancholy scene is represented. The genius required to paint objects in a lively manner, the art employed in collecting all the pathetic circumstances, the judgments displayed in disposing them; the exercise, I say, of these noble talents, together with the force of expression, and beauty of oratorical numbers, diffuse the highest satisfaction on the audience, and excite the most delightful movements.12 Dies verdeutlicht, dass der Wert der Kunst oft auf ihren ästhetischen Wert verkürzt wird, der sich in den Aspekten des Ausdrucks und der Form manifestiert. Damit wird die Kunst allerdings auf ein Nischendasein reduziert, ihre Legitimität erscheint fragwürdig. Wenn Kunst lediglich dazu dient, ästhetisches Wohlgefallen auszulösen, ist unklar, warum wir uns überhaupt mit ihr auseinandersetzen sollten; es kann vor allem nicht erklären, wie sie dazu beitragen kann, unsere Perspektiven auf und Ansichten über die Welt zu ändern. Die weit verbreitete Vorstellung, dass Kunst einen nicht unwesentlichen Teil der Bildung darstelle, ist mit dieser anti-kognitivistischen Position unvereinbar. Das Problem der skizzierten Argumentationslinie liegt darin, dass ihr ein problematisches Verständnis von kognitivem Fortschritt als beständigem Zuwachs an für wahr gehaltenen Propositionen zugrunde liegt. Catherine Elgin hat dieses Bild elegant mit den folgenden Worten charakterisiert: Human beings seem to gather information in the way that squirrels gather nuts. Bit by bit, we amass data and store it away against future needs. Many epistemologists and laymen take cognitive progress to consist in data gathering.13 Sie argumentiert, dass der kognitive Wert der Kunst nicht darin liegt, wahre Propositionen zu unserer „Wissens-Datenbank“ hinzuzufügen, sondern darin, unser bereits vorhandenes Wissen und unsere Repräsentationssysteme zu hinterfragen. „Cognitive progress often consists in reconfiguration – in recognizing a domain so that hitherto overlooked or underemphasized features, patterns, and resources come to light.“14 Kunst, so Elgin, „does not, and does not purport to, deliver literal, descriptive truths. It seeks, rather, to challenge, to disorient, to disrupt, to explore, and thereby to reveal what more regimented approaches lack the resources to attempt.“15 Demnach kann Kunst, auch wenn sie die Welt nicht faktengetreu repräsentiert, unser bereits erworbenes Wissen und unsere Repräsentationssysteme infrage stel12 13 14 15 David Hume, „Of Tragedy“, in: Selected Essays, Oxford: Oxford University Press, 1993, 126–133, S. 128 f. Catherine Z. Elgin, „Art and the Advancement of Our Understanding“, in: American Philosophical Quarterly 39 (2002), 1–12, S. 1. Ebd. Ebd., S. 12. Form und Erkenntnis 121 len und uns neue Perspektiven auf altbekannte Fakten zugänglich machen, aufgrund derer wir Aspekte, denen wir bisher keine, zuwenig oder die falsche Bedeutung zugemessen haben, in einem neuen Licht sehen können. Sie kann uns so helfen, Dinge wahrzunehmen, die wir bisher übersehen haben, auch wenn sie keine wahren Propositionen über diese Dinge kommuniziert. Die antikognitivistische Haltung hat sich stark auf den Inhaltsaspekt der Kunst konzentriert. Wenn kognitiver Fortschritt im Zuwachs wahrer Propositionen besteht und wenn Kunstwerke keine wahren Propositionen kommunizieren, so liegt der Schluss nahe, dass Kunst keinen kognitiven Wert habe. Auf den folgenden Seiten will ich mich auf den Formaspekt konzentrieren und argumentieren, dass selbst dieser Aspekt eine kognitive Rolle spielen kann: Kunstwerke können, schon allein aufgrund ihrer Form, Wissen vermitteln. Damit will ich freilich nicht bestreiten, dass Kunst auch durch den Inhalts- oder den Ausdrucksaspekt Wissen vermitteln könne. Da dem Formaspekt in der Debatte um den kognitiven Gehalt der Kunst meines Erachtens aber bislang (zu) wenig Bedeutung zugemessen wurde, will ich auf den folgenden Seiten diesen Aspekt in den Mittelpunkt stellen.16 FORM UND SPRACHE IM LITERARISCHEN KONTEXT Literarische Texte unterscheiden sich von anderen Textgattungen darin, dass in ihnen eine besondere Aufmerksamkeit auf die Form der Darstellung gelegt wird: Es geht nicht (nur) darum, was gesagt wird, sondern (auch) darum, wie es gesagt wird. Während es zum Beispiel in einem Zeitungsartikel über einen Bankraub in erster Linie um die getreue Wiedergabe der Fakten geht, spielen in einem literarisch ausgefeilten Kriminalroman die genaue Wortwahl, die Struktur der Sätze und der Handlungsaufbau etc. eine besondere Rolle. Durch diese formalen Aspekte erwächst im literarischen Text eine neue Ebene der Bedeutung, was sich auch darin zeigt, dass sich literarische Texte – anders als Zeitungsartikel – nicht ohne Informationsverlust zusammenfassen lassen: Während die Kurzfassung eines Sachbuches (im Idealfall) dieselbe Information enthalten kann wie der Originaltext, entbehrt die Zusammenfassung eines Stückes von Shakespeare die literarische Kraft und die mit ihr verbundenen Aspekte, auf die es uns bei literarischen Texten aber gerade ankommt.17 Lubomír Doležel weist auf die Bedeutung des Sprachmaterials für literarische Texte hin, wenn er Literatur mithilfe des Begriffs der Intensionalität definiert: 16 17 Außerdem werde ich hauptsächlich literarische Kunstwerke diskutieren, da hier die Frage nach dem kognitiven Gehalt eine besondere Rolle einnimmt. Die von mir aufgestellten Behauptungen können aber ohne größere Probleme auf andere Kunstgattungen ausgedehnt werden. Vgl. Cleanth Brooks über die „Heresy of Paraphrase“ in seinem The Well Wrought Urn, San Diego: Harcout Brace, 1947, bes. Kap. 11. 