Das erste Netzwerktreffen Ethikberatung in der Psychiatrie fand am 20. Januar 2021 als Online-Tagung statt. Im Sinne einer aktiven Vernetzung von psychiatrischer Praxis und medizinethischer Forschung erfolgte die Organisation des Treffens in Zusammenarbeit der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN) und der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) mit besonderer Beteiligung der Arbeitsgruppe Ethik in der Psychiatrie in der AEM.Footnote 1

In der somatischen Medizin wird klinische Ethikberatung als Unterstützungsangebot zur praktischen Klärung ethischer Fragestellungen zunehmend implementiert (Dörries et al. 2015). Im psychiatrischen Bereich bestehen hinsichtlich der systematischen Implementierung klinischer Ethikberatung jedoch noch relevante Herausforderungen. So zeigt eine aktuelle Studie, dass nur etwa die Hälfte aller psychiatrischen Kliniken in Deutschland eine Form von Ethikberatung anbieten können, wohingegen Ethikberatung von etwa einem Drittel der Kliniken entweder noch nicht thematisiert oder abgelehnt wurde (Wollenburg et al. 2020).

Ziel des Netzwerktreffens war es daher, einen Überblick über die Erfahrungen mit klinischer Ethikberatung in der Psychiatrie im deutschsprachigen Raum zu gewinnen, die interdisziplinäre Vernetzung zu fördern sowie bestehende Implementierungshürden zu identifizieren. Zudem wurden Teilnehmende eingeladen, konkrete Wünsche und Anliegen an die Fachgesellschaften heranzutragen. An dem Netzwerktreffen nahmen circa 150 Angehörige verschiedener Berufsgruppen teil, darunter Wissenschaftler:innen, Ärzt:innen, Pflegende, Seelsorgende und Ergotherapeut:innen.

Die Veranstaltung öffnete mit vier Impulsvorträgen. Joschka Haltaufderheide führte in ethische Probleme in der Psychiatrie ein, die in der klinischen Praxis auch deshalb besonders relevant seien, da sie unter Mitarbeitenden sogenannten moral distress auslösen könnten. Dies bezeichnet psychische Belastung im Zusammenhang mit moralischen Fragestellungen, die aus Widersprüchen zwischen eigenen Überzeugungen und Handlungen resultieren kann.

Alfred Simon berichtete von der Umsetzung klinischer Ethikberatung im Setting der Psychiatrischen Universitätsklinik in Göttingen durch das dortige Klinische Ethikkomitee sowie am Asklepios Fachklinikum Göttingen durch das lokale Netzwerk für ambulante Ethikberatung. Tanja Müller teilte ihre Erfahrungen mit der schrittweisen Implementierung klinischer Ethikberatung an einem Allgemeinkrankenhaus mit Abteilungspsychiatrie an den Main-Kinzig Kliniken. In beiden Vorträgen wurde auf den erfreulichen Trend der zunehmenden Annahme dieses Angebotes in der Psychiatrie hingewiesen.

Felizitas Schweitzer berichtete von ihren Erfahrungen mit den seit 2018 im Kontext von Zwangsbehandlungen verpflichtenden Ethikberatungen im Zentrum für Psychische Gesundheit am Klinikum Ingolstadt. Diese seien gemäß einer Umfrage unter Mitarbeitenden überwiegend positiv aufgenommen worden.

Ergebnisse der Workshops

Anschließend fanden sieben parallele Workshops statt, die in Breakout-Sessions der Zoom-Sitzung durchgeführt wurden. In Kleingruppen wurden die bisherigen Erfahrungen der Teilnehmenden mit klinischer Ethikberatung in der Psychiatrie zusammengetragen. Ein Workshop widmete sich speziell der Ethikberatung in der Forensik. Die in den Workshops gesammelten Eindrücke wurden anschließend im Plenum vorgestellt und diskutiert.

Die berichteten Themengebiete von Fallbesprechungen in der Psychiatrie befassten sich vor allem mit Zwangsmaßnahmen, dem Entlassungsmanagement in komplexen Fällen oder der Ablehnung somatischer Behandlungen. Zudem wurden interkulturelle Themen sowie Fragen zur Unterbringung Geflüchteter genannt. Besonderer ethischer Unterstützungsbedarf bestehe auch im Kontext gerontopsychiatrischer Versorgung, wobei Fragen zu Therapiebegrenzung und Palliativversorgung thematisiert wurden.

