Abstract
Der ontologische Gottesbeweis, den zuerst Anselm von Canterbury in seinem Proslogion entwickelt, setzt einen spezifischen Begriff von Sein als Fülle voraus, ohne den er unverständlich bleibt. Dieser Seinsbegriff entstammt dem antiken Platonismus. Erst Platon faßt den Begriff des Seins so, daß er in einem ontologischen Komparativ wahres oder vollkommenes Sein vom uneigentlichen Sein unterscheidet. Plotin entwickelt daraus einen Begriff vom Sein als absoluter Fülle, in dem die beiden Bedeutungen des vollkommenen und des notwendigen Seins, die, wie Henrich gezeigt hat, für den ontologischen Gottesbeweis maßgeblich sind, auf konsistente Weise vereinigt sind. Bei Plotin ist dieses absolute Sein der sich selbst als Inbegriff der Ideen denkende Nous, von dem er das Absolute als Überseiendes unterscheidet. Boethius vermittelt Plotins Begriff des absoluten Seins an Anselm, und zwar als Begriff von Gott, d.h. so gefaßt, daß das vollkommene Sein zugleich das Absolute ist. Index dieses Seinsbegriffs ist der bei Plotin, Boethius und Anselm jeweils übereinstimmende Begriff der Ewigkeit als teillos vollendeter Einheit und Ganzheit