122 Wolfgang Huemer In its semantics, literature (poetry) aims in the direction opposite of science: it is a communicative system for activating and putting to maximal use the resources of intensionality of language.18 Doležel greift hier den Begriff der Intensionalität nicht in der in der Sprachphilosophie üblichen Bedeutung auf – der zufolge wir in intensionalen Kontexten synonyme Ausdrücke nicht salva veritate ersetzen können. Das sollte allerdings unproblematisch sein, da der Wahrheit in literarischen Texten ohnehin keine besondere Rolle zukommt. Er will vielmehr betonen, dass man in literarischen Texten kein Wort durch einen synonymen Ausdruck ersetzen kann, ohne damit auch die Bedeutung des Textes zu ändern. Diese ist „necessarily linked to texture, to the form (structuring) of its expressions; it is constituted by those meanings, which the verbal sign acquires through and in texture.“19 Doležels Definition von Literatur unterstreicht die Bedeutung des formalen Aspektes literarischer Texte, der sich über verschiedene Ebenen erstreckt, die, abhängig von der literarischen Gattung, von unterschiedlicher Bedeutung sind. So kommt in der Poesie dem Klang und der Form der Wörter eine besondere Bedeutung bei, während in Romanen eher der Aufbau und Rhythmus der Sätze sowie der Handlungsaufbau im Vordergrund stehen. Der Aspekt der Intensionalität literarischer Texte erlaubt eine vorläufige Formulierung des Argumentes für die kognitive Relevanz der Literatur, das ich im Weiteren entwickeln will: Indem Literatur unsere Aufmerksamkeit auf die Sprache richtet, verfeinert sie unsere sprachlichen Fähigkeiten. Die Auseinandersetzung mit literarischen Texten hilft uns, unseren Wortschatz zu erweitern, unsere Ausdruckskraft zu festigen oder einen Handlungsbogen zu erzeugen. Diese Feststellung geht aber, wie ich im Folgenden zeigen werde, wesentlich über die Behauptung hinaus, dass wir literarische Texte lesen sollten, um so zu lernen, uns gewählter auszudrücken. Die Lektüre der Texte von Italo Calvino, Umberto Eco oder Italo Svevo kann zwar hilfreich sein, wenn es einem darum geht, seine Italienischkenntnisse aufzufrischen – auch wenn man diesen Effekt ebenso gut auf andere Weise, etwa durch den Besuch eines Italienischkurses für Fortgeschrittene, erzielen könnte. Die kognitive Funktion der Form aber reicht wesentlich weiter: Indem sie unsere sprachlichen Fähigkeiten verfeinert, ermöglicht sie es uns auch, ein besseres Verständnis für reale Ereignisse und Personen in unserer Umwelt und damit neue Erkenntnisse über die Wirklichkeit zu gewinnen. Dieses Argument setzt ein bestimmtes Verständnis von Sprache voraus, das diese als einen Teil unserer sozialen Praktiken versteht, die in der realen Welt veran18 19 Lubomír Doležel, Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Baltimore: Johns Hopkins University Press, 1998, S. 138. Ebd., S. 137 f. Form und Erkenntnis 123 kert sind. Ich werde im nächsten Abschnitt dieses Bild der Sprache, das im Wesentlichen auf Ludwig Wittgensteins Spätphilosophie aufbaut, etwas ausführlicher skizzieren. SPRACHE UND WELT NACH WITTGENSTEIN Zu Beginn seiner Philosophischen Untersuchungen20 entwickelt Wittgenstein eine Kritik an atomistischen Theorien der Bedeutung, denen zufolge die Bedeutung eines Wortes in erster Linie durch seine Beziehung auf den Gegenstand, den es benennt und unabhängig vom Rest der Sprache bestimmt ist. Wittgenstein zitiert im ersten Paragraphen eine Passage aus Augustinus, der zufolge Kinder die Bedeutung von Wörtern erwerben, indem sie beobachten, wie die Erwachsenen diese Wörter aussprechen und sich dabei Gegenständen in ihrer direkten Umgebung zuwenden. Indem es das „Mienenund Augenspiel, ... die Bewegungen der Glieder und den Klang der Stimme“ der Erwachsenen und die Gegenstände, auf die sie gerichtet sind, beobachtet, lernt das Kind, eine Verbindung zwischen einem bestimmten Wort und einem bestimmten Gegenstand herzustellen: „... ich begriff, daß der Gegenstand durch die Laute, die sie aussprachen, bezeichnet wurde, da sie auf ihn verweisen wollten.“21 Wittgenstein wendet sich bekanntermaßen gegen dieses atomistische Verständnis und entwickelt ein holistisches Bild der Sprache, in dem der Begriff des Gebrauchs im Mittelpunkt steht. Er versteht Sprache als soziale Praxis, die, vergleichbar einem Spiel, von sozialen Normen geleitet ist. Die Bedeutung eines Wortes ist für ihn nicht durch seine Beziehung zu einem Gegenstand, sondern vielmehr durch seine Rolle in einem Sprachspiel bestimmt. Er charakterisiert dieses Bild in einer viel zitierten Passage folgendermaßen: Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes »Bedeutung« – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. (PU § 43) Wittgenstein wendet sich aber auch gegen Augustinus’ Theorie des Spracherwerbs, weil sie zu viele Voraussetzungen macht, die nicht gerechtfertigt sind. Augustinus beschreibt, so Wittgenstein, nicht den Erwerb der Erst-, sondern den einer Fremdsprache: Und so können wir, glaube ich, sagen: Augustinus beschriebe das Lernen der menschlichen Sprache so, als käme das Kind in ein fremdes Land und ver20 21 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984. Im Folgenden zitiert als PU. Augustinus, Confessiones I/8, zitiert nach Wittgenstein, PU § 1. 