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Die historisch-hermeneutischen Disziplinen im System der Wissenschaften

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Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Gegen einheitswissenschaftliche Nivellierung sind Grundlagen-, Natur- und Kulturwissenschaften zu unterscheiden (weniger als Unterschied von „Gegenständen“ als von Fragestellungen und Vorgehensweisen). Zu den Kulturwissenschaften gehören die historisch-hermeneutischen Disziplinen, und zwar als handlungsverstehende Wissenschaften unter erschwerten Bedingungen. Die Geschichtswissenschaft soll die verborgenen Gründe und Zwecke vergangener Handlungen aufklären, die Textwissenschaften in Form problematischer Texte vorliegende Sprachhandlungen. Texte können in verschiedener Hinsicht problematisch sein: für ein Verstehensinteresse an begründeten Behauptungen oder an subjektiver Bekundung (in selbstdarstellender oder motivierender Absicht). Entsprechend ist hier methodisch zwischen apophantischer und ästhetischer Texthermeneutik zu unterscheiden. Ziel aller historisch-hermeneutischen Fächer sollte kritische Gegenwartsorientierung sein.

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Literatur

  1. Zum einheitswissenschaftlichen Konzept des klassischen Empirismus, insbesondere bei David Hume, cf. F. Kambartel, Erfahrung und Struktur. Bausteine zu einer Kritik des Empirismus und Formalismus, Frankfurt a.M. 1968, S. 87ff. Zur Geschichte und zum Stand des zeitgenössischen methodischen Monismus siehe G. H. von Wrights Kritik des einheitswissenschaftlichen Programms: G. H. von W., Explanation and Understanding, Ithaca-New York 1971 (deutsch: Erklären und Verstehen, Frankfurt a.M. 1974), bes. Kap. I.

  2. Die mit Wilhelm Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) zum Durchbruch gekommene und im deutschen Sprachraum bis heute dominierend gebliebene Bezeichnung „Geisteswissenschaft“ wird wegen ihrer begrifflichen Belastung durch idealistische und mentalistische Traditionen der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte besser vermieden, jedenfalls zu systematischen Zwecken.

  3. Will man die Soziologie nach ihrem unterschiedlichen Vorgehen gliedern, kann man eine verstehend verfahrende und (sofern bis zu einer kritischen Beurteilung fortgeschritten wird) normative Soziologie unterscheiden von einer erklärend verfahrenden (häufig auch deskriptiv oder empirisch genannten) Soziologie. Zu einem sinnvollen methodischen Zusammenhang beider Verfahrensweisen so, daß normative soziologische Arbeit in kritischer Absicht gewonnene empirische Erkenntnisse berücksichtigt, siehe F. Kambartel, Grundlagen der Sozialwissenschaften, in: P. Janich, F. Kambartel, J. Mittelstraß, Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik, Frankfurt a.M. 1974, bes. S. 115ff. — Die Unterscheidung von erklärend und verstehend verfahrender Soziologie läßt sich dann auch übertragen auf die umfassendere Unterscheidung von erklärender versus verstehender Kulturwissenschaft (falls man ein gewisses terminologisches Paradox in der Fügung „erklärende Kulturwissenschaft“, was ja soviel heißt wie „naturwissenschaftlich verfahrende Kulturwissenschaft“, in Kauf nimmt).

  4. Zu den zum Handlungsverstehen gehörenden Grundunterscheidungen siehe ausführlicher F. Kambartel, op. cit., S. 110ff.

  5. Was die Geschichtswissenschaft wohl am meisten in Mißkredit gebracht und schließlich, angesichts der heutigen Forderungen nach gesellschaftlicher Rechtfertigung nahezu ruiniert hat, sind die Folgen der „Historismus“ genannten Einstellung zur Geschichte, die einen Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr ins Auge faßte und die Möglichkeit, aus der Geschichte zu lernen, einem historischen Relativismus opferte. Diese unproduktive Entwicklung der Historiographie, insbesondere seit der Jahrhundertwende, hat seinerzeit wohl am entschiedensten E. Troeltsch kritisiert (Artikel „Historismus“, in: Realenzyklopädie31913). Später hebt er andererseits aber auch ins Licht, welchen Gewinn für die Kulturwissenschaften die historistische Bewegung bedeuten kann, wenn man das genetische Denken vom Odium des historistischen Relativismus befreit (Der Historismus und seine Probleme, 1922). Am Ende jedoch fordert Troeltsch die definitive Überwindung des Historismus, an dessen innere Reformierbarkeit er schließlich mit Recht nicht mehr glaubt (Der Historismus und seine Überwindung, 1924).

