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Philosophy of Science

Ohne Telos und Substanz: Grenzen des Naturwissenschaftlichen Kausalitätsverständnisses

Gregor Schiemann
Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland

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ABSTRACT: Die Zeiten, in denen Kausalität das Charakteristikum von Wissenschaftlichkeit war, scheinen sich ihrem Ende zu nähern. Seit dem Beginn unseres Jahrhunderts ist eine seit langem schwelende Krise des herkömmlichen Kausalitätsverständnisses in den Naturwissenschafteen unübersehbar zum Ausdruck gekommen. Dessen ungeachtet halten jedoch viele Wissenschaftstheoretiker an Kausalitätsvorstellungen als vermeintlich unverzichtbarem Analyseinstrument fest. In Kritik dieser Tendenz zur Verkennung eines grundlegenden Bedeutungsverlustes wird der historische Verdrängungsprozess von Kausalitätsvorstellungen unter den Stichworten der Entfinalisierung und Entsubstantialisierung nachgezeichnet. Aus der Perspektive geschichtlicher Rekonstruktion handelt es sich bei den gegenwärtigen Vorstellungen um den letzten Rest einer unvergleichlich reichhaltigeren ursprünglichen kausalen Begrifflichkeit. Am Beispiel der heute wohl weitverbreitetsten, auf C. G. Hempel zurückgehenden Vorstellung werden die wichtigsten Merkmale der kausalen Relation diskutiert. Im Ergebnis zeigt sich, dass für das naturwissenschaftliche Kausalitätsverständnis, soweit es sich auf einen Begriff bringen lässt, in der Tat ein reduzierter Sinngehalt der Kategorie der Verursachung in kausalen Erklärungen, eine begrenzte Anwendbarkeit sowie ein reduzierter Geltunganspruch typisch sind. Die Grenzen naturwisseschaftlicher Kausalitätsvorstellungen betreffen deren strenge begriffliche Fassung, nicht jedoch ihre Brauchbarkeit als heuristische Forschungsmaxime in Situationen, in denen unerwartete Phänomene auftreten oder Phänomene ausbleiben, mit denen man zuvor fest gerechnet hat. Für diese Situationen ist die Überlegung, was der Fall gewesen wäre, wenn eine Ursache nicht eingetreten wäre, in besonderer Weise bezeichnend. Welche Relevanz dieser Kausalitätsvorstellung qukünftig zukommen wird, hängt wesentlich vom Charakter der weiteren Wissenschaftsentwicklung ab.

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Die Zeiten, in denen Kausalität das Charakteristikum von Wissenschaftlichkeit war, scheinen sich ihrem Ende zu nähern. Zu Ende ginge damit die Epoche einer Wissenschaftsauffassung, deren Urspränge bis in die griechische Antike zurückreichen. Dass man die "Wahrheit nicht getrennt von der Ursache wissen" könne, hatte Aristoteles seiner Begründung der Wissenschaft vorausgesetzt (Met. 993b23) und war auch noch zu Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft im 16. und 17. Jahrhundert weithin unbestritten. Als philosophischer Vorbote einer tiefgreifenden Krise dieser Wissenschaftsauffassung gilt heute die von David Hume im 18. Jahrhundert geleistete Kritik der Kausalität. Hume bestritt die traditionell angenommene Notwendigkeit der Verbindung von Ursache und Wirkung und führte die Annahme einer kausalen Relation auf die blosse Beobachtung einer regelmässigen Abfolge von Ereignissen zurück. Nachdem die in der neuzeitlichen Wissenschaft anfänglich noch dominierende kausale Begrifflichkeit zunehmend durch Gesetzesbegriffe expliziert und teilweise auch verdrängt worden war, verschafften sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts Stimmen Gehär, die für die Naturforschung grundsätzlich einen Verzicht auf den Begriff der Ursache verlangten (z.B. G. Kirchhoff und E. Mach).