124 Wolfgang Huemer stehe die Sprache nicht; das heißt: so als habe es bereits eine Sprache, nur nicht diese. Oder auch: als könne das Kind schon denken, nur noch nicht sprechen. (PU § 32) Augustinus setzt demnach voraus, dass das Kind schon vor dem Erwerb der Sprache über deren referentielle Funktion Bescheid wisse, dass es mit anderen Worten schon wisse, dass Wörter gebraucht werden, um Gegenstände zu bezeichnen; es müsse außerdem in der Lage sein, hinweisende Definitionen und deren Rolle in unserem Sprachspiel zu verstehen. Darüber hinaus müsse das Kind auch Gegenstände als Gegenstände erkennen können; es müsse zum Beispiel Stühle als Stühle wahrnehmen. Wittgenstein spricht diesen letzten Punkt an, wenn er feststellt, das Kind müsse schon vor dem Spracherwerb „denken“ können – „Und »denken« hieße hier etwas, wie: zu sich selber reden“ (ebd.). Um einen Gegenstand als Gegenstand wahrnehmen zu können und ihn von den anderen Gegenständen in seiner Umgebung abzugrenzen, muss der/die Wahrnehmende in der Lage sein, ihn unter einen Begriff zu fassen. Augustinus’ Theorie des Spracherwerbs setzt also voraus, dass das Kind schon vor dem Spracherwerb über Begriffe verfügt. Das Problem des Spracherwerbs nimmt einen erheblichen Stellenwert in Wittgensteins Spätphilosophie ein, der in der Sekundärliteratur oft vernachlässigt oder als Illustration oder heuristisches Hilfsmittel abgetan wurde.22 Er erklärt den Spracherwerb dadurch, dass dem Kind die Bedeutung der Wörter nicht erklärt werde, es werde vielmehr dazu abgerichtet, an sozialen Praktiken teilzuhaben, die wiederum die Grundlage für den Spracherwerb darstellen.23 „Das Lehren der Sprache ist hier kein Erklären, sondern ein Abrichten“ (PU § 5), denn das Kind verfügt ja noch nicht über eine Sprache, in der man die Erklärung formulieren könnte. In Über Gewißheit24 stellt Wittgenstein darüber hinaus eine enge Verbindung zwischen der Sprache und einigen Fähigkeiten her, wenn er schreibt: Ist es aber falsch zu sagen: »Das Kind, welches ein Sprachspiel beherrscht, muß Gewisses wissen«? Wenn man statt dessen sagte »muß Gewisses können«, so wäre das ein Pleonasmus, und doch ist es gerade das, was ich auf den ersten Satz erwidern möchte. (ÜG § 534) Über welche Fähigkeiten muss ein Kind verfügen, um eine Sprache zu erwerben? Es scheint offensichtlich, dass verschiedene Arten von Fähigkeiten 22 23 24 Auf diesen Punkt und auf die zentrale Rolle des Lernens in Wittgensteins Spätphilosophie weist auch Meredith Williams in ihrem Artikel „The Philosophical Significance of Learning in the later Wittgenstein“ in: Wittgenstein, Mind, and Meaning: Towards a Social Conception of Mind, London: Routledge, 188–215 hin. Ich diskutiere diesen Punkt ausführlicher in meinem Artikel „The Transition from Causes to Norms: Wittgenstein on Training“, in: Grazer Philosophische Studien 71 (2006), 205–225. Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit. Werkausgabe Band 8, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984. Im Folgenden zitiert als ÜG. Form und Erkenntnis 125 im Spiel sind. Zum einen muss das Kind über eine bestimmte Anzahl angeborener Fähigkeiten verfügen: Es muss zum Beispiel in der Lage sein, auf ähnliche Stimuli in ähnlicher Weise zu reagieren oder das Verhalten der Erwachsenen zu imitieren. Darüber hinaus benötigt es aber auch Fähigkeiten, die es von den Mitgliedern der Gemeinschaft, in die es durch Erziehung hineinwächst, erlernt, indem es Handlungen imitiert, die diese in der Welt – und mit (den Gegenständen in) der Welt vollziehen. Indem das Kind diese Handlungen imitiert, lernt es zu handeln und es ist, wie Wittgenstein festhält, „unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt“ (ÜG § 204). Kinder erwerben die Fähigkeit, Gegenstände als Gegenstände wahrzunehmen und sie von den anderen Gegenständen in deren Umgebung abzugrenzen, indem sie lernen, an sozialen Praktiken teilzuhaben, in denen eben diese Gegenstände eine Rolle spielen. Wittgenstein illustriert diesen Prozess, wenn er schreibt: „Das Kind lernt nicht, daß es Bücher gibt, daß es Sessel gibt, etc. etc., sondern es lernt Bücher holen, sich auf Sessel (zu) setzen, etc.“ (ÜG § 476). Bevor das Kind also Wörter wie „Glas“ oder „Sessel“ erwerben kann, muss es lernen, aus Gläsern zu trinken und sich auf Sessel zu setzen. Erst mit diesen Fähigkeiten lernt das Kind, Gläser und Sessel als Gläser und Sessel wahrzunehmen und von den anderen Gegenständen in deren Umgebung abzugrenzen; es erwirbt mit anderen Worten die Begriffe GLAS und SESSEL, was wiederum eine Voraussetzung für den Erwerb der jeweiligen Wörter ist. Wittgenstein weist auf diesen Zusammenhang auch hin, wenn er eine Analogie zwischen „Begriff“ und „begreifen“ herstellt: „Und Begriffe dienen zum Begreifen. Sie entsprechen einer bestimmten Behandlung der Sachlagen“.25 Das Kind erwirbt demnach seine erste Sprache, indem es lernt, Gegenstände in seiner Umwelt zu manipulieren. Dies zeigt, dass Wittgenstein einen engen Zusammenhang zwischen unserer Sprache und der realen Welt sieht. Wäre die Welt wesentlich anders als sie tatsächlich ist, wäre auch unsere Sprache wesentlich