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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter April 21, 2022

Die Katastrophe der asketischen Ideale in interkultureller Hinsicht. Wissenschaft, Askese und Nihilismus in GM III 27

  • Oswaldo Giacóia Junior EMAIL logo
From the journal Nietzsche-Studien

Abstract

The Catastrophe of the Ascetic Ideals from an Intercultural Perspective. Science, Asceticism and Nihilism in GM III 27. This article aims to clarify the meaning and strategic position of the parentheses on the development of philosophy in India in GM III 27. Nietzsche’s reference to the philosophical development in India reveals his intercultural considerations and helps clarify the relations between science and ascetic ideal as a moment of the historical-genealogical reconstitution of European nihilism. I argue that honest forms of atheism and science contain the core of the ascetic ideal and that the critique of nihilism is therefore inevitably self-referential. Nietzsche’s intercultural view sheds new light on important current philosophical questions such as the scope of Giorgio Agamben’s homo-sacer-project and on the prospects of non-European philosophical perspectives.

1 Die „ganze neuere Philosophie“ und die Vedanta-Tradition

Im Verlauf der Überlegungen in GM III 27 identifiziert Nietzsche den redlichen Atheismus als Charakteristikum des modernen europäischen wissenschaftlichen Gewissens mit dem Rest oder vielmehr mit dem Kern der asketischen Ideale. Mit dieser Zuordnung legt er ein wichtiges Symptom für das Aufkommen des Nihilismus als Resultat einer historischen Entwicklung bloß, in der ein unbedingter Wille zur Wahrheit zuletzt auch die Lüge eines Glaubens an Gott verbietet. In einer bemerkenswerten Parenthese setzt Nietzsche dieses welthistorische Ereignis in ein Verhältnis zur Entwicklung des Buddhismus in Indien:

(Derselbe Entwicklungsgang in Indien, in vollkommner Unabhängigkeit, und deshalb Etwas beweisend; dasselbe Ideal zum gleichen Schlusse zwingend; der entscheidende Punkt fünf Jahrhunderte vor der europäischen Zeitrechnung erreicht, mit Buddha, genauer: schon mit der Sankhyam-Philosophie, diese dann durch Buddha popularisirt und zur Religion gemacht.) (GM III 27, KSA 5.409)

Ausgehend von dieser in Klammern gesetzten Bemerkung lassen sich wesentliche Komponenten der genealogischen Rekonstruktion der Geschichte des europäischen Nihilismus durch Nietzsche erhellen, die speziell im Themenbereich Interkulturalität produktiv zur Behandlung zentraler Fragen zeitgenössischer Philosophie beitragen. Zwischen August und September 1885 skizziert Nietzsche in seinen Notizbüchern den Problemzusammenhang zwischen seiner und der indischen Philosophie. Dieser Zusammenhang ist kurios und wenig geklärt:

Was thut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie? sie macht, versteckt oder offen, ein Attentat auf den alten Seelenbegriff – das heißt auf die Grundlage des Christenthums, auf das „Ich“: sie ist antichristlich im feinsten Sinne. […] Die Möglichkeit einer Scheinexistenz des „Subjekts“ dämmert: ein Gedanke, welcher, wie in der Vedanta-Philosophie, schon einmal auf Erden dagewesen ist. Will man einen neuen wenngleich sehr vorläufigen Ausdruck dafür, so lese man <die Geburt der Tragödie> (Nachlass 1885, 40[16], KSA 11.635 f.)