Seit dem Beginn unseres Jahrhunderts ist dann die seit langem schwelende Krise des herkömmlichen Kausalitätsverständnisses auf verschiedenste Weise unübersehbar zum Ausdruck gekommen: In der Physik konnten zuerst die Relativitäts-und die Quantentheorie und in jüngster Zeit Chaostheorien als Begrenzung der Geltung des Kausalprinzips interpretiert werden; in der Biologie liessen sich vor allem evolutionäre und selbstorganisierende Prozesse nur bedingt kausal erklären; traditionelle Verständnisweisen der Kausalität, die ehemals den Wissenschaftsbegriff bestimmt hatten, konnten sich nur noch in einem Teil der Geistes-und Sozialwissenschaften halten; und schliesslich entwickelte sich eine intensive und bis heute andauernde wissenschaftstheoretische Diskussion um den Kausalitätsbegriff, in der sein Nutzen für die wissenschaftliche Arbeit wiederholt in Frage gestellt worden ist.

Man würde allerdings fehl in der Annahme gehen, der Wandlungsprozess im wissenschaftlichen Kausalitätsverständnis sei bereits zu einem, wenn auch nur vorläufigen Abschluss gekommen. Ehemalige Kausalitätsvorstellungen werden teils erst ansatzweise durch andere Relationskonzeptionen ersetzt, teils bloss modifiziert übernommen. In den Naturwissenschaften dominiert nicht so sehr die Diskreditierung als vielmehr die Relativierung der Geltung kausaler Aussagen. Kausalität kann als heuristisches Prinzip und bei der Erklärung bestimmter Phänomene noch von erheblicher Bedeutung sein, wenngleich längst nicht mehr alle naturwissenschaftlichen Erklärungen kausaler Natur sein müssen. In den wissenschaftstheoretischen Debatten, die die naturwissenschaftliche Erkenntnis und Praxis zum Gegenstand haben, hat der Wandlungsprozess nicht nur eine kaum übersehbare Vielfalt von Kausalitätsbegriffen hervorgebracht, die sich mitunter beträchtlich vom traditionellen Kausalitätsverständnis unterscheiden. Er ist darüber hinaus auch äusserst kontrovers beurteilt wurden. Im Hinblick auf die Physik hat Bertrand Russell schon 1912 die Auffassung vertreten, dass diese Disziplin aufgehört habe, "nach Ursachen zu suchen" (übersetzung nach: über den Begriff der Ursache, in: Ders., Mystik und Logik. Wien 1952, S. 181). Diese Ansicht hat bis heute nicht nur vielfältige Zustimmung gefunden, sondern ist auch auf entschiedene Ablehnung gestossen. Für die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts gewinnt man den Eindruck, als habe die Kritik an Russells Diktum überhandgenommen (vgl. v.a. P. Suppes, M. Bunge und W. Stegmüller).

Gegenüber dieser Tendenz zur Verkennung eines grundlegenden Bedeutungsverlustes der Kausalität möchte ich in meinem Beitrag zum einen an den vermutlich irreversiblen historischen Verdrängungsprozess von Kausalitätsvorstellungen erinnern, der die Rahmenbedingungen für die naturwissenschaftlich relevante Seite der Thematik auf eine kaum noch zu transzendierende Weise vorgibt. Aus der Perspektive der Rekonstruktion der geschichtlichen Entwicklung handelt es sich bei den heute noch wirksamen Vorstellungen um den letzten Rest einer unvergleichlich reichhaltigeren ursprünglichen kausalen Begrifflichkeit (1). Zum anderen möchte ich eine der wohl weitverbreitetsten gegenwärtigen Vorstellungen herausgreifen und an ihr meine These belegen, dass für das naturwissenschaftliche Kausalitätsverständnis, soweit es sich auf einen Begriff bringen lässt, mittlerweile ein reduzierter Sinngehalt der Kategorie der Verursachung in kausalen Erklärungen, eine begrenzte Anwendbarkeit sowie ein reduzierter Geltungsanspruch typisch sind (2). Eine der verbliebenen Bedeutungen werde ich abschliessend zur Erläuterung der heuristischen Brauchbarkeit von Kausalitätsvorstellungen vorschlagen. Welche Relevanz dieser Verwendungsmöglichkeit zukünftig zukommen wird, hängt wesentlich vom Charakter der weiteren Wissenschaftsentwicklung ab (3).

(1) Der historische Verdrängungsprozess von Kausalitätsvorstellungen lässt sich grob vereinfacht in zwei Entwicklungsstufen gliedern, die ich als Entteleologisierung (a) und als Entsubstantialisierung (b) bezeichnen möchte.