anders; würde sich die Welt plötzlich (und unerwarteterweise) wesentlich ändern, so wären wir auch gezwungen, unsere Sprache diesen Veränderungen anzupassen, um weiter über die Welt sprechen zu können: Ich würde durch gewisse Ereignisse in eine Lage versetzt, in der ich das alte Spiel nicht mehr fortsetzen könnte. In der ich aus der Sicherheit des alten Spiels herausgerissen würde. Ja, ist es nicht selbstverständlich, daß die Möglichkeit eines Sprachspiels durch gewisse Tatsachen bedingt ist? (ÜG § 617) Wittgenstein versteht Sprache demnach nicht als ein Zeichensystem, das von der Welt abgehoben ist, das ihr gegenüber steht und sie gleichsam spiegelt. Er widersteht damit der Versuchung, einen Abgrund zwischen Sprache 25 Ludwig Wittgenstein, Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Werkausgabe Band 6, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, Teil VII, § 67. 126 Wolfgang Huemer und Welt aufzutun, der durch die mysteriöse Beziehung der Bedeutung oder Intentionalität überbrückt werden müsste. Sprache ist für ihn vielmehr Teil einer umfassenderen sozialen Praxis, einer Lebensform, die auch Gegenstände und Tatsachen der realen Welt mit einschließt; die Welt ist demnach in gewisser Weise Teil unseres Sprachspiels. Wittgenstein spricht diesen Punkt an, wenn er über die Tatsache, „dass Wasser unter den und den Umständen kocht und nicht gefriert“ sagt: „Diese Tatsache ist in das Fundament unseres Sprachspiels eingegossen“ (ÜG § 558). Das heißt natürlich nicht, dass sich jede unserer sprachlichen Äußerungen auf eine bestimmte reale Tatsache in der Welt beziehen muss; wir können ohne weiteres über Personen, die nie existiert und Ereignisse, die nie stattgefunden haben, sprechen – so wie wir das von den fiktionalen Werken der Literatur her kennen. Es zeigt aber, dass die Struktur unserer Sprache wesentlich von der Beschaffenheit der realen Welt – also von den Aspekten, die für unsere sozialen Praktiken relevant sind – abhängt und nicht isoliert von diesen verstanden werden kann. Für Wittgenstein ist demnach die Sprache in ihrer Gesamtheit „schon auf vielfältige Weise mit der Wirklichkeit auf der Ebene der Praktiken verbunden, die allein es uns überhaupt erst ermöglichen, die Beziehung zwischen bezeichnenden Ausdruck und Bezeichnetem, Satz und Wahrheitswert herzustellen.“26 LITERATUR UND SOZIALE PRAXIS Die Tatsache, dass Wittgenstein die Sprache als eine (von vielen) sozialen Praktiken versteht, ermöglicht es uns nun, das kognitivistische Argument genauer zu formulieren: Literarische Texte stellen soziale Praktiken dar – sie beschreiben und verkörpern diese Praktiken – und ermöglichen es uns damit, unsere Fähigkeiten, an eben diesen Praktiken teilzuhaben, zu erweitern oder zu vertiefen beziehungsweise diese Praktiken zu reflektieren. Dafür müssen wir nicht, wie Aristoteles suggeriert hat27, eine allgemeine Wahrheit in der konkreten Beschreibung des Textes erkennen; es genügt, die konkrete Praxis, die im Text beschrieben wird oder sich in ihm zeigt, als solche zu erkennen, zu reflektieren und gegebenenfalls zu unserem eigenen Handlungsrepertoire hinzuzufügen. In gewisser Weise gilt also das Diktum von Oscar Wilde: „Paradox as it may seem ... it is none the less true that Life imitates art far more than Art imitates life.“28 26 27 28 Bernard Harrison, „Vorgestellte Welten und wirkliche Welt: Platon, Wittgenstein und Mimesis“, in: John Gibson und Wolfgang Huemer (Hrsg.), Wittgenstein und die Literatur, übersetzt von Martin Suhr, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, 134–159, S. 149 f. Vgl. Aristoteles, Poetik, übersetzt von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam, 1982, 1451b, S. 29 f. Oscar Wilde, „The Decay of Lying“, in: ders. Intentions and the Soul of Man. Collected Works, Vol. 8, London: Routledge/Thoemmes, 1993, S. 33. Form und Erkenntnis 127 Dies kann jedoch auf vielfältige Weise geschehen. In Romanen oder Erzählungen beobachten wir Protagonisten, die an bestimmten Praktiken teilhaben. Kafkas Roman Der Prozeß zum Beispiel beschreibt, wie Josef K. auf die von einem anonymen Justizsystem erhobenen Vorwürfe reagiert. Wir sehen im Detail, wie dieses Individuum auf die Mechanismen eines dunklen und undurchsichtigen Systems reagiert – und werden uns dabei auch bewusst, dass das System nur deshalb seine Macht ausüben kann, weil Josef K. bei dem üblen Spiel mitmacht. Wer ist hier nicht an die Funktionsweise überbürokratisierter Verwaltungen erinnert? Viel zu oft erleben wir diese als undurchsichtige Systeme, die Gefahr laufen, den Blick auf das Wesentliche zu verlieren und dem Bürger seine Individualität abzusprechen, indem sie ihn auf eine Nummer reduzieren. Freilich lädt uns der Roman nicht dazu ein, Josef K.s Verhalten zu imitieren; vielmehr veranlasst uns der Text dazu, unsere eigene Situation in dieser Gesellschaft zu reflektieren. In vielen Fällen nehmen die Leser jedoch eine weniger kritische Haltung zum Text ein. Es ist bekannt, dass Goethes Werther zu einer Reihe von Selbstmorden unter seinen jugendlichen Lesern geführt hat, und – um ein weniger drastisches Beispiel zu geben – es scheint in österreichischen Gerichten immer öfter vorzukommen, dass die Richter mit „Euer Ehren“ angesprochen werden oder dass eine der Parteien versucht, „Einspruch“ zu erheben – obwohl beides in der österreichischen