Diese Bemerkung selbst ist ein Entwurf, der den Aphorismus 54 von Jenseits von Gut und Böse (1886) vorbereitet:

Seit Descartes – und zwar mehr aus Trotz gegen ihn, als auf Grund seines Vorgangs – macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten Seelen-Begriff, unter dem Anschein einer Kritik des Subjekt- und Prädikat-Begriffs – das heisst: ein Attentat auf die Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philosophie, als eine erkenntnisstheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen, antichristlich: obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs antireligiös. (JGB 54)

Ziel der Kritik des erkenntnistheoretischen Skeptizismus in der sogenannten neueren Philosophie ist das Fundament der subjekt-zentrierten Metaphysik: die Seele als Einheit des Bewusstseins und der Selbstidentität, Synonym für Intellekt, Sinn, Geist und Vernunft. Früher glaubte man an die Seele, schreibt Nietzsche, da man an die Grammatik von Subjekt und Prädikat und an das „ich“ als Bedingung des „denke“ glaubte. Grund hierfür war die Betrachtung des Denkens als einer Handlung, die, um ihrerseits verstanden zu werden, eines Subjekts bedarf und zu der ein Subjekt als Ursache hinzugedacht werden muss. Man setzte das grammatische Subjekt (Stütze der Prädikation) mit dem subjectum als ontologischem Fundament (substantia) gleich. Diese Verwendung der Begriffe „Seele“ und „Ich“ als subjectum lässt sich am Anfang der philosophischen Moderne, etwa in der zweiten der metaphysischen Meditationen von Descartes (1641), ausdrücklich nachweisen.[1] Ziel der neueren Philosophie sei es, aus dieser Denkweise herauszutreten:

Nun versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List, ob man nicht aus diesem Netze heraus könne, – ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei: „denke“ Bedingung, „Ich“ bedingt; „Ich“ also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst gemacht wird. Kant wollte im Grunde beweisen, dass vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen werden könne, – das Objekt auch nicht: die Möglichkeit einer Scheinexistenz des Subjekts, also „der Seele“, mag ihm nicht immer fremd gewesen sein, jener Gedanke, welcher als Vedanta-Philosophie schon einmal und in ungeheurer Macht auf Erden dagewesen ist. (JGB 54)

Durch die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen der zeitgenössischen Kritik der Begriffe „Seele“, „Subjekt“ und „Ich“ und der Philosophie des Vedanta bringt Nietzsche seine Überlegungen in einen Rahmen genealogischen Denkens, der die westlich-europäische Philosophiegeschichte in den erweiterten Kontext einer Kulturgeschichte oder gar einer Weltgeschichte einbindet. Im Dreh- und Angelpunkt dieser umfassenden Interpretation entdeckt Nietzsche nicht nur tradierte Linien, die auf Ursprungsreste oder -spuren zurückgreifen, sondern vor allem logische und grammatische Strukturen – ein Gerüst linguistischer Funktionen, die Denkwege vorzeichnen und induzieren. Von einer angemessenen Untersuchung dieses Baukastens an Strukturen und Funktionen verspricht sich Nietzsche eine Rekonstruktion der psychologischen Genesis des asketischen Ideals, die Geschichte seiner Herkunft und seiner unterschiedlichen Gestalten:

Kritik der menschlichen Ziele. Was wollte die antike Philosophie? Was das Christenthum? Was die Vedanta-Philosophie? Was Buddha? – Und hinter diesem Willen was steckt da? Psychologische Genesis der bisherigen Ideale: was sie eigentlich bedeuten? (Nachlass 1886/87, 7[35], KSA 12.307)

Es ist also keineswegs Zufall, dass sich Jenseits von Gut und Böse mit der philosophischen Verwandtschaft zwischen Griechenland und Indien befasst – mit einer strukturellen Analogie, die sich durch das unbewusste Wirken der gleichen grammatikalisch-logischen, d. h. aus einer gemeinsamen linguistischen Matrix abgeleiteten, Struktur auf das Denken erklären lässt. Zeitgenössische europäische und hinduistische Philosophie folgen einander entsprechenden Wegen. Diese Auffassung wiederholt sich auch in einem der wichtigsten Kontexte der Kulturkritik Nietzsches, einer Passage von strategischem Wert, nämlich im Vorwort zur Genealogie der Moral (1887). Nicht von ungefähr behandelt diese das Aufkommen des Nihilismus. An Schopenhauers philosophischer Glorifizierung des Mitleids diagnostiziert Nietzsche eine große Gefahr für die Menschheit, aber er attestiert ihr auch eine besonders relevante kulturgeschichtliche Bedeutung:

Gerade hier sah ich die grosse Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung – wohin doch? in’s Nichts? – gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen gegen das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermüthig ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen Cultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus? zum – Nihilismus? … (GM, Vorrede 5)

Wie soll man sich diesen neuen Buddhismus – einen europäischen Buddhismus – als Symptom des Nihilismus vorstellen? Warum sollte man zu seiner Interpretation das philosophische System Schopenhauers als Leitfaden heranziehen? Weil es, wie Werner Stegmaier erkennt, Schopenhauer selbst ist, der als Vertreter der Bewegung zur Vollendung des deutschen Idealismus – auf dem äußersten Punkt der Entwicklung westlicher und damit auf dem Gipfel der Kritik der subjekt-zentrierten Philosophie – die Brücke zwischen der philosophischen Tradition des Idealismus mit der Kultur des Orients bildet. Diese führt Schopenhauer vom Brahmanismus zur Philosophie des Vedanta und von dieser zum Buddhismus: „Schopenhauer hat selbst die Brücke zum Buddhismus geschlagen.“[2] In der Vorrede zur ersten Ausgabe von Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) hebt Schopenhauer die Verwandtschaft seiner Philosophie mit der hinduistischen Tradition und insbesondere mit dem Brahmanismus und dem Buddhismus hervor und weist darauf hin, dass der von Kant, Platon und dem Denken der Veden gebildete Dreifuß die beste Vorbereitung für das Verständnis seines eigenen Systems darstelle.[3] Schopenhauer bleibt jedoch trotz dieses positiven Urteils bei der Einschätzung, dass Philosophie und Religion – obgleich sie denselben Inhalt behandeln – zwei verschiedene Sphären des Wahrheitsverständnisses darstellen: In der Religion drücke sich die Wahrheit im sensus allegoricus aus, während die Philosophie ihre begriffliche Klärung fordere. Für Schopenhauer stellt die Selbstverneinung des Lebenswillens die letzte und krönende ethische Konsequenz dar, welche von Nietzsche als „Wille zum Nichts“, als Nihilismus übersetzt wird.

In beiden Fällen kommt der kulturelle Entwicklungsverlauf zu einem vergleichbaren Abschluss: Es ist ein spiritueller Prozess, der vom Brahmanismus zum Buddhismus führt und bei der die – laut Nietzsche durch Buddha populär gewordene – Samkhya-Philosophie durch eine Umdeutung der Askese und den Ausschluss einer als letztes Fundament für Religion, Moral und Metaphysik dienenden Gottheit das letzte Bindeglied bildet. Die Parallele, die Nietzsche hier zur christlichen Tradition zieht, überführt die westliche Selbstaufhebung des asketischen Ideals in einen kompromisslosen Atheismus als Grundvoraussetzung des modernen wissenschaftlichen Gewissens. Sie ist also die logische Konsequenz eines Prozesses, der zur Selbstaufhebung des Glaubens an die Heiligkeit einer als absolut verstandenen Wahrheit führt. Nietzsche sieht den Buddhismus als Symptom einer geistigen Bewegung, die sich 500 v. Chr. in Indien vollzog, wobei sich diese keinesfalls nur als Vorahnung dessen begreift, was sich erst in der westlichen Philosophie und speziell in der Philosophie des „einzigen Gedankens“ begrifflich als Wahrheit herausstellt. Mit dieser Vorstellung eines europäischen Buddhismus unterläuft Nietzsche somit Schopenhauers Interpretation des Buddhismus.

