Patienten und Politiker in Pandemie-Panik, Menschen und Menschlichkeit bedroht – so könnte man ein Szenario des Schreckens skizzieren. Massen-Ausbruch einer Corona-Mutante in der Charité? Berlin im Herbst 2021? „Nein“,Footnote 1 Preußen zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Als eine Pest-Epidemie aus Osteuropa auch nach Brandenburg zu kommen drohte, wurde „weit vor den Toren“ (!) der Hauptstadt Berlin ein Haus zur Absonderung und Versorgung der Kranken gebaut (Frewer 1999; Jaeckel und Grau 2021). Nachdem die Seuchen-Welle die preußische Kapitale verschont hatte, wurde das 1709/10 entstandene Gebäude zur allgemeinen Kranken- und Armenversorgung umgewidmet: „Es soll das Haus die Charité heißen“ verfügte der frankophile König Friedrich I. (1657–1713) – und mit dieser Notiz aus dem Jahr 1727 wurde der Grundstein gelegt für Europas größtes Klinikum, das die Menschlichkeit (Barmherzigkeit, Mildtätigkeit) im Namen trägt und mittlerweile im Herzen der Hauptstadt ein ganzes Viertel prägt. Das Pesthaus wurde nicht für die damalige Epidemie gebraucht, aber es kann als die beste vorausschauend-langfristige Investition in die Entwicklung des Gesundheitswesens gesehen werden sowie als ein besonders prägnantes historisches Beispiel für die Schwierigkeit der Planung näherer oder gar weiterer Zukunft. Der Volksmund bringt es auf die einfache Formel „Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt“; eine geringfügig elaboriertere Version lautet: „Prognosen sind besonders schwer, wenn sie sich auf die Zukunft beziehen“ (Wieland 1994; Frewer und Rödel 1994). Zwar brauchte es noch viel Zeit bis das Armen-Lazarett zum modernen Medizin-Mekka wurde, aber nach über 300 Jahren steht die Charité in der Gegenwart im Zentrum der Pandemie-Bekämpfung; hier wurde nicht nur das Virus erstmals sequenziert, sondern auch die genaue medizinische Analyse des Krankheitserregers und seiner Mutationen vorangebracht. Und von Berlin aus wird durch Politik der Bundesregierung, Robert Koch-Institut (RKI) und Deutschen Ethikrat (DER) sowohl die Seuchen-Bekämpfung koordiniert, als auch mit Expertengremien wie der Ständigen Impfkommission (STIKO) die Strategie zwischen Quarantäne und Lockdown, Hygiene-Kampagne und Impfplanung konzipiert. Während aktuell eine dritte Staffel der Spielfilm-Dokumentationsreihe „Charité“ die in Homeoffice und Cocooning eingeschränkte Bevölkerung unterhält, werden auch hier Visionen angestellt: Sollte eine neue Folge der Serie gar in der Zukunft spielen und Infektiologie wie auch Gesellschaftsentwicklung der nächsten 30 Jahre zu antizipieren versuchen? Der Virologie-„Papst“ und Politikberater Christian Drosten (geb. 1972) wird schon für zukünftige Hauptrollen gehandelt.

