Nicht nur eine Krankheit selbst, sondern bereits die Diagnose einer Krankheit kann die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. So wird seit der Möglichkeit des genetischen Nachweises von Erbkrankheiten wie Chorea Huntington das sogenannte Recht auf Nichtwissen kontrovers diskutiert. Im Konflikt mit der grundsätzlich bestehenden ärztlichen Pflicht zur Mitteilung einer Diagnose beinhaltet das Recht von Patient:innen auf Nichtwissen die Möglichkeit, bestimmte Informationen nicht erfahren zu müssen. Doch lässt sich auch dann noch sinnvoll von einem Recht auf Nichtwissen sprechen, wenn man krankheitsbedingte Veränderungen vor der ärztlichen Diagnose selbst bemerkt – insbesondere, wenn man ab einem bestimmten Zeitpunkt diese Anzeichen im Zuge des Fortschreitens der Erkrankung wieder vergisst bzw. nicht mehr wahrnimmt? Anhand der frühen Krankheitsphase der Alzheimer-Demenz widmet sich Ina Herbst diesen Fragen in ihrer philosophischen Dissertationsschrift an der Universität Bielefeld, Demenz und das Recht auf Nichtwissen, die 2021 in überarbeiteter Form auf 276 Seiten im mentis Verlag erschienen ist.

In Kapitel 1 gibt Herbst zunächst einen umfassenden Überblick über die Symptomatik der Alzheimer-Demenz und klärt über die Unsicherheiten der Diagnose sowie die fehlende Therapierbarkeit der Alzheimer-Krankheit auf. Daraufhin beginnt die eigentliche philosophische Auseinandersetzung mit den aufgeworfenen Fragestellungen. In Kapitel 2 widmet Herbst sich den Begriffen „Recht“, „Wissen“ und dem Begriff des „Nichtwissens“. Sie erläutert kenntnisreich und gründlich die allgemeine philosophische Diskussion, um sie daraufhin für demenzielle Erkrankungen zu kontextualisieren. Laut Herbst bedeutet das Recht auf Nichtwissen im Kontext demenzieller Erkrankungen entgegen dem allgemeinen Gebrauch in der Medizinethik nicht, die Kenntnisnahme einer bestimmten Information abzulehnen, sondern die Freiheit, sich nicht um das Verständnis eines bestimmten Sachverhaltes bemühen zu müssen. In Kapitel 3 diskutiert Herbst, inwiefern die Ausübung dieser Freiheit die Autonomie der Betroffenen kompromittiert. Dabei betont sie, dass dies nicht zu einem globalen Verlust von Autonomie führt, sofern die initiale Entscheidung selbst autonom erfolgt ist. Dies führt die Autorin in Kapitel 4 zur Auseinandersetzung mit dem Einwand, ob das Recht auf Nichtwissen in ihrer Definition nicht vielmehr auf eine Selbsttäuschung zurückgeht. Zur Entkräftung dieses Einwandes erörtert Herbst zunächst, ob eine Selbsttäuschung intentional erfolgen kann oder ob Betroffene unfreiwillig in sie hineingeraten. Dabei schlägt sie vor, Selbsttäuschung als eine besondere Form der Fremdtäuschung zu verstehen, bei der Betroffene sich selbst und Dritte über bestimmte Aspekte der eigenen Person täuschen. Da die Täuschung Dritter über Anzeichen einer demenziellen Erkrankung nicht notwendigerweise erfolgreich ist, setzt sich Herbst in Kapitel 5 mit der Frage auseinander, inwiefern sich ein Recht beanspruchen lässt, die eigene demenzielle Erkrankung nicht mit Dritten besprechen zu müssen. In diesem Kontext beruft sie sich auf die moralische Norm der dezisionalen Privatheit nach Beate Rössler, die das Recht beinhaltet, niemanden in Entscheidungen persönlicher Lebensführung miteinschließen zu müssen (Rössler 2001). Daraus leitet Herbst das Recht ab, Fragen zur eigenen demenziellen Erkrankung als übergriffig zurückzuweisen, weist aber darauf hin, dass dieses Recht im Kreis enger persönlicher Nahbeziehungen nur eingeschränkt gilt. Das Unbehagen, das Betroffene bei Nachfragen nach der eigenen demenziellen Erkrankung verspüren, lässt sich nach Herbst hingegen im Sinne des Würdebegriffs von Eva Weber-Guskar (2016) als Angriff auf das Selbstbild und damit auf die Würde der demenziell erkrankten Person begreifen.

Daraus folgt aber nach Herbst kein Anspruch darauf, dass Familienmitglieder und enge Freunde keinerlei Nachfragen zu demenzbedingten Veränderungen ihres Angehörigen stellen dürfen. Demgegenüber verweist die Autorin auf die besonderen Verantwortungen, die im Rahmen von engen Beziehungen bestehen. So sind Beziehungspartner nicht nur für die Beziehungen verantwortlich, sie haben auch die Pflicht, sich in Beziehungen voreinander zu verantworten. Laut Herbst haben Menschen mit Demenz also prima facie ein Recht auf Nichtwissen. In engen Beziehungen besteht aber pro tanto die Pflicht, sich mit der eigenen demenziellen Erkrankung auseinanderzusetzen und deren Bedeutung für die entsprechende Beziehung zu erörtern. Dieser Verantwortung werden Menschen mit Demenz nach Herbst nicht gerecht, wenn sie das Recht auf Nichtwissen in engen Beziehungen wahrnehmen. Hiervon ausgehend plädiert die Autorin abschließend für einen offenen Umgang mit demenziellen Erkrankungen, da „Wissen im Zusammenhang mit Demenzen gut für alle Beteiligten ist“ (S. 230).

In ihrer Dissertationsschrift setzt Ina Herbst sich differenziert mit einem kontrovers verhandelten Thema auseinander. Der Aufbau der Kapitel und die Argumentation sind durchgängig strukturiert und klar. Er folgt stets einem ähnlichen Muster: Zunächst stellt die Autorin kenntnisreich und gründlich die allgemeine philosophische Debatte und die jeweiligen Kontroversen um die entsprechenden Begriffe vor und wendet sie daraufhin plausibel auf den Kontext der Fragestellung an. Dies wirkt zeitweise etwas repetitiv, erlaubt allerdings eine verständliche Lektüre einzelner Kapitel. So ist das Buch nicht nur für Medizinethiker:innen von Belang, die sich einen tieferen Einblick in die philosophischen Debatten um die jeweiligen Begriffe versprechen, sondern auch für Kliniker:innen, die an einem konkreten Anwendungsfall des Rechts auf Nichtwissen abseits genetischer Erkrankungen interessiert sind. Umgekehrt stellt die Anwendung der einzelnen Begriffe auf demenzielle Erkrankungen ebenfalls eine Probe für traditionelle philosophische Begriffe dar, da sich Fragen nach der Bedeutung von Wissen im Kontext zunehmender kognitiver Einschränkungen sowie nach Rechten und Pflichten im Zusammenhang zunehmender Abhängigkeit der Fürsorge Dritter neu stellen. Das Werk ist somit auch für Philosoph:innen von hohem Interesse.