Tatjana Tarkian beschäftigt sich auf der Grundlage eines liberalen Prinzips reproduktiver Freiheit mit der Frage nach der moralischen Zulässigkeit der Auswahl (möglicher) zukünftiger Kinder. Das Prinzip reproduktiver Freiheit fasst sie wie folgt: Es „verteidigt Freiheitsspielräume und Privatsphäre in Fragen der Fortpflanzung, wenn nicht gewichtige moralische Gründe aufgezeigt werden können, welche den Handlungen von Personen Grenzen setzen“ (Tarkian, Abschnitt 4). Dem Prinzip zufolge sind „fortpflanzungsbezogene Handlungen moralisch zulässig – also weder falsch noch geboten oder supererogatorisch – […], solange nicht moralische Gründe vorliegen, welche gegen ihre Zulässigkeit sprechen“ (ebd.). Es impliziert die „Präsumption der Zulässigkeit“ (ebd.). Unter der Auswahl (möglicher) zukünftiger Kinder versteht Tarkian die „Entscheidung für ein (mögliches) zukünftiges Kind zuungunsten eines anderen (möglichen) zukünftigen Kindes […] – also de[n] Versuch, ein (mögliches) zukünftiges Kind durch ein anderes (mögliches) zukünftiges Kind zu ‚ersetzen‘“ (Tarkian, Abschnitt 3). Es geht also um – im Sinne Parfits – „different people choices“ (ebd.). Der Ausdruck „mögliche Kinder“ bezieht sich dabei auf die präkonzeptive Phase, der Ausdruck „zukünftige Kinder“ auf die pränatale Phase, in der bereits auf individuelle zukünftige Personen Bezug genommen werden kann (unabhängig von der Festlegung des genauen Zeitpunkts des individuellen Lebensbeginns). Speziell dreht sich die Fragestellung nach der moralischen Bewertung von Reproduktionsentscheidungen um „die Auswahl von gesunden Kindern anstelle von Kindern mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Normabweichungen, wie sie eine geistige Behinderung darstellt“ (ebd.), und explizit nicht um Fälle von Enhancement (ebd.), wiewohl Tarkian später im Verlauf des Artikels auf das „Prinzip der wohltätigen Fortpflanzung“ (principle of procreative beneficence) von Julian Savulescu (vgl. Savulescu 2001; Savulescu/Kahane 2009) verweist (Tarkian, Abschnitt 7), das solche Fälle einer „positiven Auswahl“ (Tarkian, Abschnitt 3) – im Gegensatz zu einer „negativen Auswahl“ (ebd.), um deren Bewertung es ihr in erster Linie geht – einschließt.

Gibt es also gewichtige moralische Gründe, die dagegen sprechen, dass prospektive Eltern ihre zukünftigen Kinder anhand eines auf medizinischen Kriterien beruhenden Auswahlprozesses ins Leben bringen? Tarkian befasst sich mit zwei gängigen Arten von Einwänden gegen derartige Entscheidungen und einem in diesem Kontext prominent diskutierten Aspekt: 1) dem Einwand parentaler Tugenden und eines bestimmten Ideals von Familie (Tarkian, Abschnitt 5), 2) dem Einwand der Diskriminierung von Personen mit bestimmten Eigenschaften durch die Entscheidung gegen zukünftige Kinder mit eben diesen Eigenschaften (Tarkian, Abschnitt 6) sowie 3) dem Aspekt des absehbaren Wohlergehens des zukünftigen Kindes (Tarkian, Abschnitt 7). Ihre Erörterung kommt zu dem Schluss, dass weder der Einwand der parentalen Tugenden noch der Einwand der Diskriminierung als grundsätzliche Einwände gegen eine negative Auswahl mittels Präimplantations- bzw. pränataler Diagnostik Plausibilität besitzen. Der Aspekt des Wohlergehens des zukünftigen Kindes lässt ihrem Fazit zufolge in den meisten Fällen offen, für welches zukünftige Kind die prospektiven Eltern sich entscheiden sollten, und stärkt somit die zugrunde gelegte liberale These der reproduktiven Autonomie (Tarkian, Abschnitt 8).