Die Geschichte der Menschheit begleiten jedoch immer auch falsche Prognosen, ethisch fragwürdige Visionen oder verfehlte Vorhersagen. Gerade für das Beispiel der Charité sollten dramatisch-negative Beispiele nicht vergessen werden; etwa, dass in Hitlers Vision zur Errichtung einer „Großen Halle des Deutschen Volkes“ mit monströsen Ausmaßen (mehrmals so hoch wie der Reichstag) die gesamte Charité abgerissen werden sollte. Dieser Plan wie auch der von Albert Speer und Hermann Distel konzipierte Neubau der historisch gewachsenen Hauptstadt-Klinik als gesichtsloses Hochhaus-Ensemble (1941) in Richtung des Olympia-Geländes wurde zwar nie realisiert, steht aber immer noch für den extremen Größenwahn des NS-Regimes. Die Abgründe der NS-Zeit haben auch in der Metropolregion Erlangen-Nürnberg ihre Spuren hinterlassen. Für gigantische Aufmärsche wurde das Reichsparteitagsgelände konzipiert; ein „Deutsches Stadion“ sollte dort sogar 400.000 (!) Zuschauer fassen. Auch wenn dieser gleichermaßen größenwahnsinnige Zukunftsplan nicht umgesetzt wurde, so entstand doch mit massivem Einsatz von Zwangsarbeit neben Zeppelintribüne und Reichssportfeld ein gigantisches Gelände sowie mit der „Kongresshalle“ eines der immer noch größten architektonischen Relikte der faschistischen Machthaber. Nürnberg wurde als „Stadt der Reichsparteitage“ zum Zentrum und Motor der „Bewegung“, Franken zum „Mustergau“ des NS-Staates. Die „Nürnberger Rassengesetze“ aus dem Jahr 1935 mit Blick auf eine eugenisch zu gestaltende „bessere Zukunft“ des deutschen „Volkskörpers“ endeten in Konzentrationslagern und Holocaust. Neben der menschenverachtenden Ideologie, die eigentlich gerade ein „Zukunftsmodell“ zur „Höherführung der arischen Rasse“ als Kernmotiv hatte und dabei durchaus von der „Wissenschaft“ auf breiter Front unterstützt wurde, stand oft auch ein großer Idealismus, der etwa in der weltweit ersten Zeitschrift „Ethik“ mit einer Mischung von Gutgläubigkeit und Mittäterschaft im Zeitraum 1922–1938 diese schwierigen Jahre begleitete. Das Forum war dabei teils stark in Parallelität zu NS-Konzepten mit der Maxime „Gemeinwohl geht vor Eigennutz“ (Frewer 2000). Der Vorsitzende des „Ärzte- und Volksbunds für Sexualethik“, ab 1927 „Ethikbund“, Emil Abderhalden (1877–1950), hatte noch vor der NS-Zeit sehr idealistische Visionen – etwa in seinem Aufsatz „La vie en l’an 2222“ – für die Zukunft der moralischen und gesellschaftlichen Weiterentwicklung, endete dann aber dramatischerweise bei Rassenforschung (Projekt „Spezifische Eiweißkörper“ in Auschwitz) und dem antisemitischen Ausschluss jüdischer Mitglieder der von ihm geleiteten „Leopoldina“ (heute Nationale Akademie der Wissenschaften). Auch die vom Titel idyllisch anmutende theologische Zeitschrift „Schönere Zukunft“ wurde im Jahr 1941 mitten in den unmenschlichen Grausamkeiten des Weltkriegs herausgegeben.

Die Nazizeit führte in beispiellose „Crimes against humanity“ und schließlich zu den vor 75 Jahren begonnenen Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher. Der Ärzteprozess war das erste von zwölf Nachfolgeverfahren gegen die wichtigsten Berufsgruppen der NS-Zeit. Seitdem steht mit dem „Nuremberg Code of Medical Ethics“ (1947) als einem Ergebnis des Urteils die Europäische Metropolregion Nürnberg (EMN) für Geschichte und Theorie der Medizinethik. Der Kodex setzte Standards für „Zulässige medizinische Versuche“ und sollte nicht nur die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes (seit 1964 immer wieder novelliert), sondern mit der Forderung nach dem „Informed Consent“ (Zustimmung nach Aufklärung) die Medizin insgesamt wesentlich prägen (Frewer 2011; Schmidt et al. 2020). Auch wenn der Einschätzung als „Birth of Bioethics“ (Jonsen 2003) für Nürnberg in Bezug auf die Vorgeschichte seit Hippokrates’ antiker Medizin und rezenten Werken wie Albert Molls „Ärztliche Ethik“ (1902), Abderhaldens Zeitschrift (1922/1925, 1926–1938) oder Fritz Jahrs (1895–1953) „Bioethik“-Beiträgen (Frewer 2000; Steger 2014; Muzur und Sass 2016) nicht zuzustimmen ist, war der Nürnberger Kodex ein Meilenstein für Forschung und Praxis. Diese historischen Ereignisse sollten nicht vergessen werden, wenn in der Gegenwart ein Kongress zur Medizinethik an der Universität Erlangen-Nürnberg stattfindet. Bei Überlegungen für die „Zukunft der Menschlichkeit im Gesundheitswesen“ müssen die Herkunft der Medizinethik und gerade auch die Verbrechen gegen die Menschlichkeit mitbedacht werden. Hierzu gehören in besonderer Weise Patiententötungen, speziell an der Erlanger Heil- und Pflegeanstalt (HuPfla). Mit Transport von über 900 Menschen in die Mordzentren (hier: Pirna-Sonnenstein und Hartheim/Linz) für die Jahre 1940–1941 sowie über 1000 systematisch ausgehungerten Psychiatrie-Patienten in der Kriegszeit als ein besonders negatives Beispiel. Am Ort der „HuPfla“ wird in der näheren Zukunft – neben einem neu errichteten Zentrum für modernste Physik- und Medizinforschung – eine Gedenkstätte wie auch ein Diskussionsforum zu Geschichte und Ethik der Medizin entstehen. Dort soll ab 2025 dokumentiert und informiert sowie mit reflektierten Sterbehilfe-Debatten wie auch Disability Studies ein wichtiger Impuls zur Erinnerungs- und Debattenkultur gesetzt werden (Frewer 2020). Der Berliner Arzt Werner Leibbrand steht dabei in besonderer Weise für die dramatischen Umstände wie auch die Pionierarbeit bei der Aufdeckung der NS-„Euthanasie“: Er war von den Amerikanern 1945 zum Leiter der Erlanger HuPfla ernannt worden und publizierte bereits 1946 die kritische Schrift „Um die Menschenrechte der Geisteskranken“ (Frewer 2020). Leibbrand wurde der einzige deutsche Sachverständige im Nürnberger Ärzteprozess und Begründer des Universitätsseminars für Medizingeschichte, aus dem das heutige Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der FAU hervorgegangen ist (Frewer 2021).