  6. Dieses gewiß unorthodoxe und für die geschichtswissenschaftliche Praxis anstößige, aber deshalb nur um so dringlichere Programm hat F. Kambartel zuerst bereits 1968 in einer unveröffentlichten Konstanzer Vorlesung systematisch vertreten. Unter den klassischen Theoretikern ist es am ehesten J. G. Droysen, der in seinem „Grundriß der Historik“ (1858) der Idee einer Geschichtswissenschaft als Gründeforschung im Dienst besserer Gegenwartsbewältigung am nächsten kommt. Die zeitgenössische Theorie dagegen steht seit C. G. Hempels frühem Aufsatz The Function of General Laws in History (Journal of Philosophy, 39, 1942) weitgehend unter dem Einfluß seines einheitswissenschaftlich konzipierten Modells einer erklärend verfahrenden Geschichtswissenschaft, die in der Geschichte statt nach möglichst guten Gründen nach möglichst regelmäßigen Verhaltensmustern sucht.

  7. Als Paradigma kann hier die Inanspruchnahme von Geschichte zur Etablierung und Stabilisierung von Nationalstaatsideologien gelten. Von dieser Möglichkeit hat in zeitgeschichtlicher Vergangenheit auf besonders perverse Weise u.a. bekanntlich der Nationalsozialismus Gebrauch gemacht. für dessen Existenz und verheerende Folgen eine mythische Historie (als Teil eines komplexen irrationalen Syndroms) womöglich nicht weniger ausschlaggebend war als seine ökonomischen Bedingungen.

  8. Die Geschichte des abendländischen Geschichtsverständnisses und den Wandel von einer chronistisch-deskriptiven zu einer gründekritischen Geschichtsschreibung hat F. Kambartel im Rahmen einer begriffsgeschichtlichen Darstellung verfolgt: „Empirie“, „Historie“ und „Philosophie“ — zwei begriffsgeschichtliche Exkurse im Ausgang von Aristoteles, in: F. K., Erfahrung und Struktur, ed. cit., S. 50–86.

  9. H. Lübbe hat dagegen in letzter Zeit eine Geschichtsauffassung geltend gemacht, die sich nicht nur gegen universalgeschichtliche Deutungsansprüche, sondern vermeintlich auch gegen ein rationales Verständnis von Geschichte im Sinne von Handlungsgeschichte wendet (H. L., Was heißt „Das kann man nur historisch erklären“?, in: R. Koselleck u. W. D. Stempel, Hrsg., Geschichte — Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 542–554). Er sieht die spezifische Aufgabe historischer Erklärung darin, kulturelle Phänomene verständlich zu machen, die niemand so, wie sie sich inzwischen vorfinden, beabsichtigt hat und die deshalb unverständlich sind, solange man nicht ihre besondere Vorgeschichte erzählt. Und zwar ist das dann der Fall, wenn die unvorhergesehene Verflechtung absichtsvoller Einzelhandlungen zu von niemandem geplanten und gewollten Resultaten führt. Das Lübbesche Erklärungskonzept ist nun aber — entgegen seinem Selbstverständnis — nicht Widerlegung, sondern Bestätigung einer auf Gründe und Zwecke ausgehenden Forschungsabsicht der Geschichtswissenschaft. Denn erstens wird auch bei Lübbe ein derzeit (d. h. im gegenwärtigen Praxiszusammenhang) ungereimtes Phänomen durch Erzählen seiner Vorgeschichte, also im Rückgang auf die seinerzeitige Situation und die damals sehr wohl zu ihr passenden Zwecke, verständlich gemacht. Und zweitens schließt eine Auffassung von Geschichtsverstehen als Handlungsverstehen keineswegs aus, daß durch unbeabsichtigte Handlungsverflechtung unbeabsichtigte Resultate passieren; vielmehr ist die Kenntnis solcher Resultate wichtig zum Verständnis der dadurch veränderten Situation: entweder, um sie zu bereinigen, ober aber, wo dies nicht mehr möglich ist, um sie für weiteres Handeln in Rechnung zu stellen.