Soweit – in Kurzfassung – die Argumentation Tarkians. Ich möchte im Folgenden einige Fragen anschneiden, die in ihrem Artikel nicht oder nur knapp angesprochen werden und die Geltungsreichweite und Anwendbarkeit der Prinzipien der reproduktiven Freiheit und der wohltätigen Fortpflanzung betreffen: Welche prospektiven Eltern sind Adressat*innen des Prinzips der reproduktiven Freiheit und des Prinzips der wohltätigen Fortpflanzung? Stellen diese Prinzipien universell und überzeitlich gültige allgemeine Prinzipien dar, die generell in jeder Situation reproduktiver Entscheidung Berücksichtigung finden sollten? Lassen sie sich nur im Rahmen bestimmter Bedingungen bzw. Kontexte anwenden? Sind die beiden Prinzipien kompatibel oder widersprechen sie sich? Kommt prospektiven Eltern eine moralische Verantwortung für die Umsetzbarkeit ihrer reproduktiven Freiheit zu?

1 Geltungsreichweite und Anwendbarkeit des Prinzips der reproduktiven Freiheit

Gehen wir zunächst davon aus, dass das Prinzip der reproduktiven Freiheit universell gültig sein soll (was wahrscheinlich der üblichen Lesart entspricht). In diesem Fall ist es (und war es vom moralischen Standpunkt aus stets) ihrer reproduktiven Autonomie gemäß für alle prospektiven Eltern moralisch zulässig, sich für ein bestimmtes zukünftiges Kind und gegen ein anderes bestimmtes zukünftiges Kind zu entscheiden, vorausgesetzt, das zukünftige Kind, zu dessen Gunsten die Entscheidung ausfällt, wird absehbar über ein „lebenswertes Leben mit der Fähigkeit, vertraute Beziehungen zu anderen aufzunehmen“ (Tarkian, Abschnitt 5), verfügen. Dies schließt vorderhand auch die Entscheidung für ein Kind ein, das mit hoher Wahrscheinlichkeit „behindert“ sein wird – wie auch immer „Behinderung“ definiert wird, als objektiv feststellbare medizinische Tatsache, als sozial konstruierte Einschränkung oder beides.Footnote 1 Der einzige Ausnahmefall wäre der – nach Tarkians Einschätzung unkontroverse – Fall, in dem es darum ginge, „ein schweres Übel von jemandem abzuwenden, welches auf keine andere Weise abgewendet werden kann als dadurch, dass seine Existenz verhindert wird“ (Tarkian, Abschnitt 7).Footnote 2

Die Schwierigkeit dieser Ausnahmeklausel besteht ganz offensichtlich darin, ein solches schweres Übel zu definieren, um die Grenze einer zulässigen negativen Auswahl festzusetzen. Bereits die von David Wassermann übernommene Bedingung der „capacity to form intimate relationships“ (Tarkian, Abschnitt 5) führt ggf. zu Problemen. Es ist durchaus vorstellbar, sich für ein bestimmtes zukünftiges Kind zu entscheiden, das alles in allem über ein lebenswertes Leben verfügen wird, allerdings nicht über die Fähigkeit, vertraute Beziehungen mit anderen aufzunehmen, etwa im Fall einer schweren Autismus-Spektrum-Störung. Kann diese Störung als gravierend genug angesehen werden, um als schweres Übel zu gelten, das die Entscheidung gegen dieses zukünftige Kind zugunsten eines anderen rechtfertigen würde?Footnote 3 Ob dies zutrifft, hängt von verschiedenen Annahmen ab: etwa davon, ob die Fähigkeit, vertraute Beziehungen zu anderen aufzunehmen, tatsächlich als (deskriptive und/oder normative) notwendige Bedingung für ein lebenswertes Leben verstanden wird, in welchem Grad sie vorhanden sein muss, ob die (potenzielle) Fähigkeit ggf. durch therapeutische Bemühungen in einem bestimmten Grad, der als hinreichend für ein lebenswertes Leben gilt, aktualisiert werden kann, und nicht zuletzt, ob in der Lebenswelt des zukünftigen Kindes überhaupt soziale Strukturen gegeben sind (bzw. sein werden), welche die Ausprägung vertrauter Beziehungen zu anderen zuallererst zulassen und fördern.