Positive Erfahrungen

Die Möglichkeit zur Reflektion von Einzelfällen im Rahmen von Ethikberatungen sei überwiegend positiv aufgenommen worden. Rückmeldungen des Klinikpersonals zeigten, dass die für die Ethikberatung aufgewendete Zeit als Zeitgewinn verstanden werden könne. So ermögliche das ausführliche Besprechen einzelner Fälle eine Lösung wiederkehrender Probleme und könne die Patientenversorgung nachhaltig verbessern. Auch Angebote der mobilen Beratung auf den psychiatrischen Stationen wurden hier als hilfreich empfunden.

Durch die Fallbesprechungen könne die gemeinsame Entscheidungsfindung gestützt und Klarheit für die weitere Behandlungsplanung hergestellt werden. Zudem könnten individuelle ethische Kompetenzen gestärkt und das Personal von möglichem moral distress entlastet werden.

Zur Rolle der Ethikberater:innen wurde einerseits positiv angemerkt, dass diese eher eine unterstützende Funktion einnehmen würden, anstatt „Expertentum“ zu vermitteln; andererseits wurde jedoch auch lobend berichtet, dass durch die Ethikberatung ethisches Wissen vermittelt werden konnte. Darüber hinaus wurde positiv angemerkt, dass unterschiedliche Professionen und teils auch Angehörige mit in die Fallbesprechungen einbezogen wurden, wobei die Beteiligung Betroffener bisher eher selten gewesen sei.

Negative Erfahrungen

Als problematisch wurde der teils unklare Zuständigkeitsbereich der Ethikberatung empfunden. So sei insbesondere im psychiatrischen Kontext teilweise nicht eindeutig geklärt, welche Funktion die Ethikberatung neben Angeboten wie Mediation oder Supervision einnehme. Die angefragten Themen seien zudem nicht immer im Rahmen von Ethikberatungen lösbar, beispielsweise, weil die Einwilligungsfähigkeit der betreffenden Person im Vorfeld nicht geprüft worden sei. Auch wurde kritisch angemerkt, dass ethische Fallberatungen nicht juristisch verbindlich seien, weshalb den Empfehlungen in rechtlich kritischen Fällen nicht immer gefolgt werden konnte.

Es wurde angemerkt, dass das Personal dem praktischen Nutzen von Ethikberatung zum Teil skeptisch gegenüberstehe. So berichteten manche beim Netzwerktreffen vertretenen Kliniken noch von geringen Fallzahlen. Teils könne die Einberufung des Ethikkomitees auch als Bedrohung oder Kritik an den Fähigkeiten der klinisch Tätigen wahrgenommen werden.

Implementierungshindernisse

Es wurde mehrfach berichtet, dass der Klinikleitung eine herausragende Rolle bei der erfolgreichen Implementierung klinischer Ethikberatung zukomme. Teilweise wurde es als herausfordernd empfunden, die Klinikleitung vom Nutzen der Ethikberatung zu überzeugen. Insbesondere stark hierarchische Strukturen hätten die Einrichtung der erforderlichen räumlichen und zeitlichen Rahmenbedingungen erschwert.

Auch die Einstellung des Klinikpersonals sei relevant für eine erfolgreiche Implementierung der Ethikberatung. Hierbei wurde es als hilfreich empfunden, wenn durch beteiligte Mitarbeitende Werbung für das Angebot der ethischen Fallberatung gemacht und dadurch das allgemeine Bewusstsein für ethische Themen gestärkt wurde. Möglich sei hier die Benennung von Ethikbeauftragten auf jeder Station.

Ein weiterer wiederkehrender Punkt war die Finanzierung klinischer Ethikberatung. So sei es zwar hilfreich, wenn Personal für die Teilnahme an ethischen Fallbesprechungen von der Arbeit freigestellt werde, jedoch gehe die Vor- und Nachbereitung der Fallbesprechungen häufig über die reguläre Arbeitszeit hinaus. Positiv wurde in dieser Hinsicht das Schaffen eigener Stellen oder sogar einer eigenen Abteilung für die Ethikberatung hervorgehoben.