(a) Von der ihr vorangehenden antiken und mittelalterlichen Wissenschaftsauffassung äbernimmt die neuzeitliche Naturwissenschaft das Ziel, "die" Ursachen des Naturgeschehens zu finden, wobei Ursachen seit jeher als Antworten auf die Frage verstanden wurden, warum etwas der Fall ist. Während aber in der aristotelisch-scholastischen Wissenschaftsauffassung eine Vielzahl unterschiedlicher Ursachentypen zusammenwirken musste, um das Naturgeschehen hervorzubringen, beschränkt die neuzeitliche Naturwissenschaft die Ursachensuche auf einen einzigen Typ: Die Wirkursache, welche angibt, wodurch etwas hervorgebracht wird. Ein dieser Bestimmung vergleichbarer Typ war auch in der aristotelisch-scholastischen Wissenschaftsauffassung bekannt, konnte aber im Gegensatz zur neuzeitlichen Naturvorstellung nicht isoliert von anderen Ursachen Phänomene bewirken. Unter den bekannten vier aristotelisch-scholastischen Ursachentypen nimmt die Zweckursache, welche angibt, wozu etwas hervorgebracht wird, eine herausragende, die Natur als Ganze kennzeichnende Stellung ein. Zweckursachen waren und sind am Vorbild des menschlichen Handelns orientiert. Der Mensch vermag sich Zwecke zu setzen und zu handeln, um diese Zwecke zu erreichen. Sein Handeln wird oftmals erst verstehbar, wenn man um das Ziel weiss, das mit dem erstrebten Endzustand einer Handlung gegeben ist. Analog kann man die Naturvorgänge nach Aristoteles verstehen, wenn man denjenigen qualitativ bestimmten Endzustand kennt, in dem sich das Sein eines Seienden vollendet.

Es ist diese teleologische Naturbetrachtung, die durch die neuzeitliche Begrenzung auf Wirkursachen vor allem ausgeschlossen wird. Wirkursachen werden von der neuzeitlichen Naturforschung anfangs fast ausschliesslich als mechanische Ursachen aufgefasst, die in Form von Stössen oder Krafteinwirkungen räumliche Bewegungsveränderungen eindeutig bestimmt erzeugen. Früh verbindet sich hier der Begriff der Ursache mit dem des mechanischen Gesetzes, das die räumlichen Bewegungen materieller Körper in mathematischen Beziehungen erfasst. Weitergehend wird in der mechanistischen Naturbetrachtung, die bis weit ins 19. Jahrhundert für die neuzeitliche Wissenschaft insgesamt paradigmatisch war, von der universellen Geltung wirkkausaler Verknüpfungen ausgegangen. Diese Voraussetzung besagt, dass jedes Phänomen durch eine Wirkursache eindeutig bestimmt sei. Demzufolge darf, um ein Phänomen zu erklären, nicht mehr auf seine ehemals offenkundige Zweckmässigkeit Bezug genommen werden, sondern nur auf die ihm vermeintlich zugrunde liegende gesetzmässig wirkende (mechanische) Ursache.

Wegen der hervorragenden Bedeutung der Zweckursache für das vorneuzeitliche Naturverständnis bezeichne ich die neuzeitliche Begrenzung auf Wirkursachen (in Anlehnung an R. Spaemann und R. Löw) als Entteleologisierung des Naturverständnisses. Auf die grössten Schwierigkeiten stiess die Entteleologisierung im Bereich der wirkkausalen Erklärung der Lebewesen. Bis in unser Jahrhundert hinein reichten die Versuche namhafter Biologen, lebenseigene Erscheinungen nicht wirkkausal, sondern mit teleologisch wirkenden vitalistischen Prinzipien zu erklären. Heute hat die Entteleologisierung den gesamten Bereich der Naturwissenschaften erfasst. Teleologische Erklärungen sind noch in den Geistes- und Sozialwissenschaften, die den Bemühungen, ihre Theorien auf naturwissenschaftliche Begriffe und Gesetze zu reduzieren, bisher erfolgreich widerstanden haben, von Bedeutung. Wo von diesen Disziplinen und ihrem (meist unterschätzten) Einfluss auf die Naturwissenschaften nicht die Rede ist, meint man nur Wirkursachen, wenn man von Ursachen spricht.