In jüngerer Vergangenheit hat die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU, gegründet 1743) seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Reihe weiterer Besonderheiten zur Medizin und Ethik aufzuweisen: Seit den 1960er-Jahren gab es hier immer mehr Spitzenforschung sowie u. a. Pionierleistungen zu Gastroenterologie, Immunologie, Nephrologie und Transplantationsmedizin. Technik und insbesondere Bildgebung in der Medizin werden durch ein global aktives Unternehmen vorangebracht. 1982 kam an der Frauenklinik das erste IvF-Baby in Deutschland auf die Welt (nach Louise Brown in England das dritte weltweit). Zehn Jahre später sorgte das „Erlanger Baby“ einer hirntoten Schwangeren ebenfalls für bundesweites, ja sogar internationales Aufsehen, gleichermaßen die letztlich sogar erfolgreiche Geburt des „Erlanger Jungen“ bei einer Wachkoma-Patientin im Jahr 2007 (Frewer 2019a). Die Fragen der „Menschlichkeit“ an den Grenzen des Lebens – Hirntod, Intensiv- und Transplantationsmedizin, Konflikte um Schwangerschaft, Koma, Kinderrechte u. v. m. – wurden durch diese paradigmatischen Fälle intensiv diskutiert. Für die Entwicklung des Gebietes muss zudem speziell die im Jahr 1986 erfolgte Gründung der „Akademie für Ethik in der Medizin e. V.“ (AEM) erwähnt werden. Der Erlanger Arzt und Rechtsmediziner Prof. Dr. Hans-Bernhard Wuermeling (1927–2019) wurde ihr Gründungspräsident, die AEM in das Erlanger Vereinsregister eingetragen (Frewer 2019b). 35 Jahre nach dieser wichtigen Initiative zur Fachgesellschaft wird die „Wuermeling-Bibliothek für Medizinethik“, eine großzügige Schenkung der Familie an die Professur für Ethik in der Medizin der FAU, 2021 eröffnet und erstmals im Rahmen einer AEM-Jahrestagung auch Veranstaltungsort sein. An der Medizinischen Fakultät der FAU entstand ab 1979 zudem eine der frühen Ethikkommissionen zur Begutachtung von Forschungsstudien, Anfang des neuen Jahrtausends dann auch eines der ersten Klinischen Ethikkomitees an einem Universitätsklinikum (Mitveranstalter der Jahrestagung). Bereits das Autobahnschild weist auf die „Medizin- und Universitätsstadt Erlangen“ hin, die Metropolregion wird seit Spitzenclustern und zahlreichen SFBs etc. sogar als „Medical Valley“ bezeichnet. Auch eine „Junge Akademie“ hatte in gewisser Weise ihre Keimzelle an der FAU, denn Ende der 1980er-Jahre entstand hier die Initiative zum „Studentenverband Ethik in der Medizin“ (gegründet 1990), der sich über Regionalgruppen in Erlangen und Freiburg, Heidelberg und Würzburg sogar bis nach Berlin und Hamburg ausbreitete sowie mit bundesweiten Kongressen in Bonn (1990) oder Aachen (1993) viele Impulse zur Institutionalisierung des jungen Gebiets der Medizinethik gab (u. a. Frewer 1993, 1994). Die Einrichtung von ersten akademischen Stellen in Erlangen, Freiburg und andernorts, die Etablierung von Professuren in Göttingen, Köln und Tübingen ab 1998 wie auch in der Folge bundesweit führte zu einer bemerkenswerten Institutionalisierung des Faches Medizinethik sowie 2002 zur Entwicklung des Lehrgebiets „Geschichte, Theorie, Ethik in der Medizin“ für eine zukunftsorientierte und ethisch reflektierte ärztliche Ausbildung (Frewer 2011).

