Obwohl Husserls Begriff der Lebenswelt seit Jahrzehnten kursiert, fehlt bis heute eine historische Rekonstruktion des Weges, der Husserl selbst dazu geführt hat, von diesem Begriff Gebrauch zu machen. In der Tat taucht der Lebensweltbegriff vor allem (aber keineswegs ausschließlich) im deutschsprachigen Diskurs, und zwar in unterschiedlichen Ausprägungen, auf: Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in weiten Kreisen der Soziologie, der Psychologie, der Literaturwissenschaft u.v.m. ist der Begriff seit langem zu Hause.

Meistens wird der Lebensweltbegriff mit Husserls Ende der 30er Jahre verfasster Krisis-Schrift (Hua VI) verbunden, obwohl zu diesem Zeitpunkt der Begriff schon eine reiche Geschichte im deutschsprachigen Diskurs hinter sich hat (vgl. Bermes 2002). Aber der Begriff hat eine Geschichte auch innerhalb des Corpus von Husserls Werken – eine Geschichte, die in der Tat von der Forschung wenig erschlossen ist. Dzwiza-Ohlsens Buch Die Horizonte der Lebenswelt setzt sich zum Ziel, einige Aspekte dieser Entstehungsgeschichte zu rekonstruieren und sie mit der gebotenen Ausführlichkeit darzustellen.

Das Buch geht zurück auf eine Dissertation, die im Herbst 2017 an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg eingereicht worden ist. Anders als klassische Dissertationsschriften begnügt sich die zur Diskussion stehende Arbeit keineswegs damit, mit philologischer Akribie den Entwicklungsweg des Lebensweltbegriffs in Husserls Werken zu rekonstruieren. Im Gegenteil geht Dzwiza-Ohlsen von einer klaren These aus, die nicht nur die geschichtlich-philologische Rekonstruktion prägt, sondern auch systematische Konsequenzen für die husserlsche Phänomenologie hat: nämlich, dass die Sprache – und insbesondere das Phänomen der okkasionellen Ausdrücke – die eigentliche Pforte zur Lebensweltthematik darstellt. Handelt es sich zunächst um eine verblüffende These vor allem aufgrund der von mehreren Seiten bemängelten Sprachvergessenheit Husserls, so geht es Dzwiza-Ohlsen darum, diese These zu explizieren, sie zu diskutieren und ggf. zu kritisieren, indem er zu Tage fördert, welche Aspekte der Phänomenologie Husserls diese Perspektive zu erschließen erlaubt.

Die leitende Annahme, die eingangs explizit gemacht wird, lautet: „Der späten Lebensweltkonzeption der Krisis geht, so die These, eine frühe Lebensweltkonzeption voraus“ (S. 3). Damit werden Husserls Überlegungen zum Lebensweltbegriff von vornherein in zwei Phasen eingeteilt: eine frühe, in der der Begriff selbst nicht bzw. nur am Rande vorkommt, und eine späte Phase, in der der Begriff eine zentrale und explizite Stellung in der Phänomenologie Husserls einnimmt. Denn der Begriff taucht erst in einigen Beilagen aus dem Jahr 1917 auf, wie Dzwiza-Ohlsen richtig anmerkt (S. 5), wird aber von verwandten Begriffen – ‚Welt der natürlichen Einstellung‘, ‚geistige Welt‘, ‚personale Welt‘, ‚soziale Umwelt‘ etc. – in zumindest einigen (und immer wieder verschiedenen) Aspekten quasi vorweggenommen. Für solche Vorgestalten des Lebensweltbegriffs führt Dzwiza-Ohlsen die Bezeichnung „geistige Lebenswelt“ (S. 13) ein.