(b) Die Entsubstantialisierung setzte später als die Entteleologisierung ein. Ursachen waren zunächst nicht ohne die Annahme von Substanzen, den Trägern von Eigenschaften, denkbar; Veränderung konnte nicht vorgestellt werden ohne den Bezug auf etwas, das immer identisch bleibt und keines anderen zu seiner Existenz bedarf. Paradigmatisch war auch hierfür die mechanistische Naturbetrachtung, sofern sie die Entitäten, auf die sie ihre Bewegungsgesetze bezog, als Substanzen auffasste. Substantielle "Medien der Kausalität" (E. Cassirer) in diesem Sinn waren die unveränderlichen Atome und der den leeren Raum erfüllende ötherstoff. Noch bevor diese letzten wirkkausalen Substanzen aus den Naturwissenschaften verbannt wurden, begann sich bereits im Kontext der mechanistischen Naturauffassung der Begriff der Ursache vom Substanzbegriff zu lösen. So wurde der Begriff der Ursache teils unmittelbar auf den Begriff des Gesetzes bezogen, teils nur auf die Bedingungen, unter denen ein Gesetz bestimmte Wirkungen hervorruft. Diese Formen der Entsubstantialisierung machten den Begriff der Ursache mit dem der Substanz für die naturwissenschaftliche Begriffsbildung selbst überflüssig. Unter einer Ursache wurde aber auch allgemein eine Ereignisklasse verstanden, die kausal mit einer anderen Ereignisklasse, der Wirkung, verknüpft ist. Letzteres ist heute, nicht nur in den Naturwissenschaften die gebräuchlichste Bezeichnungsweise.

Im wesentlichen handelt es sich bei dem Prozess der Entsubstantialisierung um einen Prozess der Relativierung von Geltungsansprüchen. Ohne Bezug auf etwas, das identisch bleibt, sind kausale Relationen nur noch relativ zu vorgegebenen Bezugssystemen gültig. Heute geht man gewähnlich davon aus, dass die Thematisierung eines Ereignisses und seiner Bedingungen in den Naturwissenschaften sowenig wie in der Lebenswelt unabhängig vom Hintergrundwissen vorgenommen werden kann. Eine wissenschaftliche Kausalaussage wird zudem nur relativ zu historisch wandelbaren theoretischen Voraussetzungen für wahr gehalten. Auch pragmatische Kontexte kännen für die Bestimmung kausaler Relationen bedeutungskonstitutiv sein (B. v. Fraassen).

(2) Wie lässt sich nun die entteleologisierte und entsubstantialisierte kausale Relation im Hinblick auf ihre Anwendbarkeit in den Naturwissenschaften definieren? Eine in der Wissenschaftstheorie heute als Standard weitgehend anerkannte Definition stammt von Carl G. Hempel (Aspects of Scientific Explanation and Other Essays in the Philosophy of Science. New York/London 1967). Die von Mario Bunge 1959 vorgelegte einschlägige Darstellung des Kausalproblems (Causality: the Place of the Causal Principle in Modern Science. Cambridge (Mass.)) fasst einen Grossteil der auch heute noch wirksamen Kausalitätsvorstellungen in den Wissenschaften zusammen. Seine Definition der Kausalität deckt sich im wesentlichen mit der von Hempel. Schliesslich hat Georg Henrik von Wright 1971 eine seither weithin beachtete Untersuchung zur Kausalität vorgelegt (Explanation and Understanding. New York), die für den Bereich der Naturwissenschaften ebenfalls mit Hempels Definition im Prinzip zur bereinstimmung gebracht werden kann.

In Anlehnung an diese drei Autoren kann von einer kausalen Relation zwischen zwei Ereignisklassen, von denen die eine Ursache und die andere Wirkung heisst, genau dann gesprochen werden, wenn eine der beiden Beziehungen gilt: Wenn die Ursache eintritt, dann wird dadurch immer die Wirkung hervorgebracht. Oder: Bleibt die Ursache aus, dann wird die Wirkung immer am Zustandekommen gehindert. So allgemein diese harmlos klingende Formulierung gefasst ist, so komplex sind die Merkmale der kausalen Relation, die in dieser Formulierung Berücksichtigung finden.

