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Ockham, Ockhamismus, und Nominalismus Spuren der Wirkungsgeschichte des Venerabilis Inceptors In aller Regel steht die Wirkungsgeschichte eines Denkers in einem mehr oder weniger deutlichen Spannungsverhältnis zu seiner authentischen Philosophie. Grundlage eines solchen Spannungsverh ältnisses ist die natürliche Differenz zwischen dem, was ein Philosoph gesagt und beabsichtigt hat, und dem, was die Zeitgenossen und die Späteren verstanden und was sie daraus gemacht haben. So wird niemand auf den Gedanken kommen, Piaton einen 'Platoniker', Kant einen 'Kantianer' oder Husserl einen 'Husserlianer' zu nennen. 'Platoniker' mögen diejenigen heißen, die sich-zu Recht oder zu Unrecht-auf Piaton berufen; zu diesen gehört Piaton naturgemäß nicht. Genauso wenig gehört Kant zu denjenigen, welche sich auf ihn berufen, noch Husserl zu denjenigen, welche ihn für sich in Anspruch nehmen. So selbstverständlich dies alles ist, so sehr verwundert es, daß diese Selbstverständlichkeit über Jahrhunderte hinweg in bezug auf Ockham und den Ockhamismus nicht gegolten zu haben scheint. Zwar hat man gelegentlich Ockhams Namen genannt, doch man hat in Wirklichkeit Ockhamismus, Nominalismus oder ähnliches gemeint. Der Gründe hierfür sind es viele, und sie sind von durchaus unterschiedlicher Art. Schon Ockhams Zeitgenossen taten sich nicht leicht, das Denken und die Absichten dieses Mannes richtig einzuordnen: zu umfangreich und in ihrer argumentativen Kraft zu komplex erschienen ihnen die Schriften des Venerabilis Inceptors. In den Jahrhunderten nach Ockhams Tod schwand in den Schriften derer, welche Ockhams Namen nannten, die Differenz zwischen den authentischen Lehren des Venerabilis Inceptors und dem Ockhamismus immer mehr: zu unzugänglich waren die Handschriften und die wenigen Editionen seiner Werke von der Erfindung des Buchdrucks im 15. bis zur Massenpublikation von 77 Franciscan Studies, Vol. 56 (1998) 78Jan P. Beckmann Büchern im 19. Jahrhundert. Zuletzt schien gar die Unterscheidung zwischen Ockham und dem Ockhamismus vernachlässigbar: zu sehr war man an der Systematik von Problemen und Thesen interessiert, welche neben anderen Autoren auch mit dem Namen Ockhams verbunden waren. Erst die Sicherung der Überlieferung der authentischen Schriften und die mustergültige kritische Ausgabe der Opera Philosophica et Theologica1 durch das Franciscan Institute in St. Bonaventure, an der Girard J. Etzkorn maßgeblichen Anteil hat, haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, was es immer schon zu leisten galt: die klare Unterscheidung zwischen Ockhams authentischer Philosophie und dem Ockhamismus und Nominalismus als deren mehr oder weniger hilfreicher Herolde. Ich möchte im folgenden zunächst die Probleme skizzieren, welche mit den Ausdrücken 'Nominalismus' und 'Ockhamismus' verbunden sind, um daran anschließend paradigmatisch einige Stationen einer möglichen Wirkungsgeschichte Ockhams von seinen Zeitgenossen über ausgewählte Denker der Neuzeit bis hin zur Gegenwart zu skizzieren. Meine Absicht ist es zu zeigen, daß man mit einem systematisch verstandenen Begriff von 'Ockhamismus' dem Denken des Venerabilis Inceptors eher gerecht wird als mit der traditionellen historischen Verwendung dieses Begriffs. I Ich beginne mit dem Dilemma des Nominalismus-Begriffs und den sich daraus ergebenden methodischen Problemen einer Anwendung dieses Begriffs auf das Denken Wilhelms von Ockham.2 Das Dilemma besteht nach meinem Dafürhalten darin, daß man lange Zeit und gelegentlich heute noch nicht konsequent zwischen der historischen Verwendung dieses Begriffs und dem systematischen Verständnis vonNominalismusunterschiedenhat. Philosophiehistorisch bezeichnet man mit 'Nominalismus' den 1St. Bonaventure, N.Y. 1974-1988, 17 vols, (im folgenden abgekürzt: OT = Opera theologica und OP = Opera philosophica). 2VgI. hierzu Jan P. Beckmann: Methodische Überlegungen zur Problematik des Nominalismusbegriffs. In: Akten des XV. Weltkongresses für Philosophie (17.-22. Sept. 1973, Varna/Bulgarien). Bd. 5, 621-626. Sofia 1975. Ockham, Ockhamismus, und Nominalismus79 Standpunktderjenigen,welcheinbestimmten wissenschaftstheoretischen und ontologischen Grundfragen im 14. und 15. Jahrhundert zu den 'nominales' gerechnet worden sind, zwecks Unterscheidung von den sog. 'reales'. Gegen die 'Realisten', für welche Wissenschaft einen unmittelbaren Erkenntniszugriff auf die Dinge und ihre allgemeinen Gesetze und Strukturen besitzt, haben die hoch- und spätmittelalterlichen 'Nominalisten' den Umstand hervorgehoben, daß alle Erkenntnis und alle Wissenschaft sprach- und zeichenvermittelt ist und daß eigentlicher Erkenntnisund Wissensgegenstand nicht die Dinge, sondern Aussagen über die Dinge sind. Da andererseits aber sowohl die 'Realisten' als auch die 'Nominalisten' an der aristotelischen Wissenschaftskonzeption der Zweiten Analytiken festgehalten haben, wonach alle Erkenntnis und Wissenschaft mit der Eruierung von Notwendigkeits- und Allgemeinheitsstrukturen zu tun hat, bestand die...

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