Wenn eine schwere Autismus-Spektrum-Störung als derart schlimmes Übel gälte, dass sie eine Entscheidung gegen dieses zukünftige Kind rechtfertigen könnte, würde in dem Fall der Diskriminierungs-Einwand gegen (aktuale) autistische Personen greifen? Ob dies wiederum zutrifft, hängt davon ab, wie differenziert man die einzelnen Ausprägungen des Spektrums betrachtet (es könnte sein, dass eine Entscheidung für ein anderes Kind mit einer weniger gravierenden Störung zulässig wäre, was keine generelle Diskriminierung autistischer Personen implizieren würde), und welche Bedingungen für einen tatsächlichen Fall von Diskriminierung gegeben sein müssen, zum Beispiel: Liegt Diskriminierung (allein) in der Intention der (vermeintlich) Diskriminierenden begründet, in entsprechenden (sprachlichen oder performativen) Handlungen oder (allein) in der Empfindung der (vermeintlich) Diskriminierten? Oder handelt es sich bei Diskriminierung um eine strukturell bedingte Relation mangelnder Reziprozität oder Anerkennung, die von individuellen Intentionen, Überzeugungen, Handlungen und Empfindungen unabhängig ist und „objektiv“ als solche festgestellt werden kann? Wird jemand auch diskriminiert, wenn dies weder beabsichtigt ist, noch er oder sie dies so empfindet (möglicherweise aufgrund einer mangelnden Fähigkeit zur Ausbildung interpersonaler Beziehungen)?

Abgesehen davon muss das in der Ausnahmeklausel aufgeführte schwere zu verhindernde Übel – abseits des Kontextes medizinisch assistierter Reproduktion – überhaupt nicht in einer Krankheit oder Art von Behinderung bestehen; es geht nur darum, dass es ein für das zukünftige Kind lebenswertes Leben vereiteln würde. Generell anti-natalistische Positionen, die voraussetzen, dass Leben unweigerlich mit Leid einhergeht und die Vermeidung von Leid immer gut ist, wohingegen das Vorenthalten von Glück nur dann schlecht ist, wenn sich ein zugehöriges Subjekt identifizieren lässt,Footnote 4 weswegen jegliche Reproduktion per se moralisch unzulässig istFootnote 5 (vgl. dazu Hallich 2018), einmal außen vor gelassen: Angenommen, es entspräche einem schweren Übel, das ein lebenswertes Leben vereitelt, in einem Kriegsgebiet, in großer Armut (oder in einer postapokalyptischen Welt nach einer Klimakatastrophe) aufzuwachsen, ausweglos von Gewalt, Hunger, Flucht, sozialer Stigmatisierung und posttraumatischer Belastungsstörung bedroht zu werden, wäre dies ein Grund für prospektive Eltern, sich überhaupt gegen mögliche zukünftige Kinder, welcher psychophysischen Konstitution auch immer, zu entscheiden, wenn nicht abzusehen ist, dass die Situation sich bessern wird?Footnote 6 Gilt in diesem Fall gleichwohl das Prinzip der reproduktiven Freiheit oder wäre es in diesem Fall geradezu unverantwortlich, sich darauf zu berufen und überhaupt Elternschaft anzustreben? Wenn dem so wäre, ist das Prinzip dann eines, das – selbst wenn dadurch seine abstrakte universelle Gültigkeit nicht tangiert würde – nur unter bestimmten sozialen, politischen und ökologischen Bedingungen überhaupt zur Anwendung kommen kann? Kommt reproduktive Freiheit de facto überhaupt nur privilegierten Personen in einem sehr begrenzten historischen und geografischen Ausschnitt der Welt zu?