(a) Als erstes ist zu bemerken, dass eine Ursache im hier vorgestellten Sinn definitionsgemäss hinreichende Bedingung für das Eintreten bzw. notwendige Bedingung für das Ausbleiben eines Ereignisses ist (Wright). Für das Eintreten eines bestimmten Ereignisses-man denke an eine Explosion-müssen oft eine ganze Reihe von Bedingungen erfüllt sein (Trockenheit des Pulvers, Funktionieren des Zünders, etc.). Welche von diesen Bedingungen als Ursache anzusehen ist, hängt nicht nur vom Kontext ab, in dem das Ereignis stattfindet, sondern auch vom Untersuchungsinteresse, mit dem ein bestimmter Aspekt des Ereignisses als Untersuchungsgegenstand ausgewählt wird.

n einer ursächlichen Bedingung kännen dabei mehrere Teilursachen zusammengefasst sein. Hier tritt nun bereits eine erste folgenreiche Einschränkung der Anwendbarkeit von Kausalitätsvorstellungen ein: Jede Teilursache muss unabhängig von allen anderen Teilursachen wirken, wenn der gesamte Vorgang einer kausalen Analyse zugänglich sein soll (Bunge). Seit jeher hat man angenommen, dass empirische Ereignisse diese Bedingung meist nur partiell erfüllen. Während aber bis in die zweite Hälfte unseres Jahrhunderts die Ansicht vorherrschte, dass sich die Differenz zwischen Empirie und kausaler Idealisierung im Fortgang der Forschung werde zunehmend verkleinern lassen, mehren sich in jüngster Zeit die Anzeichen, dass die Unabhängigkeit empirischer Ereignisfolgen aus prinzipiellen Gründen keineswegs unbeschränkt vorausgesetzt werden darf. So wird für die komplexen Phänomene im Bereich mittlerer Grössenordnung heute der bestimmende Einfluss nichtlinearer Prozesse angenommen. Sie führen in gewissen Parameterbereichen notwendig zu instabilen Zuständen, die Ausgangspunkt von zufälligen Ereignissen sind. Dass sich nichtlineare Prozesse trotz ihres akausalen Charakters mathematisch erfassen lassen, zeigen die sogenannten Chaostheorien, die zur analytischen Erfassung verschiedener wissenschaftlicher Phänomenbereiche schon unverzichtbar geworden sind. Im Bereich chaotischer nichtlinearer Phänomene ist die Anwendung kausaler Relationen nach heutigem Kenntnisstand nur noch begrenzt möglich (B. Kanitscheider).

(b) Das nächste Merkmal möchte ich etwas ausführlicher besprechen, weil es konstitutiv für die in den Naturwissenschaften verbreitete Vorstellung von Ursachen ist. Die oben gegebene Definition unterstellt, dass die Wirkung durch einen Prozess hervorgebracht wird, der mit einem Naturgesetz beschreibbar ist (Hempel). Ursachen sind demnach Bedingungen, unter denen Wirkungen gesetzmässig zu entstehen vermögen. Aus diesem Grund nimmt man auch bei den Gelegenheiten, bei denen die Ursache ausbleibt, an, dass die Ursache ihre Wirkung hervorgebracht hätte, wenn die Ursache der Fall gewesen wäre. Wenn Ursachen darüber hinaus nur noch die Anfangs-bzw. Randbedingungen für gesetzmässig verlaufende Vorgänge sind, dann erschöpft sich ihre Bedeutung in der Angabe des Wertes von Zustandsvariablen, deren Art durch die Vorgabe eines Gesetzes festgelegt und nicht mehr von denen der Wirkung unterschieden ist.

Dass diese Auffassung des Begriffes der Ursache im Kontext wissenschaftlicher Erklärungen notwendig eine "nahezu nichtssagende Trivialität" (E. Ströker) beinhaltet, lässt sich exemplarisch an der kausalen Erklärung der Bewegung der Erde um die Sonne illustrieren. Man könnte zunächst meinen, dass diese Erklärung eine Antwort auf die Frage gibt, warum sich die Erde um die Sonne dreht. Doch derartige Fragen können mit dem jetzt unterstellten Begriff nicht mehr beantwortet werden. Denn dafür, dass sich die Erde um die Sonne dreht, wird keine Ursache, sondern ein Gesetz angeführt-das durch die Gravitationskräfte zwischen den Planeten und der Sonne bestimmte Bewegungsgesetz. Sowenig dieses Gesetz noch als Ursache in Betracht kommt, kann es auch selbst nicht kausal erklärt werden. Grundsätzlich können Gesetze hächstens approximativ und in keinem Fall kausal aus anderen Gesetzen und zugehörigen Ursachen abgeleitet werden (Hempel). Hierin liegt der entscheidende Grund, warum die gesamte Problematik des Reduktionismus, der in der Diskussion um die Beziehungen zwischen naturwissenschaftlichen Theorien verschiedener Phänomengruppen bzw. Disziplinen heute die grösste Rolle spielt, aus der Kausalitütsthematik herausfällt.