Diese historische Rekonstruktion wird in explizitem Anschluss an eine These, die Manfred Sommer (1984) zum ersten Mal formuliert hat, flankiert von der zuvor angedeuteten Annahme, dass besondere sprachliche Phänomene, nämlich die von Husserl schon in der ersten Logischen Untersuchung thematisierten „okkasionellen Ausdrücke“, eigentlich bereits den Keim einer Lebensweltkonzeption in sich tragen. Die Lebenswelt ist nicht schon und allein deswegen ein sprachliches Phänomen; allerdings wird der historisch-systematische Zugang zur Lebenswelt als einem Begriff erst in sprachlichen Analysen sichtbar. Okkasionelle Ausdrücke bezeichnen im Grunde genommen deiktische Äußerungen wie hier, da, dort, jetzt, dieses und jenes, aber auch Pronomen wie ich und du. Allen diesen Wörtern ist gemeinsam, dass sich ihre Bedeutung nur kontextuell erschließen lässt. Dzwiza-Ohlsen unterteilt die okkasionellen Ausdrücke genauer in drei Kategorien: räumlich-okkasionelle, zeitlich-okkasionelle und personal-okkasionelle Ausdrücke (vgl. S. 10). So führt bereits die Analyse der okkasionellen Ausdrücke in ihrer Breite dazu, die Hauptthemen einer Phänomenologie der Welt zu berühren: Raum, Zeit und die Rolle des Subjekts bzw. des Bewusstseins. Aber auch wenn die Systematik der Untersuchungsgebiete koinzidiert, ist dies kein hinreichender Grund dafür, die Annahme zu bestätigen, dass es besondere Sprachphänomene sind, die den Zugang zur Lebenswelt als einem Begriff gewährleisten. Das zu beweisen ist vielmehr das Ziel des ersten Kapitels, das den Titel trägt „Die Bedeutungstheorie der Logischen Untersuchungen und ihre lebensweltliche Störung: die okkasionellen Ausdrücke (1900/01)“.

Bereits der Titel hebt hervor, dass okkasionelle Ausdrücke für Husserls Bedeutungstheorie ein Problem darstellen, eben eine Störung (vgl. auch S. 21). Warum das so ist, erschließt sich aus Husserls Programm einer reinen Grammatik der Bedeutungen: „So verweisen sie [die okkasionellen Ausdrücke, DD] auf eine subjektrelative und intersubjektive, eine zweck- und situationsgebundene Bedeutungswelt, die im Universum zeitlos gültiger Bedeutungen formallogischer Objekte eigentlich keinen Platz haben dürfte“ (S. 19). Gerade deswegen behauptet der Autor, dass Husserls Projekt einer reinen Logik an den okkasionellen Ausdrücken „scheitert und scheitern musste“ (S. 19, kursiv im Original). Das liegt nun wiederum darin begründet, dass okkasionelle Ausdrücke „eigentlich alles implizieren, nämlich die Anschaulichkeit einer Situation und/oder das Wissen um einen Kontext“ (S. 31). Wenn es nun aber einerseits gewiss stimmt, dass Husserl den okkasionellen Bedeutungen gerade deswegen so viel Platz in den Analysen der ersten Logischen Untersuchung einräumt, weil in ihnen die Idealität der Bedeutung mit der Faktizität der kontextgebundenen Situation auf eigentümliche Weise verschränkt ist, so lässt sich dennoch fragen, ob das wirklich notwendigerweise zum Scheitern des ganzen Projekts der Logischen Untersuchungen führen muss, wie in der vorliegenden Monographie behauptet. Husserls Lösung des Problems – die von Dzwiza-Ohlsen nicht direkt angesprochen wird – besteht nämlich darin, dass die Kontextabhängigkeit zu einem Aspekt eben dieser ideellen Bedeutung gemacht wird und dass sie gleichzeitig aus dem eigentlichen Bereich der rein logischen Phänomenologie ausgeschlossen wird, da sie dieselbe uneinsichtige Struktur aufweist wie die Anzeige, die Husserl in der ersten Logischen Untersuchung deswegen aus dem wissenschaftlichen Kontext ausschließt (dazu vgl. D’Angelo 2020, 54–55). Dieser Einwand spricht lediglich dagegen, Husserls Umgang mit diesen Phänomenen als ein notwendiges Scheitern überspitzen zu wollen. Die eigentliche These von Dzwiza-Ohlsen, dass die okkasionellen Ausdrücke den Keim einer Lebenswelttheorie darstellen, bleibt freilich berechtigt. Denn dass „in den okkasionellen Ausdrücken […] sich ein Aufruf zu konkreterer Phänomenologie“ (S. 44) versteckt, scheint einleuchtend zu sein.