Die Heilkunst hat sich in den letzten Jahrzehnten fulminant entwickelt. Man spricht in Bezug auf die Möglichkeiten durch Molekulargenetik und Big Data auch von Prädiktiver und Personalisierter Medizin („4.0“), die in Pränataldiagnostik, Krankheitsvorhersage oder Therapieoptimierung durch umfangreichen Einsatz von Technik, Informatik und Digitalisierung neue Horizonte erreicht hat. Die sozial- und medizinethischen Fragen sind dabei auf vielen Ebenen noch drängender, vielschichtiger und komplexer geworden. Was sind die Grenzen von Optimierung und Enhancement? Wie kann „High Tech“ mit „High Care“ und Humanität verbunden werden? Zudem bleiben Diversität und Inklusion große Herausforderungen für die Praxis. In all diesen Feldern ist die Medizinethik in besonderer Weise mit der Vorhersage von möglichen, wahrscheinlichen und realistischen Verläufen für den einzelnen Patienten wie auch die gesamte Gesellschaft beschäftigt. Debatten zu Suizid- und Sterbehilfe wie auch Diskussionen zu Chancen und Risiken der Gen- und Präimplantationsdiagnostik (PID) greifen immer wieder auf Zukunftsaussagen wie „Schiefe-Ebene“- oder „Dammbruch-Argumente“ zurück; gleichzeitig verweisen sie auf historische Analogien und potenziell gefährliche Entwicklungen für die Zukunft („principiis obsta“ oder „slippery slope“). Dies betrifft die Genese komplexer gesellschaftlicher Phänomene, bei der die Medizinethik mit weiteren Disziplinen kooperiert, um die Präzision der Beschreibung vielschichtiger moralischer Konstellationen breiter aufzustellen wie auch die genaue Evaluation von Einzelfällen im klinischen Alltag. Man spricht u. a. vom „Empirical Turn“ in Bezug auf die notwendige Durchführung empirischer Studien zur Evaluation der Expertise und Einstellungen bei der Entwicklung medizinethischer Probleme. Für die gesamtgesellschaftliche Perspektive hat die Einrichtung von Enquete-Kommissionen des Bundestags seit den 1980er-Jahren wie auch des Nationalen Ethikrats (2001) bzw. die Neugründung als „Deutscher Ethikrat“ (2008) auf Bundesebene wichtige Impulse und eine Fülle von zentralen Stellungnahmen mit der Antizipation zukünftiger Entwicklungen in Wissenschaft, Technik und Praxis gebracht. Die Klinische Ethik für die Beratung im Einzelfall der Krankenhausbehandlung hat ebenfalls ein weites Spektrum an Instrumenten entwickelt, um direkt am Klinikbett differenzierte Aussagen und konkrete Hilfen zu einem ethisch reflektierten Handeln in der Medizin zu ermöglichen. Auf der Mikroebene sind hier Abschätzungen zu Prognosen und möglichen Konsequenzen für das Patientenwohl zentrale Dimensionen guter klinischer Praxis bis hin zu detaillierten Best/Worst Case-Szenarien. Die unmittelbar bevorstehende oder mittelfristige Zukunft von individuellen Patienten wie auch längerfristige gesellschaftliche Entwicklungen stehen auf der Meso- und Makroebene für funktionierende Sozialsysteme bzw. ganze Gesellschaften im Mittelpunkt von Debatten zu Gesetzesplanung und Health Technology Assessment (HTA) für die Zukunft des Landes. Wie kann in allen diesen Bereichen Menschlichkeit und eine humane Gesundheitsversorgung gewährleistet werden? In besonderer Weise sind dabei Medizinethik und Zukunftsforschung verbunden. Häufig haben wissenschaftliche Aussagen auch Implikationen für die antizipierte – bewusst intendierte bzw. als problematisch oder gar gefährlich beurteilte – Entwicklung des Gesundheitswesens. Dies betrifft nicht nur Pandemien, sondern das ganze Spektrum medizinethischer Probleme vom Lebensbeginn bis zum Ende menschlichen Daseins: „Bio-Ethik und die Zukunft der Medizin“ (u. a. Wunder und Neuer-Miebach 1998; Frewer 2011) wird dabei kritisch reflektiert