In dem Erklärungsbeispiel ist also die gesetzmässig bestimmte Bahnform der Erdbewegung nicht Gegenstand, sondern Voraussetzung der kausalen Erklärung. Gegenstand kann lediglich noch sein, warum sich die Erde zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Raumpunkt befindet. Die Antwort ist trivial und besteht beispielsweise in der Angabe der-man muss schon sagen: sogenannten-"Ursache," dass sich die Erde zuvor zu je verschiedenen Zeiten an drei anderen Raumpunkten befunden hat. Durch die in den Vordergrund gerückte gesetzmässige Verknüpfung unterscheiden sich die Ursachen bloss noch quantitativ von den Wirkungen. Die Antwort auf die Warum-Frage fällt enttäuschend aus, und man gewinnt zu Recht den Eindruck, dass hier der aus der antiken Tradition stammende Begriff der Ursache nicht mehr angemessen ist.

(c) Die bisher erärterten Merkmale betrafen kausale Relationen, die eine streng deduktive Ableitung von Wirkungen aus vorausgesetzten Ursachen und Gesetzen gestatten. Solche logisch strukturierten Erklärungen sind dort unanwendbar, wo der Einfluss nichtlinearer Prozesse nicht vernachlässigbar ist. Eine nicht minder gravierende zweite Einschränkung der Reichweite kausaler Analysen ergibt sich im Hinblick auf die Phänomene in Natur und Technik, für deren angemessene Beschreibung statistische Korrelationen unterstellt werden müssen. Hiermit sind nicht Phänomene gemeint, über die Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden, obwohl alle Einzeldaten bekannt sind oder zu ermitteln wären. Es handelt sich vielmehr um die Fälle, bei denen aus prinzipiellen Gründen von indeterministischen Zuständen bzw. Gesetzen gesprochen wird, so wie das im Bereich der kleinsten Dimensionen heute durchgängig notwendig ist.

Es hat nicht an Versuchen gefehlt, den Begriff der Ursache so zu erweitern, dass er auch auf diese Wahrscheinlichkeitsphänomene Anwendung finden kann (v.a. P. Suppes). Er umfasst dann nicht mehr in Klassen zusammengefasste Ereignisse, sondern Wahrscheinlichkeiten dieser Ereignisse und ist mithin mit der obigen Definition unverträglich. Statistische Korrelationen sind schon dann grundsätzlich mit der Kausalität von Ereignissen unvereinbar, wenn man festlegt, dass die Verknüpfung der Ereignisse wiederholbar sein soll.

(d) Zuletzt soll auf diejenigen Merkmale hingewiesen werden, die zu den meistdiskutierten und bisher am wenigsten geklärten Eigenschaften naturwissenschaftlicher Kausalitätsvorstellungen gehören: Die Asymmetrie der kausalen Relation und ihr Verhältnis zur zeitlichen Ordnung. Mit Asymmetrie ist gemeint, dass die Wirkung von der Ursache abhängen soll und nicht umgekehrt die Ursache von der Wirkung. Diese Eigenschaft führt zu einer dritten Begrenzung der Anwendbarkeit. Für den idealisierten Fall einer für sich bestehenden zweistelligen kausalen Relation sind nämlich damit sowohl Rückkopplungen von der Wirkung zu ihrer Ursache als auch Wechselwirkungen zwischen Ursache und Wirkung ausgeschlossen. Während die Kybernetik gezeigt hat, dass Räckkopplungen in grösseren Systemzusammenhängen bis zu einem gewissen Grad in kausale Relationen aufgelöst werden können (N. Wiener), widerspricht die Struktur von Wechselwirkungen im Prinzip der Kausalität. Beispiel hierfür ist die wechselseitige Streuung frei bewegter Elektronen. Die Beschleunigung keines der beteiligten Elektronen kann als Ursache der Beschleunigung eines anderen einseitig ausgezeichnet werden (Bunge).