Gerichtspraxis beziehungsweise Rechtssprechung nicht vorgesehen ist.29 Es scheint mir offensichtlich, dass der Grund dafür in der Popularität amerikanischer Gerichtsfilme liegt. Es erscheint mir ebenso nahe liegend, dass das aufkommende Interesse an Halloween in Mitteleuropa als eine Imitation von Praktiken erklärt werden kann, die die meisten Menschen hierzulande aus amerikanischen Serien wie The Simpsons kennen – vor zwanzig Jahren war Halloween in Mitteleuropa weitgehend unbekannt. Dieses Argument lässt sich von der inhaltlichen auf die formale Ebene übertragen. Literarische Texte beschreiben nicht nur soziale Praktiken, sie stellen selbst auch solche Praktiken dar. Indem sie unsere Aufmerksamkeit auf die Sprache lenken, verfeinern sie unsere linguistischen Fähigkeiten. Wenn unser Sprachspiel, wie Ludwig Wittgenstein behauptet, in einem engen Zusammenhang mit der realen Welt steht, bedeutet das aber auch, dass wir durch ein vertieftes Verständnis der Sprache auch einen schärferen Blick auf die reale Welt gewinnen können. Die linguistische Form des Textes kann es uns so ermöglichen, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Auch das kann auf verschiedenen Ebenen geschehen. Erzählungen leisten das etwa, indem sie uns aufzeigen, welche Züge in Situationen, die den Lesern bisher unbekannt waren, möglich sind und zu welchen Ergebnissen diese führen können. Der Text kann so, wie David Schalkwyk es formuliert hat, „make telling revelations: not by producing empirical discoveries, but by 29 Ich danke Benno Fuxjäger für diesen Hinweis. 128 Wolfgang Huemer bringing into relief the surface connections – the conceptual relations of ‚grammar’ – that are always already ‚there’ in our practices.“30 Dadurch ermöglicht es der Text den Lesern, den „Geltungsbereich“ ihres Sprachspiels zu erweitern. Sie erlauben es uns, über Aspekte der Realität zu sprechen – und damit, über diese Aspekte zu denken – die uns vorher nicht zugänglich waren. (Um das zu tun, müssen literarische Texte typischerweise an Aspekte anschließen, die uns bereits vertraut sind. Wir brauchen eine Basis, die wir dann erweitern können.) Darüber hinaus sind literarische Texte – unabhängig von ihrem Thema – aber auch aufgrund ihrer Struktur kognitiv relevant: Alle im Text beschriebenen Personen und Details sind Teil eines Spannungsbogens; der Text ist auf ein bestimmtes Ende hin geschrieben. Indem unsere Aufmerksamkeit auf diesen Aspekt gelenkt wird, lernen wir, eine neue Ebene der Bedeutung zu konstituieren. Anstatt die Geschichte als Aufeinanderfolge einzelner Zeitmomente wahrzunehmen, fassen wir gewisse Ereignisse zu einem Spannungsbogen zusammen (unter Auslassung anderer, irrelevanter Ereignisse) und lernen so, verschiedene Vorkommnisse in der Welt nicht länger als isolierte, voneinander unabhängige Ereignisse, sondern als Teil einer längeren Geschichte wahrzunehmen: Caesars Kampf gegen die Gallier; die Biographie Napoleons; der erste Weltkrieg; oder die Verfolgung Josef K.s etc. Man lernt so auch, einzelne Ereignisse im eigenen Leben als Teil einer größeren Geschichte – der eigenen Biographie – zu verstehen. Erst dann kann die Frage nach dem Sinn des Lebens beziehungsweise nach einer Methode, ein gelungenes Leben (im Gegensatz zu einer Serie gelungener, aber isolierter Momente) zu führen, gestellt werden. Literatur ist aber mehr als das Erzählen von Geschichten, und sie ist auch dann kognitiv relevant, wenn sie das nicht tut. Von allen literarischen Genres ist der Verweis auf die sprachliche Form wohl im Bereich der Poesie am stärksten ausgeprägt. Anders als Romane, die ausführlich und reich an „unnötigen Details“31 ihre Handlungsbögen entwickeln, bietet sie übersichtliche Schaukästen, in denen (auch) das Funktionieren der Sprache gezeigt wird. In ihren knappen, metaphorischen Formulierungen ergründet sie die Bedeutung der Wörter, indem sie sie in neue Sinnzusammenhänge stellt. In einigen Fällen können diese Metaphern sogar zu Änderungen in unseren Wahrnehmungsmustern führen – wie Elgin in dem oben zitierten Artikel argumentiert. Das zeigt, dass die Poesie ein besonders taugliches Mittel ist, um das Funktionieren der Sprache zu thematisieren; in manchen Fällen erkundet sie sogar die Grenzen unserer Sprache, indem sie diese bewusst überschreitet. 30 31 David Schalkwyk, „Fiction as ‚Grammatical‘ Investigation: A Wittgensteinian Account“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 53 (1995), 287–298, S. 296f. Ich greife hier Richard Rortys Formulierung auf, der argumentiert, dass Romane gerade dadurch, dass sie „unnötige Details“ schildern, unser moralisches Verständnis bereichern können. Vgl. Rorty, „Heidegger, Kundera, and Dickens“, in: Essays on Heidegger and Others, Philosophical Papers, Vol 2, Cambridge: Cambridge University Press, 1991, 66–82. Form und Erkenntnis 129 Ob, wie und in welchem Ausmaß der formale Aspekt literarischer Texte kognitiv relevant sein kann, hängt natürlich auch von den Lesern ab: Der Text kann sein kognitives Potential nur dann entfalten, wenn die Leser die Praktiken, die er darstellt, in geeigneter Weise reflektieren. Aber das sollte uns nicht weiter beunruhigen; es wäre falsch, die Leser als passive Rezipienten anzusehen, gleichsam als ein unbeschriebenes Blatt Papier, auf dem die Autoren ihre Wahrheiten eintragen; sie sind