  10. Sprachhandlungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie nicht nur verstanden werden können, sondern eigens etwas zu verstehen geben, was sonstige Handlungen ja im allgemeinen nicht tun. Für das Verständnis von Sprachhandlungen kommt es daher auch auf ein Verstehen in mehr als nur einer Hinsicht an: Einmal geht es darum, zu verstehen, was jemand zu verstehen gibt (z. B. daß Glatteis ist). Zum anderen gilt es aber auch zu verstehen, was jemand tut, indem er etwas zu verstehen gibt (z. B. daß jemand seinen Nachbarn warnt, indem er ihm sagt, daß Glatteis ist). Und schließlich bleibt noch zu verstehen, warum jemand dies tut (z. B. weil als Grund der entsprechende Sachverhalt, nämlich daß Glatteis ist, tatsächlich vorliegt und weil der Sprecher überdies den Zweck verfolgt, seinen Nachbarn vor Schaden zu bewahren). Eine Sprechhandlung in ihren Gründen und Zwecken verstehen, bedeutet also eine komplexe Verstehensleistung, die sich nicht in einem bloß lexikalischen Textverständnis erschöpft. Vgl. dazu u. a. J. R. Searle, What is a Speech Act?, in: J. R. S. (Hrsg.), The Philosophy of Language, Oxford 1971, S. 39–53.

  11. Eine universalhermeneutische und überdies methodenskeptische Betrachtungsweise hat in den historisch-hermeneutischen Disziplinen, besonders in der Literaturwissenschaft, vor allem Verbreitung gefunden mit H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960,21965. Gegen den universalhermeneutischen Anspruch und für eine Beschränkung zumindest auf den Textbereich hat sich in letzter Zeit W. Kamlah ausgesprochen: Plädoyer für eine wieder eingeschränkte Hermeneutik, in: D. Harth (Hrsg.), Propädeutik der Literaturwissenschaft, München 1973, S. 126–135.

  12. Entsprechend einem im Anschluß an Aristoteles gemachten Vorschlag F. Kambartels (Was ist und soll Philosophie?, Konstanz 1968, S. 6).

  13. Soweit es sich dabei um ein philosophisches Forschungsinteresse handelt, hat sich M. Gatzemeier mit methodischen Fragen seiner Verwirklichung auseinandergesetzt: M. G., Methodische Schritte einer Textinterpretation in philosophischer Absicht, in: F. Kambartel u. J. Mittelstraß (Hrsg.), Zum normativen Fundament der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1973, S. 281–317. Allgemeine Erörterungen „Über die rationale Rekonstruktion philosophischer Theorien“ hat auch W. Stegmüller in der Einleitung zu einer Kant-Interpretation angestellt, freilich unter Beschränkung der hermeneutischen Zielsetzung auf terminologische Präzision und theoretische Konsistenz: W. St., Gedanken über eine mögliche rationale Rekonstruktion von Kants Metaphysik der Erfahrung, in: Ratio, Bd. IX, Heft 1, 1967, S. 1–31, bes. S. 1–5.

  14. Vgl. auch P. Lorenzen, Hermeneutik und Wissenschaftstheorie aus der Sicht der konstruktiven Methode, in: U. Gerber (Hrsg.), Der Standort der Hermeneutik im gegenwärtigen Wissenschaftskanon, Loccum 1972, S. 129–134.

  15. Vgl. H.-G. Gadamer, op. cit., S. 252ff.

  16. Zur Descartes-Kritik, insbesondere hinsichtlich der mentalistischen Terminologie-tradition auf dualistischer Grundlage, wie sie in der Philosophie und den Wissenschaften bis heute wirksam ist, siehe u. a. folgende Titel: G. Ryle, The Concept of Mind, Erstausg. 1949; deutsch: G. R., Der Begriff des Geistes, Stuttgart 1969. W. Kamlah, Der Anfang der Vernunft bei Descartes — autobiographisch und historisch, in: Archiv f. Gesch. der Philosophie 43 (1961), S. 70ff.; zuletzt unter der Überschrift: Der Aufbruch der neuen Wissenschaft — Descartes' Descartes-Legende, in: W. K., Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie. Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futurischen Denken der Neuzeit, Mannheim 1969, S. 73–88. J. Mittelstraß, Das Problem des methodischen Anfangs, in: J. M., Neuzeit und Aufklärung. Studien zur Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft und Philosophie, Berlin 1970, S. 377–452, bes. S. 413ff.

  17. Anders als im Falle der apophantischen Hermeneutik, deren systematische Durchdringung angesichts eindeutiger Zielsetzung weniger Schwierigkeiten bereitet, lassen sich hier Titel einschlägiger Theorien oder gar methodischer Ausarbeitungen vorderhand kaum aufweisen. Eine Ausnahme macht G. Gabriels sprachphilosophische Untersuchung zur fiktionalen Rede und ihrer Wahrheitsproblematik (wenngleich für eine ästhetische Hermeneutik nicht ausschließlich fiktionale Texte von Interesse sind): G. Gabriel, Fiktion und Wahrheit, Stuttgart-Bad Cannstatt 1975.

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Koppe, F. Die historisch-hermeneutischen Disziplinen im System der Wissenschaften. Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie 7, 258–273 (1976). https://doi.org/10.1007/BF01800766

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