Um die Bedingung der Asymmetrie zu gewährleisten, muss die oben gegebene Definition um zusätzliche Bestimmungen ergänzt werden. Eine, wenn nicht sogar die einzige Möglichkeit, dies zu erreichen, besteht in dem von Wright begründeten "interventionalistischen" Ansatz, nach dem etwas nicht deshalb schon für eine Ursache gehalten wird, wenn es die obige Definition erfüllt. Man muss sich ausserdem die Ursache im Gegensatz zur Wirkung als Ergebnis einer Handlung vorstellen kännen. Damit verändert sich allerdings der Ursachebegriff beträchtlich, weil man die Bedingungen, die in kausalen Erklärungen erfüllt sein müssen, damit die Wirkung gesetzmässig zustandekommt, nicht eindeutig auf Handlungen zurückführen kann. Der auf Handlungsvollzüge gegründete Ursachebegriff wird zwar allgemein dem technisch-konstruktiven und experimentellen Charakter der Naturwissenschaft gerecht ("Bedingung der Manipulierbarkeit" (Wright)), spielt aber innerhalb der naturwissenschaftlichen Theoriebildung nur eine untergeordnete Rolle.

Ebenso weit verbreitet wie problematisch ist die Auffassung, die Asymmetrie liesse sich über die zeitliche Festlegung garantieren, dass die Ursache immer vor der Wirkung stattfinde und dementsprechend nur Bedingung einer bestimmten Klasse von Gesetzen (Sukzessionsgesetze) sein könne. Sofern sich diese Auffassung vor allem auf die Annahme einer endlichen Ausbreitungsgeschwindigkeit physikalischer Wirkungen stützt, muss man bemerken, dass es sich hierbei um eine empirische Erkenntnis handelt, deren Falsifikation nicht nur abstrakte Möglichkeit ist. Theoretisch kann bereits jetzt die zeitliche Abfolge umgekehrt werden: In Gedankenexperimenten über den Zusammenhang von Gehirntätigkeit und leiblichen Bewegungen lassen sich auch Rückwärtsverursachungen konstruieren (Wright). Es mag deshalb zweckmässig erscheinen, Kausalität unabhängig von der zeitlichen Ordnung zwischen Ereignissen zu definieren (M. Heidelberger). Allerdings besteht in der Wissenschaftstheorie noch keine einheitliche Auffassung darüber, ob dies überhaupt mäglich ist. Ein Kandidat ist die sogenannte "kontrafaktische" Formulierung, die den (noch nicht genannten) irrealen Fall einer ausbleibenden Ursache zum Definens der kausalen Abhängigkeit macht und die sich bereits bei Hume findet (vgl. D. Lewis, Causation, in: Philosophy of Science 43 (1976); ders., Counterfactual Dependence and Time's Arrow, in: Nous 13 (1979)): Wenn die Ursache nicht eingetreten wäre, hätte sich die Wirkung nicht ereignet.

Bevor ich diese letzte Formulierung zum Anlass nehme, um abschliessend einen Blick auf den heuristischen Wert der Kausalität in der Naturwissenschaft zu werfen, möchte ich mit zwei Bemerkungen die Ergebnisse meines Durchganges zusammenfassen. Die vier angesprochenen Merkmale einer heute gängigen Vorstellung von kausalen Verknüpfungen-ihr Charakter als notwendige bzw. hinreichende Bedingung für das Eintreten bzw. Ausbleiben von Ereignissen, ihre naturgesetzliche Verfasstheit, ihre Wiederholbarkeit und ihre asymmetrische Struktur-haben einerseits die durch den Prozess der Entfinalisierung und Entsubstantialisierung vorgegebenen Bestimmungsmomente verschärft, was hauptsächlich darin zum Ausdruck kommt, dass der Begriff der Ursache dem des Gesetzes bis zur Unkenntlichkeit untergeordnet wird. Andererseits haben sich aber die frühneuzeitlichen Hoffnungen auf eine vollständige und mit Ausschliesslichkeit geltende kausale Erfassung des Naturgeschehens keineswegs erfüllt. Wo sich die Naturerscheinungen nicht wegen der ihnen zugeschriebenen (nichtlinearen, statistischen, rückgekoppelten, wechselwirkenden) Charaktere einer kausalen Analyse (im angegebenen Sinn) entziehen, sind Kausalitätsaussagen durch ihre Kontextbezogenheit einer durchgreifenden Relativierung von Geltungsansprüchen unterworfen.