vielmehr rational Handelnde, die kritisch lesen, die vom Autor ausgedrückten Überzeugungen abwägen und die Freiheit haben, die Einsichten, die aus dem Text hervorgehen, zu übernehmen oder nicht; und selbst wo die Leser die vorgebrachten Einsichten ablehnen, führt sie die Lektüre des Textes dazu, ihre schon bestehenden Meinungen zu überdenken und so zu einem reflektierteren Urteil zu gelangen. Zu viele Philosophen haben sich auf die Frage konzentriert, ob literarische Texte wahre Propositionen ausdrücken oder Informationen kommunizieren können. Es scheint aber wesentlich festzuhalten, dass Literatur Einsichten anbieten kann, sie aber den Lesern nicht aufzwingt. In dieser Hinsicht unterscheiden sich literarische von wissenschaftlichen Texten. Letztere enthalten (logisch gültige) Argumente; wenn man die Gültigkeit der Prämissen einmal akzeptiert hat, ist man gezwungen, auch die Konklusion zu akzeptieren.32 Im Gegensatz dazu verhandeln literarische Texte gleichsam mit den Lesern. Auf diese Art bereichern sie deren reflektive Fähigkeiten. Narrative Texte fokussieren unsere Gedanken auf einen Gegenstand; sie vertiefen unser Verständnis und ermöglichen es uns, einen reflektierten Standpunkt über Themen, die wir vorher vielleicht vernachlässigt haben, einzunehmen. Andererseits erweitern und verfeinern die formalen Aspekte unsere linguistischen Fähigkeiten und geben uns so einen schärferen Blick auf die reale Welt; sie ermöglichen es uns so, neue Dinge zu sehen oder sie in einem neuen Licht zu sehen. Gemäß der Position, die ich auf den letzten Seiten entwickelt habe, liegt der kognitive Wert der Literatur darin, dass sie uns lehrt, etwas zu tun: sie ermöglicht es uns, neue Züge im Sprachspiel zu machen. Hier stellt sich aber die Frage, inwieweit diese Fähigkeiten kognitiv relevant sind. Indem sie unser linguistisches Repertoire erweitert, vermittelt Literatur eine ganz bestimmte Form des Wissens: sie trägt nicht zu unserem propositionalen Wissen bei, sondern bietet uns eine Form des nicht-propositionalen Wissens oder des Wissens-wie an. Und der Erwerb von Fähigkeiten, so könnte man argumentieren, ist kognitiv nicht relevant. 32 Darauf weist Gottfried Gabriel in seinem Aufsatz „Zwischen Wissenschaft und Dichtung: Nicht-propositionale Vergegenwärtigungen in der Philosophie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003), 415–425 hin, wo er auch aufzeigt, dass auch philosophische Texte oft literarische Form annehmen. Er illustriert diese Behauptung mit dem Beispiel von Descartes’ Meditationen. 130 Wolfgang Huemer Wenn wir Wittgensteins Ansatz ernst nehmen, so können wir, wie ich meine, sehen, dass Literatur (auch) zu unserem propositionalen Wissen beitragen kann: sie erlaubt es uns, den „logischen Raum“, in dem wir uns bewegen, zu erweitern. Die Praktiken, die wir beim Lesen literarischer Texte erwerben oder vertiefen, ermöglichen es uns, neue Züge im Sprachspiel zu machen, neue Inferenzen zu ziehen, und uns damit zu Positionen im „logischen Raum“ zu bewegen, die vorher außerhalb unserer Reichweite lagen. Auf diese Weise bereichern literarische Texte auch die Liste der von uns gewussten Propositionen.33 Der Fehler des traditionellen propositionalistischen Ansatzes liegt darin, dass er davon ausgeht, wir könnten von Texten nur dann lernen, wenn sie (wahre) Informationen kommunizieren, die wir eins zu eins in unsere „Wissens-Datenbank“ aufnehmen können. Wenn wir diesen Ansatz verfolgen, so verstricken wir uns bald in eine Debatte über Wahrheit im fiktionalen Kontext, mit all den verheerenden Konsequenzen, die die Philosophie der Literatur des letzten Jahrhunderts geplagt haben. Das Problem verschwindet aber, wenn wir zwischen der Kommunikation und dem Erwerb von propositionalem Wissen unterscheiden. Literatur kommuniziert nicht Information über die Wirklichkeit, sondern versetzt uns in die Lage, propositionales Wissen zu erwerben, indem sie es uns ermöglicht, neue Inferenzen zu ziehen, die wir sonst nicht hätten ziehen können. Ein literarischer Text lädt die Leser dazu ein, gewisse Schlussfolgerungen zu ziehen; ob sie das aber auch tatsächlich machen, hängt von deren individueller Reflexion des Textes ab. SCHEITERN Auf den vorangehenden Seiten habe ich versucht, aufzuzeigen, dass (viele) literarische Texte (auch) aufgrund ihrer Form kognitiv relevant sein können. Wenn diese Schlussfolgerung korrekt ist, so muss es möglich sein, dass literarische Texte an dieser Aufgabe auch scheitern können; Erfolg schließt die Möglichkeit des Misserfolgs ein. Es muss mit anderen Worten denkbar sein, dass ein Autor versucht, mit einem Text eine bestimmte Botschaft zu vermitteln oder unsere Fähigkeiten, an bestimmten Praktiken teilzuhaben, zu erweitern, daran aber scheitert. Es scheint offensichtlich, dass das Scheitern eines Textes nicht daran liegen kann, dass er die Welt nicht wahrheitsgetreu beschreibt, denn litera- 33 Ich lege hier Sellars’ Definition von Wissen als Position im logischen Raum der Gründe zugrunde: „The essential point is that in characterizing an episode as that of knowing, we are not giving an empirical description of that episode or state; we are placing it in the logical space of reasons, of justifying and being able to justify what one says“ (Wilfrid Sellars, Empiricism and the Philosophy of Mind, Cambridge, Mass: Harvard University