oder gar in pointierten Thesen verdichtet wie „Wir kurieren uns zu Tode“ als Zukunft (Krämer 1993) oder gar „Nemesis“ der modernen Medizin (Illich 1977). Zahlreiche Publikationen haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder die Zukunftsperspektive in den Mittelpunkt gestellt und dabei ein weites Spektrum fachlicher wie auch populärer Perspektiven erarbeitet (vgl. u. a. Comfort et al. 1971; Kenyon 1986; Dittmer 2013; Oberender et al. 2015; Kleibrink et al. 2019; Mühlhausen et al. 2020). Die jüngsten Prognosen gehen von „Disruptiven Innovationen“ und anstehenden „Revolutionen“ für die Zukunft von Medizin und Gesellschaft aus (Böttinger und zu Putlitz 2019). Auch das sehr heterogene Gebiet der Futurologie hat sich in diesem Zeitraum weiterentwickelt (vgl. u. a. von Jungk 1953 und Flechtheim 1968 über Rosen 1980 bis hin zu Flessner 2020). Aus den reizvollen Prognosen zur „Welt in 100 Jahren“ – siehe das frühe Buch von Brehmer 1911 und das Wiederaufgreifen bei Grandits 2012 – hat sich eine immer differenziertere Trend- und Prognose-Forschung entwickelt, die wichtige Extrapolierungen in die nähere Zukunft erlaubt (Brehmer 2017; Grandits 2012). Eine mittlerweile bereits traditionsreiche und besonders populäre Form der Futurologie ist die Verarbeitung im Film, speziell das Genre Science Fiction. Der Zukunftsforscher Bernd Flessner zeigt in seinen Reflexionen zu „Implizierten Prognosen“ und zum „Verhältnis von Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitsraum in Science Fiction und Wissenschaft“ eindrucksvoll, dass nicht selten SF-Visionen durchaus nah an der späteren Entwicklung waren (Flessner 2020). Der Blick in die Glaskugel aus dem Kino- oder Fernsehsessel hat weite Verbreitung gefunden und lässt durch die zahlreichen Beispiele mittlerweile bereits punktuell sogar einen „Faktencheck“ aus Sicht der Gegenwart zu. Einige der SF-Verfilmungen aus den letzten Jahrzehnten haben sogar konkrete Zukunftsdaten wie das Jahr 2021 oder sein Umfeld angegeben (vgl. generell RND/dpa 2021). Der kanadische Action-Film „Vernetzt – Johnny Mnemonic“ aus dem Jahr 1996 gibt etwa exakt an, die Zeit im Jahr 2021 antizipieren zu wollen. Dieser Thriller mit prominenter Besetzung von Barbara Sukowa bis Keanu Reeves wird aus heutiger Perspektive gerade deswegen an manchen Punkten ungewollt komisch, etwa wenn die Technik der Datenübertragung per Telefax noch eine wichtige Rolle spielt, während längst Social Media und Transfer per E‑Mail im Glasfaserkabel immer höhere MBit-Werte erreichen. Trotzdem lag dieser Film mit der seinerzeit prognostizierten Dominanz von High-Tech-Konzernen auf dem Globus sicher nicht ganz falsch. Science Fiction-Filme antizipieren schon seit längerer Zeit neben fliegenden Autos („Zurück in die Zukunft“) oder Techniken wie „Beamen“ („Star Wars“) Klone bzw. „Replikanten“ für eine – (un)menschliche? – Zukunft. Oft sind die hierbei dargestellten Prognosen recht düster wie in den Varianten mit Schwerpunkt Katastrophen. Dies trifft etwa auf „2012 – Das Ende der Welt“ von Roland Emmerich (2009) zu oder die Desaster-Streifen „Independence Day“ und „Armageddon – Das jüngste Gericht“ bzw. eher philosophische Werke wie „Contact“ mit Jodie Foster (1997) und „Arrival“ mit Amy Adams (2016). Zu den futuristischen Filmklassikern zählt der russische Streifen „Solaris“ (1972) von Andrej Tarkowski; 2002 wurde er in den USA sogar neu verfilmt von Steven Soderbergh (u. a. mit George Clooney und Natascha McElhone), basierend auf dem Roman des vor 100 Jahren geborenen, zeitreisenden Philosophen Stanisław Lem (1921–2006). „Matrix“ (1999) greift gar 200 Jahre voraus und schildert den Krieg von Menschen mit