Im zweiten Kapitel wird die durch das Hervorheben des Scheiterns einer Theorie okkasioneller Ausdrücke statuierte Hauptuntersuchungslinie weiterverfolgt, indem die Frage gestellt und bejahend beantwortet wird, ob „die okkasionellen Ausdrücke als Auslegungsschema für eine Geschichte der Lebensweltphänomenologie herauspräpariert“ (S. 49, Hervorhebung im Original) werden können. Dies geschieht in einer Auseinandersetzung mit Karl Bühler. Die Ergebnisse dieser Konfrontation bestehen darin, dass laut dem Autor Bühler bestätigt, wie okkasionelle Ausdrücke „unsere vor- und außerwissenschaftliche Erfahrung der Welt“ (S. 68) prägen.

Aus Sicht der aktuellen Forschung stellt sich das dritte Kapitel als zentrales Stück im Projekt von Dzwiza-Ohlsen heraus, denn hier wird gezeigt, wie Husserls Untersuchungen zum Ding und zum Raum (sowohl in der gleichnamigen Vorlesung von 1907 als auch den früheren Raumuntersuchungen) als „erste konkrete Beschreibungen der lebensweltlichen Situation innerhalb der natürlichen Einstellung“ (S. 69) gelesen werden können. Hierbei wird ein gemeinsames Merkmal der frühen Lebensweltkonzeption herausgearbeitet: nämlich, dass die natürliche Einstellung durch den Glauben an die Existenz der Welt charakterisiert ist. „Letztlich“, so Dzwiza-Ohlsen, „ist und bleibt die Welterfahrung der natürlichen Einstellung der Referenzpunkt, der terminus a quo, von dessen Vielfalt sowohl die Natur- als auch die Geisteswissenschaften und insbesondere auch die Phänomenologie ausgehen“ (S. 80). Diese natürliche Welt liefert nämlich den Boden aller phänomenologischen Beispiele und Exempla, die auf Erfahrung basieren und aus denen durch Reduktion und Variation phänomenologische Erkenntnisse gewonnen werden können. Hier wird konkret herausgearbeitet, inwiefern der Begriff des Horizontes, der in Ding und Raum (Hua XVI) eine umfassende Rolle spielt, das erste und wichtigste Merkmal der Lebenswelt ausmacht (vgl. 91 ff.). Der zentrale Referenzpunkt des Horizontes, vor allem in der Wahrnehmung äußerer Dinge, ist der Eigenleib. Mit der Einführung des Eigenleibes antwortet Husserl laut Dzwiza-Ohlsen auf das Scheitern der Logischen Untersuchung: Denn hier steht nicht mehr eine reine Logik im Mittelpunkt der Analyse, sondern eine Beschreibung konkreter lebensweltlicher, am Leib sich orientierender Praktiken.

Dient der Begriff des Horizontes im dritten Kapitel vor allem dazu, den Zusammenhang des Raumes (als eines der drei oben erwähnten Aspekte der Lebenswelt) und der räumlich-okkasionellen Ausdrücke zu thematisieren, so befasst sich das vierte Kapitel mit personal-okkasionellen Ausdrücken und der Bedeutung von Phänomenen wie Motivation, Einfühlung und Konstitution einer sozialen Welt. Es geht dabei um eine Analyse von Husserls früheren Texten zur Intersubjektivität. Dzwiza-Ohlsen zeigt, dass sich insbesondere in den Texten, die im Band XIII der Husserliana veröffentlicht wurden, eine Verschiebung des Ausdrucksbegriffs finden lässt: Während Husserl in den Logischen Untersuchungen Mimik und Gestik aus dem Bereich des Ausdrucks ausschließt, weil sie die Struktur einer Anzeige aufweisen, nimmt er sie nun doch in den Bereich des Ausdrucks auf. Diese Verschiebung wurde in der Forschung bereits beschrieben; das Verdienst der vorliegenden Arbeit besteht jedoch darin, diese Verschiebung im Werk Husserls zu Recht zeitlich früher zu verorten. Allerdings fehlt eine Thematisierung der Antwort auf die Frage, warum diese Verschiebung überhaupt stattfindet. In der Forschung (vgl. etwa Heinämaa 2010) ist der Vorschlag formuliert worden, dass diese Verschiebung mit einem anderen Verständnis des Leibes einhergeht (in früheren Texten eher im Sinne eines Körperdings, später im Sinne eines geistigen Organs), was die Unterteilung der vorliegenden Untersuchungen in ‚räumlich-leibliche‘ Ausdrücke einerseits und ‚personal-motivationale‘ Ausdrücke andererseits zu plakativ erscheinen lässt.

Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Analyse personal-okkasioneller Ausdrücke bzw. der personalen Welt liegt darin, dass Dzwiza-Ohlsen betont, dass die phänomenologische Erfahrung etwa ab 1910/1911 (mit den Vorlesungen zu den Grundproblemen in Hua XIII) sich immer mehr als eine indexikalische Erfahrung verstehen lässt. Phänomenologische Erfahrung weist immer über sich hinaus – das ist das Wesen des Horizontes. Aber darin ist impliziert, dass etwas in der Erfahrung diese verweisende Funktion haben können muss. Das wird im vorliegenden Buch ausgearbeitet und überzeugend bewiesen, denn laut dem Autor handelt es sich bei dem „Index-Gedanken um den ersten Schritt auf das hin“, „was als eidetische Ontologie der Lebenswelt bezeichnet werden kann“ (S. 125).

Das folgende Kapitel befasst sich dann mit der dritten Klasse von okkasionellen Ausdrücken und lebensweltlichen Phänomenen, nämlich denen, die mit der Zeit verbunden sind. Gerade hier meint Dzwiza-Ohlsen die Brücke zu finden, welche die dichotomen Momente der Logischen Untersuchungen verbindet. Es sind nämlich die Zeitanalysen, die es erlauben, ideelle Bedeutungen mit dem Faktischen bzw. Empirischen in Zusammenhang zu bringen: „Es ist der okkasionelle Horizont, wie ich diesen konstitutiven Hintergrund nennen möchte, der sich als spezifische Differenz zwischen der sinnlichen und bedeutsamen Bezugnahme auf empirische Gegenstände einerseits und der bedeutsamen Bezugnahme auf ideale Gegenstände andererseits erweist“ (S. 148). Das liegt darin begründet, dass die Analyse von Dzwiza-Ohlsen die Tatsache zutage fördert, dass die (ideale) Identität des (faktischen) Gegenstandes eine Funktion des Horizonts selbst ist. Allerdings bleibt fragwürdig, ob der für die Konstitution der Idealität notwendige Horizont wirklich ein rein zeitlicher ist, wie der Autor an mehreren Stellen zu behaupten scheint, denn zum Einen beziehen sich die Analysen de facto auf Texte wie die Vorlesungen zur Bedeutungslehre (Hua XXVI), Ideen I (Hua III/1) und die Umarbeitungen der sechsten Logischen Untersuchung (Hua XX/1), wo es hauptsächlich um den Horizontbegriff im Ganzen geht; zum zweiten ist ja die Identität eines Gegenstandes sicherlich die Funktion eines Komplexes von Horizonten, von denen die räumlichen und die leiblichen auf keinen Fall ausgeschlossen werden können.

Während der erste Teil der Arbeit mit Hilfe der Untersuchung der okkasionellen Ausdrücke die Vorgeschichte der Lebenswelt thematisiert, widmet sich der zweite Teil der frühen und späten Phänomenologie der Lebenswelt stricto sensu.

