Genozidleugnung: Organisiertes Vergessen oder Substanzielle Erkenntnispraxis?

Autor:innen

  • Melanie Altanian

Schlagworte:

Genozidleugnung, Kollektive Amnesie, Vergessen, Vorsätzliches Unwissen, Epistemische Ungerechtigkeit

Key words:

Genocide denialism, collective amnesia, forgetting, wilful ignorance, epistemic injustice

Abstract

Die Begriffe kollektive Amnesie und organisiertes Vergessen werden oft verwendet, um Fälle zu beschreiben, in denen historisches Wissen, das im gesellschaftlichen, kollektiven Gedächtnis verfügbar sein sollte – weil es sich beispielsweise um gerechtigkeitsrelevantes Wissen handelt – aus unterschiedlichen, meist politisch problematischen Gründen nicht verfügbar ist. Beispielsweise, weil es gegebene Herrschaftsverhältnisse bedrohen würde. In diesem Beitrag soll gezeigt werden, weshalb diese Begriffe gerade in solchen Fällen irreführend sind. Insbesondere nationale Erinnerungspolitik kann oftmals aus Erkenntnispraktiken bestehen oder befördern, die nicht primär Vergessen herbeiführen, sondern in der Gesellschaft verfügbares Wissen über bestimmte Themen verschleiern, verzerren und dadurch die gesellschaftliche Verständigung darüber erschweren oder sogar riskant macht; was vor allem in Fällen offensichtlich wird, in denen koloniale und genozidale Vergangenheiten systematisch geleugnet werden. So kann staatlich geförderte, systematische Genozidleugnung zwar durchaus selektiv zu „vergessen“ oder Wissensverlust führen. Doch viel problematischer aus ethischer und epistemischer Sicht ist, dass dadurch existierendes Wissen und Erinnerungen an die Verbrechen fortlaufend diskreditiert und unterdrückt werden. Genauer werden durch institutionelle und soziale Prozesse und Praktiken historische Fakten und andere Beweise, auf denen Erinnerung basiert, nicht nur ignoriert oder vernachlässigt, sondern vorsätzlich verschleiert, verzerrt und fehlinterpretiert. Es wird dadurch schädliches Unwissen und Unverständnis über die historischen Tatsachen und deren normative Bewertung generiert. Dadurch schafft Genozidleugnung nicht nur Wissenssubjekte, die nichts über den Genozid wissen – denn ein bloßer Wissensmangel könnte durch Bereitstellung des nötigen Wissens behoben werden – sondern das Thema verkennen, aktiv Tatsachen leugnen und dadurch die gesellschaftliche Verständigung über das Thema erschweren oder verunmöglichen. Um also besser zu verstehen, welche ethischen und epistemischen Konsequenzen systematische Genozidleugnung für Überlebende und Nachfahren, wie auch die Gesellschaft insgesamt mit sich bringt, schlage ich vor, systematische Genozidleugnung vielmehr als substanzielle Erkenntnispraxis (vgl. Alcoff 2007, 39) und somit als Fall vorsätzlichen Unwissens zu verstehen. Wie ich am Beispiel der türkischen Leugnung des Genozids an den Armenier:innen illustrieren werde, wird der Genozid nicht vergessen, sondern erinnert und zugleich verkannt, mit der Absicht, Herrschaftsverhältnisse zu konsolidieren. Dadurch wird epistemische Ungerechtigkeit gefördert und aufrechterhalten.

English version

The terms collective amnesia and organized forgetting are often used to describe cases in which particular historical knowledge, which is for example relevant for social justice, is absent or unavailable in a society’s collective memory due to politically problematic reasons; for example, because it might erode socially unjust power relations. In this article, I argue that these terms are unapt to describe precisely such cases. Particularly, they obscure the fact that national memory politics can consist of and give rise to epistemic practices and processes that neither necessarily nor primarily lead to “forgetting”, but rather obscure and distort available knowledge and understanding of certain matters, thereby rendering societal communication about them difficult and even risky. This becomes especially evident in cases of denialism of colonial and genocidal violence. State sponsored genocide denialism can certainly lead to knowledge gaps within society and insofar lead to “forgetting” selectively. However, what is much more problematic from an ethical and epistemic point of view is that it persistently and systematically discredits and oppresses existent countermemory and resistant rememberers. In particular, pernicious institutional and social processes and practices not only ignore and neglect historical facts and other evidence, on which memory is based, but wilfully occlude, distort and misinterpret them. Genocide denialism thereby generates both historical-factual and interpretive ignorance. This gives rise not only to epistemic subjects, who know nothing about genocide, but who rather actively deny genocide or misrecognize the subject matter, hence restricting their communicative abilities and capacities of understanding. Against this background, I argue that in order to identify the ethical and epistemic implications of genocide denialism for genocide survivors and descendants, as well as a post-genocidal society in general, we should consider genocide denialism as a “substantive epistemic practice” (Alcoff 2007, 39) that wilfully distorts knowledge and understanding of genocide. Rather than forgetting genocide, it is simultaneously remembered, problematized and misrecognized. Thereby, genocide denialism promotes and maintains epistemic injustice.

Downloads

Zitationsvorschlag

Altanian, M. (2022). Genozidleugnung: Organisiertes Vergessen oder Substanzielle Erkenntnispraxis?. Zeitschrift für Praktische Philosophie, 9(1), 251–278. https://doi.org/10.22613/zfpp/9.1.10

Ausgabe

Rubrik

Schwerpunkt: Epistemische Ungerechtigkeiten