Welche minimalen sozialen, politischen und ökologischen Standards müssen vorausgesetzt werden, damit prospektive Eltern sich tatsächlich autonom für oder gegen mögliche bzw. bestimmte zukünftige Kinder entscheiden können? Unter der Annahme einer überzeitlichen und universellen Gültigkeit des Prinzips der reproduktiven Freiheit mit der Ausnahme absehbaren schweren Übels und der Annahme, dass schweres Übel aus den eben beschriebenen Umständen resultieren kann, hätte sich – und hier zeigt sich eine kontraintuitive Implikation der Annahme einer universellen und überzeitlichen Gültigkeit des Prinzips der reproduktiven Freiheit – die überwiegende Mehrheit der Eltern in unseren Vorgängergenerationen (etwa im Dreißigjährigen Krieg, um nur ein Beispiel zu nennen) wohl moralisch unzulässig für (den Zeitpunkt der Konzeption und Geburt) ihre(r) zukünftigen Kinder entschiedenFootnote 7 (falls sie sich überhaupt bewusst dafür entschieden haben). Hätten sie dagegen die Ausnahme des schweren Übels beachtet und ihre reproduktive Freiheit verantwortungsvoll eingeschränkt, würde wohl ein Großteil der heute lebenden Menschen nicht existieren. Wäre dies wiederum ein Übel? Das kommt darauf an, ob man eine abstrakte oder personen- bzw. subjektbezogene Konzeption von Übeln und Gütern vertritt. Gäbe es keine (oder weniger) Menschen, für wen wäre dies von Übel? Offenbar nicht für die Menschen, die nie in die Existenz gebracht worden wären.Footnote 8 Eine Welt mit (mehr) Menschen per se besser als eine Welt ohne (oder mit weniger) Menschen zu beurteilen, erfordert jedenfalls die Annahme einer abstrakten Konzeption von Gütern und Übeln. (Ansonsten könnte man höchstens behaupten, dass es für die wenigen existierenden Menschen besser wäre, wenn es mehr Menschen gäbe, dann müsste man aber begründen, weshalb das für diese besser sein sollte.) Womöglich verliert man aber mit dieser Abstraktion das individuelle lebenswerte Leben eines zukünftigen Kindes aus dem Blick, um das es beim Prinzip der reproduktiven Freiheit ursprünglich gerade ging.

Die Geltungsreichweite und vor allem Umsetzbarkeit des Prinzips der reproduktiven Freiheit hängt also offenbar von der Konzeption von schwerem Übel in der Ausnahmeklausel ab. Solange man nicht annimmt, dass es prinzipiell besser ist, in die Existenz gebracht, als nicht geboren zu werden (was keine sinnvolle, wiewohl eine häufig implizit zugrunde gelegte Annahme zu sein scheint), und dass diese Annahme als Minimalbedingung für ein lebenswertes Leben ausreicht, scheint reproduktive Freiheit ohne Einschränkung sub specie aeternitatis nur für vergleichsweise wenige prospektive Eltern zu gelten.