Die Göttinger Lebensweltphänomenologie wird somit der Freiburger Lebensweltphänomenologie gegenübergestellt. Der Auftakt zur Göttinger Lebensweltphänomenologie wird wiederum in den Untersuchungen zur Konstitution der geistigen Welt aus dem zweiten Band der Ideen (Hua VI) herausgearbeitet, denn diese bilden den „ersten systematischen Versuch […], des Problemkomplexes von Phänomenologie, Lebenswelt und Wissenschaft Herr zu werden“ (S. 186). Was hier untersucht wird, fasst Dzwiza-Ohlsen als das „Programm der Weltvermessung“ (S. 187) zusammen, da es für Husserl darum geht, die Welt in unterschiedliche regionale Ontologien zu unterteilen und diese in ihren Wesenszügen zu thematisieren. Dabei bildet Expressivität weiterhin eine wesentliche Komponente, denn das, was in der geistigen Welt konstituiert wird, ist wesentlich durch intersubjektive Ausdrücklichkeit gekennzeichnet. Kulturobjekte sind dementsprechend vorwiegend intersubjektive und somit u.a. sprachlich vermittelte Entitäten. Gerade durch diese Überlegungen wird klar, worin der Hauptunterschied zwischen der Göttinger und Freiburger Lebensweltkonzeption besteht: Die Göttinger Lebenswelt ist vorwiegend eine sprachlich vermittelte Welt des Geistes und der Kulturgegenstände, während für die Lebenswelt der Freiburger Jahre diese Elemente nur einen Aspekt unter anderen darstellen. Dzwiza-Ohlsen fasst seine Position so zusammen, dass die Göttinger als eine Theorie der Lebenswelt, die Freiburger als eine Wissenschaft der Lebenswelt verstanden werden kann. Denn erst die Wissenschaft umfasst alle unterschiedlichen Bereiche der Lebenswelt. Davon werden im weiteren Verlauf der Arbeit sieben herausgearbeitet: 1. die Wahrnehmung, 2. die Sozialität, 3. die Kulturwelt, 4. die Wissenschaft samt Philosophie, 5. die Erkenntnis, dass Lebenswelt diese Wissenschaften fundiert, 6. die Hervorhebung der subjektrelativen Struktur der Lebenswelt und 7. die Thematisierung des Unterschieds und der Übergangswege zwischen Lebenswelt und Wissenschaft.

Möchte man nun den Unterschied zwischen einer Theorie und einer Wissenschaft der Lebenswelt im Sinne Dzwiza-Ohlsens näher ins Auge fassen, so wird man darauf hingewiesen, dass die Theorie rein deskriptiv, die Wissenschaft hingegen normativ vorgeht (vgl. S. 252). Das scheint aber deswegen problematisch, weil die Dichotomie von Theorie/Wissenschaft und deskriptiv/normativ keineswegs selbstverständlich ist und sich vor allem im Rahmen einer phänomenologisch geprägten Untersuchung nicht wirklich einholen lässt. Allerdings reicht der bloße Rekurs auf solche Dichotomien nicht aus, um plausibel zu machen, worin die erwähnten Unterschiede bestehen. Verschiedene Probleme bleiben daher am Ende der Untersuchung offen – Probleme, die sich mit Hilfe einer Analyse der okkasionellen Ausdrücke vermutlich nicht lösen lassen. So lässt sich z.B. berechtigterweise fragen, ob die brisante Frage nach der Einheit bzw. Pluralität der Lebenswelt(en), die in der Forschung breit diskutiert wird, tatsächlich angemessen behandelt ist, wenn ihr nur eine einzige Fußnote (vgl. S. 252) gewidmet wird.

Die Arbeit von Dzwiza-Ohlsen liefert aber im Großen und Ganzen eine wichtige und willkommene Erweiterung der verfügbaren Literatur zum Lebensweltbegriff. In der Tat, wenn die Ziele der Arbeit klar vor Augen gehalten werden – nämlich zum einen die Entstehung der Lebenswelt nachzuvollziehen, zum anderen einen besonderen Zugang über die Analyse okkasioneller Ausdrücke zu versuchen –, so findet der Leser genau das, was versprochen wird. Obwohl systematische Fragen großer Relevanz ausgeblendet bleiben bzw. nur am Rande berührt werden, hilft Die Horizonte der Lebenswelt dabei, wichtige Stationen von Husserls Denken auf einleuchtende Art und Weise zu rekonstruieren und in eigenständiger Perspektive zu diskutieren.