2 Die Parenthese in der Mitte von GM III 27

Im Lichte dieser Überlegungen gewinnt die von Klammern umschlossene Bemerkung in der Mitte von GM III 27 ein erhebliches philosophisches Gewicht und bedarf erhöhter hermeneutischer Aufmerksamkeit. Die genealogische Rekonstruktion zeigt, dass die spirituelle Entwicklung in Indien in einer historischen und kulturellen Erfahrung der Auflösung, d. h. im Nihilismus, mündete – analog zu einem Prozess, der sich im Europa des 19. Jahrhunderts vollziehen sollte. Wie Andrea Orsucci zu Recht feststellt, greift Nietzsche eine These auf, die bereits bei Hermann Oldenberg zu finden ist: Schon in der brahmanischen Spekulation zeigen sich die ersten Formen des Verzichts auf die Illusionen der Welt, die sich mit dem Buddha zu einer Zerstörung des alten Glaubens entwickeln.[4]

Darüber hinaus bereitet die Rekonstruktion dieses Prozesses die Antwort auf die Kernfrage der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral vor, nämlich: Was bedeuten die asketischen Ideale? Die zentrale hermeneutische Frage liegt damit auf der durch die Überlappung von Religion, Philosophie, Wissenschaft, Askese und Nihilismus gebildeten Ebene. Asketische Ideale können je nach Person oder Typus Verschiedenes beinhalten und für Künstler, Priester, Wissenschaftler, Politiker oder Philosophen unterschiedliche Bedeutung haben. „Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen“ (GM III 1).

3 Das eigentliche Problem der Bedeutung des asketischen Ideals

Was bedeutet es jedoch, das Nichts zu wollen? Die hier vertretene These ist, dass jedes Ideal – selbst das Nichts – besser ist als kein Ideal, meint dieses doch die Verwirklichung der existentiellen Sinnperspektive für das menschliche Leben. Daher stellt der menschliche Wille als Grundtatsache auch nicht nur irgendein Problem dar, sondern steht in den Worten Nietzsches für „unser Problem“ schlechthin: jenem der Bedeutung des asketischen Ideals. Dieses Problem beschränkt sich nicht auf Fragen von „Gestern und Heute“ (GM III 27), wie Nietzsche ausdrücklich insistiert, sondern es handelt sich um ein hermeneutisches Unterfangen, das Jahrtausende umspannt und eines echten Philosophen würdig ist, von dem man – als schlechtem Gewissen seiner Zeit – erwartet, dass er in der Lage wäre, seine eigene Zeit zu überwinden, „zeitlos“ zu werden. Zur Verwirklichung dieser Aufgabe muss er auch die fortgeschrittensten Erkenntnisse seiner Zeit mobilisieren. Die bedingungslose Forderung nach Wahrhaftigkeit bzw. Wahrheit bildet also eine der Variablen in der Gleichung, die unser Problem darstellt. Sie ist die Rückseite des modernen wissenschaftlichen Gewissens: seine Form der Moralität, eine Variante des Absoluten, geboren in der Opposition von Glaube und Wissen, zwischen Wissenschaft und Überzeugung, Wahrheit und Lüge, im Konflikt der Ideen, im offensichtlichen Antagonismus zwischen dem Ideal der Wissenschaften und den asketischen Idealen. Wissenschaftlichkeit, Atheismus und der Glaube an Gott sind so auf das engste verwoben.

Ein Indiz dieser engen Verbindung ist die Nachlässigkeit, mit der die zeitgenössische Wissenschaft den asketischen Idealen begegnet. Die fehlende Strenge im Umgang mit diesem Problem ist nicht nur Ausdruck fehlender Sorgfalt, sondern auch ein Beweis für den Zoll, den die moderne Wissenschaft dem asketischen Ideal schuldet. Gerade weil sie diesem Ideal untergeordnet ist, offenbart sie durch Verzerrung, Abwehr und Entstellung, was an der Geste, das Ideal kritisch zu hinterfragen – also an der Transformation des Ideals in ein Problem –, ernst und wichtig ist. Hierbei unterscheidet Nietzsche klar zwischen den wahren Repräsentanten des asketischen Ideals und ihren Nachahmern, den Komödianten:

Worauf es mir allein ankommt hier hingewiesen zu haben, ist dies: das asketische Ideal hat auch in der geistigsten Sphäre einstweilen immer nur noch Eine Art von wirklichen Feinden und Schädigern: das sind die Komödianten dieses Ideals, – denn sie wecken Misstrauen. (GM III 27, KSA 5.409)[5]

Mit der Symbolfigur der „Komödianten des Ideals“ formuliert Nietzsche eine Metapher der kulturellen Moderne, in der die Subjekte wie Schauspieler in einem Theaterstück und also als „Repräsentanten“ agieren. In einer solchen Gesellschaft des Spektakels hätte Richard Wagner die Schirmherrschaft inne, ist er doch für Nietzsche Schauspieler und Komödiant des Ideals par excellence. Wie kein anderer verkörpert Wagner die Modernität, durch ihn spricht sie in ihrer Bandbreite:

Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache: sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt: man hat beinahe eine Abrechnung über den Werth des Modernen gemacht, wenn man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im Klaren ist. (FW, Vorwort)

Sich der Bedeutung Wagners klar zu werden, ist wichtig, ist er doch der Künstler der asketischen Ideale, ihrer Inszenierung – und damit das ästhetische Pendant des schopenhauerschen metaphysischen Genies, Wagners Fleischwerdung in der geistigsten Sphäre.

Zwingend wird die Frage nach dem Sinn des asketischen Ideals in den Sphären der Kultur, d. h. in Religion, Kunst, Philosophie, Wissenschaft und Moralität. Dabei entfaltet das Problem seine gesamte Tragweite erst im Kontrast des asketischen Ideals zu seiner Karikatur durch den Komödianten. Richard Wagner und der Historizismus – das Streben der Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert nach Wissenschaftlichkeit – sind vortreffliche Erscheinungen und Beispiele einer solchen Komödie. In beiden Fällen, ebenso wie in der Philosophie Schopenhauers, finden wir das gleiche Phänomen: Durch die dynamische Macht des asketischen Ideals wird der ethische Kern der Religion vordergründig laisiert, während er zugleich versteckt, verleugnet, getarnt, sich seiner selbst nicht bewusst fortwirkt. Selbst der authentische, ernst gemeinte und redliche Atheismus ist aus dem Kern des Ideals entsprungen und stellt folglich nichts anderes als seine letzte Stufe dar. Dieser Atheismus ist somit das Erbe dessen, was durch Elemente der Askese selbst geschaffen und gefördert wurde – die finale Schlussfolgerung aus dem Ideal und seiner Katastrophe:

Überall sonst, wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke ist, entbehrt er jetzt überhaupt des Ideals – der populäre Ausdruck für diese Abstinenz ist „Atheismus“ –: abgerechnet seines Willens zur Wahrheit. Dieser Wille aber, dieser Rest von Ideal, ist, wenn man mir glauben will, jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulirung, esoterisch ganz und gar, alles Aussenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein Kern. Der unbedingte redliche Atheismus (– und seine Luft allein athmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters!) steht demgemäss nicht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein hat; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlussformen und inneren Folgerichtigkeiten, – er ist die Ehrfurchtgebietende Katastrophe einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet. (GM III 27, KSA 5.409)