Maschinen um echte Menschlichkeit, der sich im Jahr 2199 zuspitzt: In dem komplexen Film-Plot geht es auf mehreren Ebenen um die Befreiung aus einer elektronisch-digitalen Scheinwelt. Ebenfalls mit der Humanität in einer imaginären Zukunft setzt sich der Film „Gattaca“ (Akronym aus den vier Basenpaaren der DNA) von Andrew Niccol (1997) auseinander. Dort wird eine futuristisch-totalitäre Gentechnologie als gesellschaftliche Grundlage genommen; nur noch streng genormte Babys dürfen zur Welt kommen, der Staat überwacht alle Formen des (un)menschlichen Lebens und die Auslese von Behinderung vor dem Traumziel Weltraumreise. Der gleiche Drehbuchautor konzipierte auch „Die Truman Show“ (1998) mit Jim Carrey, die fiktive Auswüchse von Reality-TV, umfassende Überwachung und perfektionierte Manipulation des Menschen voraussagt. Die Geschwindigkeit der menschlichen Zukunftsentwicklung, etwa der Raumfahrt, wird in futuristischen Blockbustern dabei häufig auch überschätzt: Bereits für das Jahr 2020 wurde in „Banditen auf dem Mond“ (Original: „Moon Zero Two“ 1969) eine Kolonie auf dem Erdtrabanten sowie in „Mission to Mars“ (2000) ein bemannter Flug zum Roten Planeten prognostiziert (einige weitere Beispiele zu „menschlichen Schicksalen“, etwa „Der Marsianer – Rettet Mark Watney“ aus dem Jahr 2015, wären zu nennen). Im zweiten Teil der „Zurück in die Zukunft“-Trilogie (1989) mit Michael J. Fox gibt es im Jahr 2015 Flachbildschirme, Handys und Bildtelefone; fliegende Autos und schwebende Skate‑/Hoverboards waren dagegen (noch) zu fantasievolle Ideen. Da ist die „Realität“ der Pläne von Post- und Transhumanismus mit Robotik und Cyborgs (Gray 2002), Nanotechnik und KI, Kryonik zur Konservierung und „Uploading“ fast futuristischer als mancher SF-Film. Genres von Vampir- oder Zombie-Streifen sollen an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden; Tod und Untote stellen ein besonders sensibles Feld futuristischer Visionen dar (u. a. Jordan und Frewer 2008; Holzhauser et al. 2019).

Ein spezielles Projektionsdatum bildet derzeit das Jahr 2049: Die genaue Mitte des 21. Jahrhunderts hätte wohl etwas zu glatt geklungen, da wirkt 2049 gleichermaßen fern und „spacig“ wie auch noch innerhalb der ersten 50 Jahre des neuen Jahrtausends. So etwa im Fall der Fortsetzung des Films „Blade Runner“ (Original 1982), der die Phantasie der Zuschauer anregen sollte mit der Vision „Blade Runner 2049“ (2017). Etwas mehr Abstand zur antizipierten Zukunft kann sich dabei nur auszahlen, denn mit den Prognosen für das menschliche Leben im Jahr 2019 aus der ersten Version lagen die Drehbuchautoren doch ziemlich daneben. Auch der neue Netflix-Streifen „Midnight Sky“ von und mit George Clooney ist im Jahr 2049 angesiedelt. Für die Medizinethik und das Lebensende sind einige cineastische Visionen von besonderem Interesse: In der Serie „Upload“ (Prime-Videos 2020) können sich „Menschen“ 2033 in ein von ihnen ausgewähltes Leben nach dem Tod hochladen lassen. Erinnert sei hier zudem an den Film „Flucht ins 23. Jahrhundert“, der für das Lebensende eine Art Zwangs-„Euthanasie“ (de facto Tötungen gegen den Willen) der Menschen visioniert – wohlgemerkt nicht hochbetagter Senioren, sondern aller 30-Jährigen (sic). Ob dies nun mahnendes Menetekel oder prophetische Dystopie sein soll, muss bei der Vielgestaltigkeit (un)menschlicher Zukunftsentwürfe offenbleiben, eine Form massiver Altersdiskriminierung bildet es auf jeden Fall (vgl. Frewer et al. 2019). Aber was ist heute – im Jahr 2021 – eine realistische Aussicht auf die Medizin im Jahr 2049, jenseits aller cineastischen Dramatik oder bizarrer Utopien? (siehe auch Gordijn 2004; Schneider 2016).

