Zusammenfassung
Die jüngste höchstrichterliche Rechtsprechung zur Selbstbestimmung der Patienten und zur Normierung medizinischer Handlungen am Lebensende hat eine intensive Debatte ausgelöst. Das Urteil und die akademisch vorgetragene Kritik werden einer grundlegenden medizinethischen Analyse unterworfen. Sie betrifft die objektive Eingrenzung der Zulässigkeit einer Behandlungsbegrenzung und die Subsumtion des Wachkomas als irreversibel tödliches Grundleiden, das ärztliche Ermessen bei der Indikationsstellung, die normative Einordnung einer Ernährungstherapie am Lebensende und die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen. Die medizinethische Kritik offenbart eine unzureichende Wahrnehmung medizinischer und medizinethischer professioneller Dokumente und den Rückgriff auf medizinethisch veraltete Konzeptionen der Sterbehilfe durch das Gericht. Die Folge ist eine fehlerhafte Subsumtion der Wachkomapatienten in die Kategorie irreversibel tödlicher Erkrankungen und eine inhaltliche Schwächung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen. Beides bedarf dringend der Korrektur.
Abstract
Definition of the problem
Recent jurisdiction of the German Federal Supreme Court with respect to patients’ self-determination at the end of life has prompted intensive academic debate. The decision and its academic critic is analysed.
Arguments
Amongst others these aspects deserve careful examination. i: the objective demarcations of authorised treatment limitations called for by patients’ advocates and categorisation of persistent vegetative state as irreversible fatal condition, ii: the normative content of medical indication at the end of life, iii: normative evaluation of nutrition and hydration, iiii: binding force of patients’ advanced directives.
Conclusion
The analysis reveals a misinterpretation of professional medico-legal statements and documents by the court. Moreover, the court refers to out-of-date concepts with respect to medical and ethical decision-making at the end of life. In consequence persistent vegetative state is falsely subsumed under the fatal conditions and binding force of patients’ advanced directives is weakened as regards their content. Both needs urgent correction.
Notes
Sie sind u. a. auf S. 2 des Urteils nachzulesen, abrufbar über Urteil vom 17.3.2003 unter: http://www.bundesgerichtshof.de.
Wachkoma, auch apallisches Syndrom oder engl: „persistent vegetative state“.
Die Vorsitzende Richterin Dr. Hahne hat am 18.7.2003 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung [10] auf die Formulierung „irreversiblen tödlichen Verlauf“ Bezug genommen und diesen Begriff als von den Experten der Ärzteschaft eingeführt dargestellt. Er wurde zwar in den Richtlinien zur Sterbehilfe 1978 verwendet, kommt aber in den Grundsätzen aus dem Jahre 1998 nicht vor, mehr noch, er wird bewusst vermieden [5, 6, 7]. Dr. Hahne bezeichnet ihn selbst als fragwürdig. Dies ist eben der Grund, warum er von der Ärzteschaft nicht mehr verwendet wird, was vom XII. Senat im Jahr 2003 aber nicht bemerkt wurde.
So am 14.7.2003 in Frankfurt im Rahmen einer Veranstaltung es Zentrums für Medizinische Ethik des St. Markus-Krankenhauses, an der der Autor anwesend war.
Neuere Konzepte der Neurorehabilitation fundieren diese Überzeugung wissenschaftlich. Im Sinne einer Biosemiologie interpretieren sie Formen der sozialen Teilhabe von Wachkomapatienten als Dialog mit dem Körper. Ausbleibende Ansprechbarkeit wird hier nicht mit fehlendem Bewusstsein gleichgesetzt. Ob man diesen neuromedizinischen Befunden folgt oder nicht, ist aber für die hier vorgestellten medizinethischen Aspekte von nachgeordneter Bedeutung. Vertreter der Wachkomapatienten formulieren, dass die Betroffenen „im Wachkoma leben“ [30].
Das Gericht hat den Fall formal offen gelassen und die Entscheidung an die Vorinstanzen zurückverwiesen. Die Urteilsbegründung und Äußerungen der Vorsitzenden des XII. Senates belegen jedoch, dass der Senat den Zustand des irreversibel tödlichen Grundleidens bei Wachkomapatienten als gegeben sieht.
Siehe hierzu § 14 I, IV Nr. 2 SGB XI: Hier wird die Nahrungsaufnahme bzw. deren Zuführung als Pflegehandlung beschrieben bzw. deren Unmöglichkeit als Kriterium der Pflegebedürftigkeit; s. weiterhin die Begutachtungs-Richtlinien (BRi) zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XI, Nr. 4.3.6, u. a. auf der Homepage des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) http://www.mds-ev.de (Rubrik „Pflegeversicherung“).