2 Inkompatibilität der Prinzipien der reproduktiven Freiheit und der wohltätigen Fortpflanzung

Selbst in Zeiten und Weltgegenden, in denen solche sozialen, politischen und ökologischen Bedingungen vorherrschen, dass man sich Gedanken über die moralische Zulässigkeit der Entscheidung für ein „behindertes“ Kind machen kann, kollidiert die Anwendung des Prinzips der reproduktiven Freiheit ggf. mit der des Prinzips der wohltätigen Fortpflanzung,Footnote 9 wenn beide – so die Annahme – universelle und überzeitliche Gültigkeit beanspruchen. Das Prinzip der wohltätigen Fortpflanzung verschärft sozusagen die Ausnahmeklausel des Prinzips der reproduktiven Freiheit. In diesem Fall ist es nicht moralisch erlaubt, sich für ein zukünftiges Kind mit einer absehbaren Beeinträchtigung seines Wohlergehens (aufgrund von genetisch bedingter Krankheit, Behinderung, diskriminierenden sozialen Strukturen, schlechten politischen oder Umweltbedingungen) zu entscheiden, selbst wenn diese Beeinträchtigung keinem gravierenden Übel entspricht, sofern die Aussicht auf ein anderes Kind mit einem absehbar höheren Wohlergehen besteht. Im Gegenteil sind solche reproduktiven Entscheidungen geboten,Footnote 10 die sicherstellen, dass das zukünftige Kind mit den besten Chancen auf das bestmögliche Leben (unter den gegebenen und absehbaren Umständen) ausgewählt wird:

If couples (or single reproducers) have decided to have a child, and selection is possible, then they have a significant moral reason to select the child, of the possible children they could have, whose life can be expected, in light of the relevant available information, to go best or at least not worse than any of the others (Savulescu/Kahane 2009, 274).Footnote 11

Dies schließt auch eine positive Auswahl im Sinne von Enhancement ein.Footnote 12 Wenn dies wiederum allen prospektiven Eltern geboten ist, verfügen ganz offensichtlich noch weniger prospektive Eltern über (moralische) reproduktive Freiheit, da sie in der Lage sein müssen, ihrem zukünftigen Kind solche Bedingungen zu garantieren, die sein Leben unter den gegebenen und vorhersehbaren Umständen absehbar (zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit, von unvorhersehbaren Schicksalsschlägen abgesehen) zum besten aller möglichen oder zumindest nicht zu einem schlechteren als einem vergleichbaren machen. Die prospektiven Eltern müssen also allem Anschein nach einigermaßen privilegiert sein und es müssen entsprechende Strukturen vorherrschen, um diese Bedingung erfüllen zu können.

Zudem erscheint es konzeptionell noch anspruchsvoller, das bestmögliche Leben zu definieren, als ein gravierendes Übel. Savulescu und Kahane (2009, 279) greifen diese Schwierigkeit auf und argumentieren, dass das Prinzip der wohltätigen Fortpflanzung sowohl mit allen philosophischen Theorien des guten Lebens als auch mit pluralen alltagsethischen Vorstellungen über ein gutes, besseres oder bestes Leben vereinbar sei; Wohlergehens-Vergleiche und entsprechende Rangordnungen würden darüber hinaus ständig vorgenommen, „in numerous moral decisions in everyday life, especially in bringing up and educating our children“ (ebd).

Zukünftigen Kindern die Chance auf das absehbar beste Leben zu gewährleisten, könne durch zwei gegenläufige Ansätze zu erreichen versucht werden: entweder durch die intendierte Anpassung der psychophysischen Ausstattung der Kinder an die gegebenen Umstände oder durch eine Änderung eben dieser Umstände:

When it comes to selecting children, we can select children suited to our environment or we can attempt to alter our environment to suit our children. […] Our own view is that all routes must be considered. We have moral reasons to aim to have the most advantaged children. But there is no obligation to achieve this end by biological means, or by biological means alone. In some cases, it is reasonable and practicable to alter the environment (Savulescu/Kahane 2009, 288).