Dass weitere Untersuchungen notwendig sind, stellt der Autor selbst explizit heraus. Dementsprechend schließt das Buch mit einem Ausblick auf weitere Forschungsthemen. Dabei kommen aber nicht die angesprochenen Schwierigkeiten und systematischen Weiterführungen zur Sprache, sondern der Mangel eines adäquaten Naturbegriffs, auf den eine Systematik der Lebenswelt laut Dzwiza-Ohlsen gründen soll (vgl. beispielsweise S. 180). In diesem Zusammenhang geht es vor allem um die Herausstellung der „praktische[n], emotionale[n] und ästhetische[n] Dimension der lebensweltlichen Naturerfahrung“ (S. 256) sowie des Verhältnisses zwischen Natur und Mensch im Allgemeinen. Unterstellt wird, dass Husserls Naturbegriff ein rein abwertender ist (vgl. S. 257). Und obwohl die Überlegung stimmen mag, dass für Husserl die vorwissenschaftliche Naturerfahrung kein Gegenstand gesonderter Analyse ist, so ist der Grund dafür nicht in einer Abwertung zu suchen, sondern vielmehr in der Tatsache, dass die Natur nur Teilgebiet ästhetischer, wertender und praktischer Erfahrungswelten ist, denen das Augenmerk des Phänomenologen zunächst mit der gebotenen Allgemeinheit Rechnung tragen muss. Freilich trifft zu, worauf Dzwiza-Ohlen aufmerksam macht: dass die Gegenüberstellung von Natur und Geist bzw. von Natur und Kultur bei Husserl viel zu statisch angesetzt wird. Der lebensweltlichen Naturerfahrung komme ein „Primat“ (S. 259) zu, der in der vorliegenden Arbeit eher vorausgesetzt als erklärt wird, für den aber weitere Untersuchungen sicherlich erhellend sein könnten.

Im letzten Kapitel wird im Sinne einer Erweiterung der erzielten Ergebnisse argumentiert. Denn hier wird auf die Systematik der Lebenswelt kurz eingegangen. Insbesondere verfolgt der Autor die durch die ganze Untersuchung nahegelegte Frage: Wenn eine besondere Klasse von sprachlichen Ausdrücken, nämlich okkasionelle Ausdrücke, einen eminenten Zugang zur Lebenswelthematik haben, wie steht es mit der Sprachlichkeit der Lebenswelt selbst? Sind in der Forschung beide Positionen vertreten worden (für die Lebenswelt ohne Sprache Blumenberg 2007; für eine sprachliche Lebenswelt Gadamer 1960), so schlägt Dzwiza-Ohlsen einen interessanten Mittelweg ein: „lebensweltliche Sprache“ baut auf „lebensweltliche Struktur“ auf, und dies bedeutet, dass wir „okkasionelle Urteile und Aussagen“ nur deswegen einsetzen können, „weil die Erfahrung unserer Lebenswelt okkasionell strukturiert ist“ (S. 288). Die Struktur der Okkasionalität hört somit auf, Merkmal bestimmter sprachlicher Äußerungen zu sein, um zu einem ontologischen und transzendentalen Moment der Erfahrung zu werden. Denn eine horizonthaft strukturierte Lebenswelt, wo Phänomene notwendigerweise und konstitutiv kontextuell auf weitere Phänomene verweisen, hat eine okkasionelle Struktur, welche von der Sprache abgebildet wird.

Zusammenfassend kann man also festhalten, dass Die Horizonte der Lebenswelt einen zumindest dreifachen Verdienst hat. Erstens füllt es die Lücke einer historisch-philologischen Rekonstruktion der Entstehung und Wandlung des Lebensweltbegriffs im Werk Edmund Husserls. Zweitens schlägt die Arbeit eine eigenständige hermeneutische Zugangsweise zu diesem Phänomen mit Hilfe einer Analyse der okkasionellen Ausdrücke vor. Drittens eröffnet das Buch einen Ausblick auf eine neue Systematik der Lebensweltanalyse: Kann man mit den Begriffen Index und Okkasionalität auch nicht-sprachliche Phänomene beschreiben? Braucht die Phänomenologie solche Begriffe oder sollen sie im Sinne der ersten Logischen Untersuchung ausgeschlossen werden, weil sie unwissenschaftlich sind? Aber wie der Autor selbst erkennt, wäre es „ein bemerkenswerter Gedanke“, wenn die Okkasionalität selbst zur Basis der Wissenschaft werden würde: „Nicht, weil Wissenschaft so gut wie möglich Okkasionalität vermeidet, ist sie objektive Wissenschaft; nein, weil sie es schafft, die okkasionellen Horizonte der lebensweltlichen Erfahrung mit ihrer Methode so zu erschließen, dass sie zu identifizierbaren und idealisierbaren Forschungsobjekten werden, deren Wahrheit approximativ herauszuarbeiten ist – deswegen ist sie objektive Wissenschaft“ (S. 298).