Die Studie „Gesundheitswelt 2049“ versteht sich als ein „Navigator für die Zukunft“ (Mühlhausen et al. 2020). Dabei werden für die Medizin bzw. das „System Gesundheit“ zwölf „Megatrends“ als entscheidende Einflussfaktoren antizipiert: Konnektivität (digitale Vernetzung etc.), Individualisierung (u. a. Wahlfreiheit als Konsummuster), „Neo-Ökologie“ (erweitertes Umweltbewusstsein), „New Work“ (innovative Arbeitskulturen), „Silver Society“ (demographischer Wandel zu alternden Gesellschaften), „Gender Shift“ (aufbrechende Rollenmuster und Geschlechterangleichung), Wissenskultur (lebenslanges Lernen für einen globalen Bildungsstand), Mobilität (vernetzt, postfossil, geteilt) sowie die bekannten Felder Urbanisierung, Globalisierung und Sicherheit (siehe auch Frewer et al. 2020). Last but not least nennt die Forschung hier übergreifend den „Megatrend Gesundheit“ – als Kern guten Lebens. Diese Bereiche werden Medizin und Gesundheitswesen mit großer Wahrscheinlichkeit sukzessive immer stärker beeinflussen, wobei es für das erstellende Zukunftsinstitut aus ethischer Sicht bemerkenswert ist, dass sie dem auch die übergreifende Orientierung auf das Patientenwohl vorangestellt haben (vgl. Mühlhausen et al. 2020). Als der Autor dieses Beitrags 2010 – das „Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen“ – gebeten wurde, sich an einem Projekt zum „Gesundheitswesen im Jahr 2030“ zu beteiligen, hat er nach einigen Bedenken zugesagt. Der schließlich deutlich verspätet gedruckte Beitrag hatte in der Entwurfsfassung den Hinweis, dass all diese Antizipationen selbstverständlich unter dem Vorbehalt einer stabilen Entwicklung von Gesundheit und Gesellschaft stehen, da eine – historisch durchaus längst wieder zu erwartende – Epi- oder Pandemie alle Vorhersagen kurzfristig obsolet machen könne (Frewer 2015). Diese Passagen sind zwar im Redaktionsprozess vom Verlag gekürzt worden, aber dann bereits eine Dekade nach Projektbeginn und sechs Jahre nach Publikationsdatum später durchaus in ernster Weise wahr geworden. Das Buchprojekt war ambitioniert und wollte für die Zukunft in einer zeitlos-digitalen Version jeweils Ergänzungen und Aktualisierungen vornehmen. Durch den unerwartet frühen Tod eines der prominenten Herausgebenden, hat sich dies seitdem nicht realisieren lassen. Auch hier ist für die Zukunftsplanung immer eine Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu sehen.

Zurück in die Zukunft des Jahres 2021: Im rustikalen Actionfilm „Johnny Mnemonic“ (wohl als Hybrid für „Mnemo-Technik“) kämpfen Hacker im Untergrund gegen global agierende und übermächtige HighTech-Firmen. Menschen nutzen ihr Gehirn zum geheimen Schmuggeln von Daten – und verlieren dabei eigene Erinnerungen (Geschichtsverlust und Defizite der Gedenkkultur?). Die neu geladenen Daten dienen u. a. zur Produktion von Medikamenten gegen eine weltweit grassierende Erkrankung – Bezüge zur aktuellen Corona-Pandemie lassen sich leicht herstellen. Der Protagonist gerät dabei in einen tödlichen Konflikt mit der Firma „Pharmakom“, die ihn jagt, weil der Vertrieb eines – in mehrerlei Hinsicht – unterdrückenden Präparates kommerziell attraktiver ist als ein heilendes Medikament. Ökonomisierung, Macht- und Interessenkonflikte bieten hier ein breites Spektrum an in die Zukunft projizierten Gefahren der Gegenwart. Interessant ist dabei auch der vor zehn Jahren als futuristisch-fatales Szenario gestaltete Seuchen-Streifen „Contagion“. Im Februar 2021 äußerte der britische Gesundheitsminister Matt Hancock, dass dieser Film offenbar die Impfstrategie Englands inspiriert habe. In einem Interview prognostizierte er zudem, dass der größte Stress einer Pandemie im Zusammenhang mit dem Vakzinierungsprogramm nicht vor seiner Einführung liege, sondern danach, wenn es Streit um die Reihenfolge der Prioritäten gehe (vgl. u. a. die Beiträge in Reis et al. 2021).