Es sei im Einzelfall abzuwägen, welcher Weg erfolgversprechender sei (vgl. ebd.). Das Prinzip der wohltätigen Fortpflanzung scheint also zumindest unter kontrafaktischen Bedingungen mit dem Prinzip der reproduktiven Freiheit vereinbar zu sein: Wären die Umstände so, dass „Behinderung“ keine Einbuße an Wohlergehen bedeuten würde, fiele diese Verschärfung der Ausnahmeklausel weg. Wenn die sozialen, politischen und ökologischen Strukturen derart wären, dass zukünftigen Kindern absehbar kein gravierendes Leid in ihrem Leben bevorstünde, und keine Beeinträchtigung ihres Wohlergehens durch „Behinderung“ (in einem gegenüber einer biologistischen oder sozial-konstruktivistischen Konzeption neutralen instrumentellen Sinne) zu erwarten stünde, dann hinge die moralisch erlaubte bzw. gebotene Entscheidung für ein zukünftiges Kind allein von der jeweiligen Konzeption des guten Lebens der prospektiven Eltern ab.

3 Moralische Verantwortung für die Umsetzbarkeit reproduktiver Freiheit

Die Prinzipien der reproduktiven Freiheit und der wohltätigen Fortpflanzung beanspruchen, so wurde vorausgesetzt, beide universelle und überzeitliche Gültigkeit – sie richten sich an alle prospektiven Eltern –, können jedoch offenbar nur unter bestimmten Umständen tatsächlich angewandt werden und sind je nach Spezifikation ihrer Voraussetzungen ggf. inkompatibel. Ob und in welchem Umfang das Prinzip der reproduktiven Freiheit und das Prinzip der wohltätigen Fortpflanzung jeweils praktisch umgesetzt werden können, hängt von der Auffassung von gravierendem Übel in der Ausnahmeklausel, den gegebenen Umständen der Entscheidungssituation prospektiver Eltern und den absehbaren Lebensumständen ihrer (möglichen) zukünftigen Kinder ab.

Daraus lässt sich eine weitere ethische Problemstellung ableiten, die in Tarkians Artikel nicht angesprochen wurde und im Rahmen des vorliegenden Kommentars nur noch kurz angerissen werden kann. Die möglicherweise kontroverse These, die ich zur Diskussion stellen möchte, ist folgende: Um reproduktive Freiheit gerechtfertigterweise in Anspruch nehmen zu können, kommt prospektiven Eltern, also solchen Personen, die sich dafür entscheiden (oder die einfach fraglos davon ausgehen), dass sie Kinder haben möchten, eine besondere moralische Verantwortung zu. Dabei handelt es sich sozusagen um eine Meta-Verantwortung für die Aufrechterhaltung bzw. Bereitstellung von strukturellen Bedingungen, die verantwortungsvolle und autonome reproduktive Entscheidungen ermöglichen, nämlich um die (jeweils individuelle und kollektive) prospektiveFootnote 13 Verantwortung dafür, solche sozialen, politischen und ökologischen Strukturen zu erhalten oder an deren Ausbildung mitzuwirken, die prospektiven Eltern zuallererst erlauben, ihre reproduktive Freiheit tatsächlich umzusetzen. Wenn prospektive Eltern sich also auf das Prinzip der reproduktiven Freiheit berufen möchten, sollten sie mit dafür sorgen, dass die Lebensbedingungen ihrer (möglichen) zukünftigen Kinder so gestaltet sind, dass diesen absehbar mindestens ein von gravierendem Übel freies, gutes, oder sogar (falls das Prinzip der wohltätigen Fortpflanzung akzeptiert wird und dem Prinzip der reproduktiven Freiheit nicht entgegensteht) das unter den jeweiligen Umständen beste Leben ermöglicht wird. Die Wahrnehmung dieser besonderen Verantwortung, die bereits vor einer in der elterlichen Rolle gründenden spezifischen Fürsorgeverantwortung für geborene Kinder einsetzt, kann sicherlich neben den Idealen der unbedingten Hinwendung und Liebe (vgl. Tarkian, Abschnitt 5) ebenfalls unter die parentalen Tugenden gefasst werden.Footnote 14