Wünsche an die Fachgesellschaften

An die Fachgesellschaften wurde der Wunsch herangetragen, sich systemischen Problemen stärker zu widmen. Die Möglichkeiten individueller Fallbesprechungen seien begrenzt, wenn die ethischen Probleme strukturellen Faktoren geschuldet seien, wie beispielsweise einem Mangel an adäquaten Wohn- und Lebensräumen für Menschen mit schwerer psychischer Erkrankung.

Zudem wurde der Wunsch geäußert, das Angebot klinischer Ethikberatung in der Psychiatrie breiter zu bewerben, um die weitere Institutionalisierung zu ermöglichen. Es wurde darauf hingewiesen, dass eine vermehrte Unterstützung der Begleitforschung durch die Fachgesellschaften die weitere Entwicklung der klinischen Ethikberatung positiv beeinflussen könnte. Zudem wurde vorgeschlagen, die ethische Beratung auch in Weiterbildungscurricula aufzunehmen, wie etwa in die fachärztliche Weiterbildung für Psychiatrie und Psychotherapie. Die bestehenden Zertifizierungen in der Ethikberatung über die AEM wurden als positiver Beitrag zur Qualitätssicherung bewertet.

Weiterhin wurde problematisiert, dass bestehende Strukturierungs- und Dokumentationsmöglichkeiten klinischer Ethikberatung vorrangig für die somatische Medizin entwickelt worden seien. Diese seien nicht immer auf psychiatrische Fälle übertragbar. Es wurde angeregt, psychiatriespezifische Formulare für Behandlungsvereinbarungen und Fallbesprechungen bereitzustellen. Auch wurden spezifische Fortbildungen für klinische Ethikberatung in der Psychiatrie gewünscht.

Schließlich wurde die Beschäftigung der Fachgesellschaften mit aktuellen gesellschaftlichen Themen als hilfreich empfunden. Teilnehmende wünschten sich eine Bereitstellung von weiteren Informationsmaterialien oder Positionspapieren zu ethisch herausfordernden Fragen wie palliativmedizinischen Konzepten im Kontext schwerer psychischer Erkrankungen. Gleichzeitig wurde ein verstärkter Austausch der AEM und DGPPN mit anderen Fachrichtungen sowie das Anstoßen gesamtgesellschaftlicher Debatten gewünscht.

Forensik

Im Workshop zu Ethikberatung in der forensischen Psychiatrie wurde berichtet, dass diese trotz des bestehenden Bedarfs noch äußerst selten sei. Als Implementierungshürde wurde hier auf die Struktur forensischer Einrichtungen mit stärker ausgeprägten institutionellen Hierarchien verwiesen. Teilnehmende zeigten sich auch durch einen unklaren rechtlichen Rahmen in Bezug auf Schweigepflicht und Datenschutz verunsichert. Die Fachgesellschaften könnten hier durch Aufklärung über rechtliche Aspekte und die Entwicklung eines an das forensische Behandlungssetting angepassten Ethik-Moduls Unterstützung bieten. Auch wurde angeregt, eine Arbeitsgruppe zu Ethikberatung in der Forensik zum Austausch, der Formulierung von Standards und dem Ausbau eines Forensik-adaptierten Angebots zu gründen.

Ausblick

Dank der zahlreichen engagierten Teilnehmenden ermöglichte das Netzwerktreffen einen breiten Austausch über die Umsetzung klinischer Ethikberatung in der Psychiatrie. Durch die Workshops konnten bestehende Implementierungshindernisse identifiziert werden. Hier bieten die konkreten Wünsche an die Fachgesellschaften hilfreiche Anhaltspunkte für die weitere Institutionalisierung und Qualitätssicherung von klinischer Ethikberatung. Eine Zusammenarbeit der psychiatrischen und medizinethischen Fachgesellschaften erscheint vielversprechend für die Entwicklung psychiatriespezifischer Angebote, die in künftigen Netzwerktreffen weiterentwickelt und diskutiert werden können.