(3) Trotz dieses Sinn-, Anwendungs- und Geltungsverlustes der Kausalitätsvorstellung muss sie als Forschungsmaxime noch lange nicht bedeutungslos sein. Maximen brauchen sich nicht der strengen wissenschaftlichen Begrifflichkeit zu fügen und dienen vor allem einer ersten, noch vagen Orientierung in Situationen, in denen unerwartete Phänomene auftreten oder Phänomene ausbleiben, mit denen man zuvor fest gerechnet hatte. Für diese Situationen ist die öberlegung, was der Fall gewesen wäre, wenn eine Ursache nicht eingetreten wäre, in besonderer Weise bezeichnend. Man erinnert sich damit an den Zustand vor dem Auftreten des neuen Phänomens bzw. vor dem Ausbleiben des erwarteten und orientiert sich so an einem vertrauten Erfahrungshorizont. Die Frage, warum etwas der Fall ist, wird in der Naturwissenschaft wie in der Lebenswelt erst auffällig durch Abweichungen von einer auf bestimmte Weise etablierten Normalität (E. Scheibe). Man ahnt, dass hier ein weiterer Begriff der Ursache ins Spiel kommt, der durchaus von den bisher erwähnten Bedeutungen unterschieden ist. Diesen Ursachen haftet das Unbestimmte und Unbekannte an, welches sich dem normalen Ablauf in den Weg stellt und seine Relevanz verliert, sobald es aufgeklärt ist.

Hätte nun also jedenfalls dieser, soweit nur angedeutete Begriff der Ursache als heuristisches Prinzip noch einen festen Platz in den Naturwissenschaften? Die Antwort kann nicht eindeutig ausfallen. Zum einen kennt man weiterhin gute Gründe, die Naturwissenschaften als Institutionalisierung eines nicht abschliessbaren Erkenntnisprozesses anzusehen, in dem auch zukünftig eine wandelbare wissenschaftliche Normalsituation beständig durch neue Phänomene, die sich mit den bekannten Theorien nicht erklären lassen, gestärt sein wird. Zum anderen verstärkt sich aber der Eindruck, dass sich die naturwissenschaftliche Erkenntnis auf immer mehr Bereiche eines unüberschreitbaren humanen Erfahrungshorizontes erstreckt, dass sie die Welt schon in beträchtlichem Umfang entzaubert hat und deshalb zukünftig auf immer weniger Rätsel stossen wird, die geeignet wären, den Gedanken an Ursachen in einem nichttrivialen Sinn wachzuhalten.

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Literaturangaben

Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundlagen der Erkenntniskritik. Darmstadt 1910.

Fraassen, Bas van: The Scientific Image. Oxford 1980.

Heidelberger, Michael: Kausalität. Eine Problemübersicht. In: Neue Hefte für Philosophie 32/33 (1992), S. 130-153.

Hume, David: An Enquiry Concerning Human Understanding. 1748, VII. Kap.

________: A Treatise of Human Nature. London 1739 ff., I,3.

Kanitscheider, Bernulf: Von der mechanistischen Welt zum kreativen Universum. Darmstadt 1993.

Kirchhoff, Gustav: Vorlesungen über Mechanik. Leipzig 1897.

Mach, Ernst: Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit. Prag 1872.

Scheibe, Erhard: Ursache und Erklärung, in: Lorenz Krüger (Hg.), Erkenntnisprobleme der Naturwissenschaft. Köln/Berlin 1970.

Spaemann, Robert, und Reinhard Löw: Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens. München/Zürich 1982.

Stegmüller, Wolfgang: Erklärung, Begründung, Kausalität. Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und der Analytischen Philosophie. Bd. 1. 2. Auflage. Berlin usw. 1983.

Ströker, Elisabeth: Warum-Fragen. Schwierigkeiten mit einem Modell für Kausale Erklärungen. In: Neue Hefte für Philosophie 32/33 (1992), S. 105-129.

Suppes, Patrik: A Probalistic Theory of Causality. Amsterdam 1970.

Wiener, Norbert: Cybernetics. Cambridge/Mass. 1948.

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