Siehe § 14 I, IV Nr. 2 SGB XI.
Die auch im Stil überzogene Kritik von Strätling et al. an den Grundsätzen der Bundesärztekammer trifft nicht [26]. Die Bundesärztekammer nimmt, was die Ernährungstherapie angeht, gerade keine Außenseiterposition ein. Es ist vollkommen unverständlich, warum die Grundsätze gegen andere Dokumente ausgespielt werden. Hinzu kommt der von Strätling et al. offensichtlich in dem Zusammenhang nicht reflektierte Gebrauch der Formulierung „Begriffe wissenschaftlicher Standards und Erkenntnisse“ in diesem Zusammenhang (d. h. die Einordnung der Ernährungstherapie unter die Kategorie medizinischer Behandlungen). Die Autoren übersehen, dass es sich bei dieser Zuordnung um einen Akt der Normierung nicht um einen Erkenntnisakt handelt. Die Grundsätze der Ärztekammer sind im Gegenteil von Weitsicht getragen, die der rechtlichen Situation Rechnung trägt.
In den Grundsätzen heißt es: „Unabhängig von dem Ziel der medizinischen Behandlung hat der Arzt in jedem Fall für eine Basisbetreuung zu sorgen. Dazu gehören u. a.: menschenwürdige Unterbringung, Zuwendung, Körperpflege, Lindern von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit sowie das Stillen von Hunger und Durst“ [7].
Die Forderung scheint nicht überflüssig, wie eine Entscheidung des Amtsgerichts Flensburg zeigt. Es hat 2001 einem Betreuer den Aufgabenbereich allein deshalb entzogen, weil er sich unter Berufung auf den Patientenwillen für eine Begrenzung einer Therapie aussprach.
Ob die vom BGH für den Betreuer geltende Einschränkung seiner Vertretungskompetenz, die ja einer vormundschaftsgerichtlichen Prüfung unterliegen soll, wenn es um die Beendigung einer lebenserhaltenden Behandlung geht, auch für den nach § 1896 Abs. 2 Satz 2 tätigen Bevollmächtigten gilt, ist juristisch umstritten [8, 11, 14, 15, 25] und von großer praktischer Bedeutung, für die vorgestellte ethische Analyse aber nicht von Belang.
Nicht ohne eine Klarstellung dürfen auch grobe Fahrlässigkeiten der wissenschaftlichen Kommentatoren des Urteils durchgehen. Die Behauptung von Strätling et al., die Bundesärztekammer impliziere in ihren Grundsätzen, ein Arzt dürfe alleine entscheiden, wenn bei medizinischen Elektivmaßnahmen ein Stellvertreter noch nicht bestellt sei, ist offensichtlich falsch [26]. Die entsprechende Passage (Abschn. IV, Abs. 3 der Grundsätze) wurde offenbar nicht genau gelesen [7]. Zudem bezeichnen Strätling et al. die Grundsätze als „guideline“. Ohne auf die rechtliche Diskussion um die Bedeutung von Richtlinien eingehen zu können, ist ersichtlich, dass der Begriff von der Bundesärztekammer in diesem Zusammenhang mit gutem Grund gemieden wurde, daher wurde das Dokument als „Grundsätze“ bezeichnet [7].
Empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass Betroffene, Ärzte und Pflegende sich oft nicht in der Lage sehen, eine aktive von einer passiven Sterbehilfe zu unterscheiden. Die Unterscheidung trifft die Sachverhalte offenbar nicht [21].
In den Niederlanden wird ebenfalls nicht zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe unterschieden. Allerdings wird im Blick auf aktive Tötungshandlungen am Lebensende eine andere Wertentscheidung getroffen. Die aktive Sterbehilfe wurde dagegen erst jüngst wieder vom Deutschen Ärztetag abgelehnt.
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Sahm, S. Selbstbestimmung am Lebensende im Spannungsfeld zwischen Medizin, Ethik und Recht. Ethik Med 16, 133–147 (2004). https://doi.org/10.1007/s00481-004-0287-0
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DOI: https://doi.org/10.1007/s00481-004-0287-0
Schlüsselwörter
- Selbstbestimmung
- Patientenverfügungen
- Wachkoma (apallisches Syndrom)
- Ernährungstherapie
- Therapiebegrenzung