Das neue „Zukunftsmuseum“ in Nürnberg sollte eigentlich bereits im Jahr 2020 eröffnen, bisher konnte es jedoch wegen der Einschränkungen durch die Pandemie leider noch nicht in Betrieb genommen werden. Manchmal lässt die Zukunft eben etwas auf sich warten, wobei man sich mit dem Prestige-Projekt zur Zukunft des Luftverkehrs, dem neuen Berliner Flughafen, wirklich nicht so hätte beeilen müssen, da die Pandemie nun Reisen fast zum Erliegen gebracht hat. Dabei hat in der Hauptstadt bereits nach recht kurzer Bauzeit 2019 das zentral gelegene „Futurium“ eröffnet. Das einzige Problem: Dieser Museumsbau als „Bühne und Forum für offene Fragen“ der „Zukünfte“ ist derzeit ebenfalls pandemiebedingt geschlossen. Man könnte aber alternativ sehr leicht das in der Nähe gelegene, außerordentlich spannende „Freiluft-(Kino‑)Museum“ der Charitè besichtigen – von Rudolf Virchows alter Pathologie (heute Berliner Medizinhistorisches Museum) bis hin zum Erinnerungspfad „GeDenkOrt Charitè – Wissenschaft in Verantwortung“ ein außerordentlich lohnendes Ensemble mit gleichermaßen großer Tradition wie auch Zukunft. Bei der Visite im weitläufigen Gelände sollte auf keinen Fall der „Trichinentempel“, das denkmalgeschützte Anatomische Theater der früheren Tierarzneischule, verpasst werden. Er stammt aus dem Jahr 1789 und ist damit das älteste noch erhaltene akademische Lehrgebäude in Berlin. Reflektionen zu Mensch und Tier sowie zur Natur insgesamt finden hier reizvolle Ausgangspunkte, gerade mit Blick auf Infektionsschutz und Seuchen-Prophylaxe. Historia magistra vitae – Zeitreisen in die Geschichte können wichtige Einsichten bringen. Und das imaginäre „Time Travelling“ in die Zukunft sollte uns – neben Visionärem und kreativer Offenheit – Vorsicht wie auch vor allem Demut lehren.

Die Menschlichkeit steht gerade in der Medizin auf Messers Schneide, denn das Weiterdenken von Technisierung, Digitalisierung und Ökonomisierung lässt fragen, ob der Mensch in Zukunft eher in Richtung eines Bio-Algorithmus und als kommerzialisiertes Produkt gesehen wird (Grunwald 2019). Die Balance zwischen „Real World Big Data“ zum Nutzen des Kranken und „Brave New World“ (Huxley 1932) in einer Gesundheitsdiktatur à la „Corpus delicti“ (Zeh 2009) ist eine schmale Gratwanderung (Orwell 1949; Harari 2018). Die Variation eines Klassikers – Die offene Zukunft und ihre Feinde (Popper 1957) – muss wohl auf weitere Bereiche bezogen werden. Ob es einen „moralischen Fortschritt“ gibt, wird gerade „in dunklen Zeiten“ intensiv erörtert (u. a. Gabriel 2020). Universale Werte für das 21. Jahrhundert können aber in Ethik und Menschenrechten gefunden werden – speziell für die Menschlichkeit in der Medizin (u. a. Grönemeyer 2003; Frewer und Bielefeldt 2016; Maio 2017). Landungen auf dem Mars sind interessant, aber die Gewährleistung guter Pflege und Medizin auf der Erde erscheint wichtiger.

Herzliche Einladung zur AEM-Jahrestagung „Die Zukunft der Menschlichkeit im Gesundheitswesen“ vom 22./23. bis 25. September 2021 an der Universität Erlangen-Nürnberg und im Nürnberger Zukunftsmuseum – sei es nun (hoffentlich) analog oder digital bzw. hybrid – die Fragen der Medizinethik und Menschlichkeit müssen wir im wahrsten Sinne des Wortes „in jedem Fall“ voranbringen.