Press, 1997, S. 76, § 36). Form und Erkenntnis 131 rische Texte erheben nicht den Anspruch, dies zu tun.34 Genauso wenig kann das Scheitern daran liegen, dass der Text nicht so gelesen wird, wie es vom Autor beabsichtigt war – eine Autorin könnte mit einem Roman zum Beispiel das ökologische Gewissen der Leser verfeinern wollen, aber de facto den genau gegenteiligen Effekt erzielen – denn es liegt, wie wir oben gesehen haben, in der Ermessensfreiheit der Leser, eine im Roman angebotene Einsicht aufzugreifen oder nicht. Gemäß der von mir skizzierten Position bedeutet Scheitern, dass ein Text nicht in der Lage ist, unsere Fähigkeiten, an bestimmten sozialen Praktiken teilzuhaben, zu erweitern oder zu vertiefen. Das könnte etwa daran liegen, dass die in ihm beschriebenen oder gezeigten (nicht-linguistischen oder linguistischen) Praktiken so weltfremd sind, dass sie unmöglicherweise in das Handlungsrepertoire der Leser aufgenommen werden können. Die Praktiken, die sich in einem Text zeigen oder in ihm beschrieben werden, müssen dergestalt sein, dass sie sich, zumindest potentiell, in dieser Welt verwirklichen lassen; die Sprache des Textes muss dergestalt sein, dass es uns durch sie möglich ist, unseren Blick auf diese Welt zu schärfen. Obwohl Wittgenstein keine systematische Philosophie der Literatur entwickelt und sich überhaupt nur an wenigen Stellen über Literatur geäußert hat, finden wir interessanterweise in seinen Bemerkungen über Shakespeare ein Beispiel für ein solches Scheitern. Und wenn Shakespeare groß ist, wie von ihm ausgesagt wird, dann muß man von ihm sagen können: Es ist alles falsch, stimmt nicht – und ist doch ganz richtig nach einem eigenen Gesetz. Man könnte das auch so sagen: Wenn Shakespeare groß ist, kann er es nur in der Masse seiner Dramen sein, die sich ihre eigene Sprache und Welt schaffen. Er ist also ganz unrealistisch. (Wie der Traum).35 Wittgenstein suggeriert damit wohl, dass Shakespeares Texte scheitern, weil sie ein hermetisch in sich geschlossenes Bild bieten, das nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Weder die Praktiken, die die Texte beschreiben, 34 35 Ich spreche hier vom Scheitern eines Textes ausschließlich in Bezug auf seinen kognitiven Wert – ein Text kann natürlich auch scheitern, indem er ästhetischen Zielsetzungen nicht gerecht wird. Ich will auch nicht behaupten, dass einem Autor – unter dem Deckmantel der Fiktionalität des Textes – jede Abweichung von einer getreuen Beschreibung der Wirklichkeit erlaubt ist: Es gibt Fälle offensichtlicher Fehler, die die Wirkung eines Textes wesentlich beeinträchtigen können. So löst etwa Sherlock Holmes den Fall in The Adventure of the Speckled Band, indem er suggeriert, eine vom Täter abgerichtete Russell’s viper wäre an einem Seil zum Opfer geklettert und habe es dann getötet. Carl Gans weist jedoch in seinem Artikel “How Snakes Move,” in: Scientific American 222 (1970), 82–96, S. 93 darauf hin, dass eine Russell’s viper gar nicht über die Muskulatur verfügt, die notwendig wäre, um an einem Seil zu klettern, was ihn zu der Schlussfolgerung veranlasst: “Either the snake reached its victim some other way or the case remains open.” Ludwig Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen. Werkausgabe Band 8, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, S. 568 f. (1949), im Folgenden zitiert als VB. 132 Wolfgang Huemer noch diejenigen, die sie verkörpern, können in dieser Welt realisiert werden. In gewisser Weise sind Shakespeares Texte inkompatibel mit dieser Welt – sie schaffen sich ihre eigene Sprache und Welt: Ich glaube nicht, daß man Shakespeare mit einem anderen Dichter zusammenhalten kann. War er vielleicht eher ein Sprachschöpfer als ein Dichter? Ich könnte Shakespeare nur anstaunen; nie etwas mit ihm anfangen ... Es ist nicht, als ob Shakespeare Typen von Menschen gut portraitierte und insofern wahr wäre. Er ist nicht naturwahr. (VB, S. 569, 1950) Um in dem von mir vorgeschlagenen Sinn kognitiv relevant zu sein, muss ein Text demnach einen gewissen Bezug zur Wirklichkeit haben, was natürlich nicht bedeutet, dass er diese getreu beschreiben muss. „Auch der Dichter muß sich immer fragen: ›ist denn, was ich schreibe, wirklich wahr?‹ – was nicht heißen muß: ›geschieht es so in Wirklichkeit?‹“ (VB S. 505, 1941). Es muss aber möglich sein, die (nichtsprachlichen oder sprachlichen) Praktiken, die ein Text beschreibt beziehungsweise die sich in ihm zeigen, in dieser Welt zu verankern. Um kognitiv relevant zu sein, muss ein Text also einen Rückbezug auf die reale Welt erlauben. Dies heißt freilich nicht, dass jeder einzelne Aspekt des Textes sich auf diese Welt beziehen lassen muss. Bestimmte, meist genre-spezifisch eingeschränkte Abweichungen sind jederzeit möglich: im science-fiction Roman können die Protagonisten ohne weiteres in der Zeit reisen und im Märchen kann ein Topf sprechen36, was nicht bedeuten muss, dass diese Text deshalb in unserem Sinne scheitern. Diese Abweichungen sind aber nur in beschränktem Ausmaß möglich, und sie funktionieren nur, wenn sie in eine Reihe von Praktiken eingebettet sind, die den Lesern vertraut sind. Die Protagonisten mögen zwar in die Vergangenheit reisen, aber der Rest ihres Verhaltens sollte für die Leser nachvollziehbar bleiben; der Topf mag zwar sprechen, aber er muss deutsch sprechen. Das zeigt, dass sich Autoren nicht alles erlauben können, wenn sie in ihren Texten einen Bezug zur realen Welt – oder besser: zur Lebenswelt der Leser – herstellen wollen. Leider begründet Wittgenstein seine ablehnende Haltung gegenüber Shakespeare nicht weiter; sie scheint aber darin begründet zu sein, dass Shakespeare es nicht geschafft hat, einen Bezug seiner fiktionalen Welten zur Lebenswelt Wittgensteins herzustellen: Mir kommt vor, seine Stücke seien, gleichsam, enorme Skizzen, nicht Gemälde; sie seien hingeworfen, von einem, der sich sozusagen alles erlauben kann. Und ich verstehe, wie man das bewundern und es die höchste Kunst nennen kann, aber ich mag es nicht. (VB S. 572, 1950) Diese Aussage überrascht gerade deshalb, weil Wittgenstein die philosophische Methode, die er in seinen Philosophischen Untersuchungen entwickelt, im 36 Vgl. PU § 282. Form und Erkenntnis 133 Vorwort als das Erstellen „eine[r] Menge von Landschaftsskizzen, die auf ... langen und verwickelten Fahrten [durch ein weites Gedankengebiet] entstanden sind“ (PU S. 231) charakterisiert. Im (vermeintlichen) Unterschied zu Shakespeare versucht Wittgenstein mit seinen Skizzen, die Landschaft, die er vorgefunden hat, getreu abzubilden – und die Skizzen, die „verzeichnet“, „uncharakteristisch“ oder „mit allen Mängeln eines schlechten Zeichners behaftet“ (ebd.) waren, ausgeschieden hat –, während sich Shakespeare (scheinbar) „alles erlauben“ kann. Ich bezweifle, dass es möglich ist, exakte Kriterien dafür anzugeben, wann ein Text in unserem Sinne scheitert, also wann die im Text beschriebenen oder gezeigten Praktiken nicht in der realen Welt verankert werden können. Das kann daran liegen, dass auch hier die Rolle der Leser nicht unberücksichtigt bleiben darf. Ob ein Text – in den Augen einer bestimmten Leserin – scheitert, wird nicht zuletzt davon abhängen, ob diese Leserin eine Verbindung zwischen ihrer eigenen Lebenswelt und der Welt, die sich im Text zeigt, herstellen kann. Wittgenstein ist in seiner Lektüre von Shakespeare eben daran gescheitert. Die Tatsache, dass viele Leser heute noch gerade in den Werken Shakespeares eine Aktualität erkennen, zeigt aber, dass Wittgensteins Urteil nicht allgemein gültig ist. Aber auch wenn wir keine exakten Kriterien für das Scheitern eines Textes formulieren können, so scheinen diese Überlegungen doch klar aufzuzeigen, dass sich Autoren nicht alles erlauben können, zumindest dann nicht, wenn es ihnen darum geht, einen Text zu verfassen, der kognitiv relevant ist. Ein Scheitern in Bezug auf den kognitiven Wert eines Textes bedeutet aber nicht, dass der Text auch in ästhetischer Hinsicht scheitert. Heißt das, dass der kognitive Wert eines Textes unabhängig von seinem literarischen Wert ist, wie Peter Lamarque argumentiert?37 Sicherlich können wir aus literarisch schlechten Texten interessante Aufschlüsse über die reale Welt gewinnen. Wittgenstein selbst weist auf diesen Umstand hin, wenn er – in Bezug auf Filme – in seinen Vermischten Bemerkungen schreibt: Der amerikanische dumme und naive Film kann in all seiner Dummheit und durch sie belehren. Der trottelhafte, nicht-naive englische Film kann nicht belehren. Ich habe oft aus einem dummen amerikanischen Film eine Lehre gezogen. (VB S. 531, 1947) Dennoch denke ich, dass Peter Lamarque mit seiner Behauptung einen Schritt zu weit geht. Der kognitive und der ästhetische Wert eines Textes sind auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Ersterer mag zwar keine hinreichende Bedingung für Letzteren sein, wie das Beispiel des dummen amerikanischen Films zeigt. Es ist aber schwer vorstellbar, dass ein 37 Vgl. Peter Lamarque, „Kann das Wahrheitsproblem der Literatur gelöst werden?“, in diesem Band, S. 13–24. 134 Wolfgang Huemer ästhetisch vollendeter Roman kognitiv irrelevant sei. Lamarques Pessimismus ist meines Erachtens darin begründet, dass er den Wahrheitsgegnern zu viele Zugeständnisse macht: es gibt sicherlich wertvolle literarische Texte, die keine wahren Überzeugungen über die Welt kommunizieren, noch Themen entwickeln, die „durch Erklärungsmodelle beschrieben werden [können], die sich auch in außerliterarischen Kontexten anwenden lassen.“38 Literarisch wertvolle Texte haben aber gemein, dass sie von hohem sprachlichen Niveau sind; gerade deshalb sind sie in der Lage, die linguistischen Fähigkeiten der Leser zu verfeinern. Selbst wenn ein Autor von der literarischen Statur eines Shakespeare seine eigene Sprache schöpft, wie Wittgenstein suggeriert, dann kann diese Sprache in der kritischen Reflexion der Leser Rückschlüsse auf unsere Alltagssprache zulassen, die deren linguistische Praktiken verfeinert.39 Wenn das Argument, das ich in diesem Aufsatz vorgestellt habe, korrekt ist, können literarisch wertvolle Texte gerade durch ihre sprachliche Qualität unseren Blick auf diese Welt schärfen und uns so zu neuen Erkenntnissen über die Wirklichkeit verhelfen. Ob sie das tun, hängt allerdings nicht nur vom Text, sondern auch von der kritischen Auseinandersetzung mit dem Text von Seiten der Leser ab. 38 39 Ebd., S. 24. Und selbst Unsinnsgedichte von Christian Morgenstern, die sicherlich nicht auf ein thematisches statement reduziert werden können, können gerade dadurch, dass sie die Grenzen unseres Sprachgebrauchs aufzeigen, unsere linguistischen Praktiken bereichern.