Aus dieser Perspektive ist die Figur des redlichen Atheismus der Rest und der Kern asketischer Ideale, eine historische Entwicklung, deren Triebfeder die unbedingte Wahrheitsliebe ist. Es handelt sich also um eine unbedingte Hingabe an die Wahrheit, die am Ende auf eine Heiligsprechung durch die Gottesidee verzichten kann. Hier zeigt sich zugleich die Verbindung zum Buddhismus als moralisch-religiöses Resultat einer gelehrsamen, spirituellen und asketischen Tradition, die sich zuletzt den Glauben an Gott verbietet. Dies ist der thematische Kontext und Kern der genannten Parenthese im argumentativen Duktus von GM III 27. Nietzsche verweist damit auf die strukturelle Analogie – vielleicht gar Invariante – in der Entwicklungslogik der westlichen und östlichen Kultur, insbesondere der geschichtlichen Entwicklungen des Hinduismus und des Christentums, die unabhängig voneinander zu einer identischen Katastrophe führen, und zwar zur Selbstaufhebung des Ideals. Wenn jedoch die Katastrophe ein nihil als Kern der Askese zutage fördert, dann wird verständlich, warum Nietzsche die Erde als einen asketischen Himmelskörper bezeichnet. Denn der Begriff „Rest“ beinhaltet hier nicht nur Residuales, Liegengebliebenes, Ungewolltes, Schutt oder Abfall, sondern auch und vor allem einen produktiven, aktiven und positiven Aspekt von Rest im Sinne von Nukleus, Kern und Saat, von Dingen, die sich noch entwickeln, sprießen und keimen können.

Die Wiederholung der Entwicklung in der Zwangsläufigkeit ihres Verlaufs gipfelt in der Perpetuierung des Ideals und bringt Licht in die Notwendigkeit der Askese. Auch macht sie eine Konzeption des Philosophierens als Reminiszenz und Wiedererkennung möglich, wie etwa das erneute Begehen desselben Weges, eine Abfolge in gleichen Bahnen. Mögliche Philosophien sind also immer eine Rückkehr zum ursprünglichen Sitz der Seele: dem Ideal. Somit sind sie ein Atavismus erster Ordnung:

Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine Dank der unbewussten Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen – von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt (JGB 20).

Die Parallele zwischen der Philosophieentwicklung in Indien und der Geschichte der westlichen Philosophie zeigt sich bei Beachtung des erweiterten Kontexts und der Frage, was sich Nietzsche als Philologe und Genealoge der Kultur vorstellte. Einen wichtigen Hinweis hierzu bietet Anne-Marie Esnoul:

[L]a philosophie indienne classique connaît ainsi deux modes d’interprétation de la réalité. Il est d’usage de les présenter par couples: les deux Mīmāṃsā [Reflexion, kritische Untersuchung], d’abord l’ancienne (Pūrvā), purement exégèse védique, et la plus récente (Uttarā), mieux connue sous le nom de Vedānta (findu Veda) qui, de plus, examine l’opposition du relatif, ou illusion, à l’ultime réalité, ou Absolu; vient en suite Le Vaiśeṣika, sorte d’atomisme que ses catégories Du raisonnement rapprochent du Nyāya, la logique. Les deux derniers darśana sont le Yoga, ensemble de pratiques ascétiques destinées à conditionner l’expérience mystique, et Le Sāmkhya, souvent considère comme l’aspect théorique du précédente.[6]

Bei Nietzsche bringt die Frage nach der Bedeutung asketischer Ideale den Zusammenhang zwischen dem Sinn, der dem asketischen Ideal oder dem Ideal selbst innewohnt, und seiner strategischen Aufgabe ans Licht: Es ist die Befreiung vom Leid und die Überwindung des Todes. Dieser religionsethische Zweck, der im Wesentlichen auch durch eine spirituelle Bewegung angestrebt wird, entspricht in der hinduistischen Kulturgeschichte dem Aufblühen der Vedanta- und Samkhya-Philosophie. Diesbezüglich schreibt Esnoul:

Toute connaissance a, dans l’Inde de cette époque, un but pragmatique arracher l’homme à la ronde des existences, au samsāra, conception aparue avec les Upanishades et le Bouddhisme et qu’avaient ignorée les textes védiques. Il convient donc de mettre un terme aux flux sans commencement des re-naissances. C’est grâce à la connaissance des principes composant l’univers que les tenants du Sāmkya se proposent de rompre le cercle maudit.[7]

Der Zweck allen Wissens findet sich demnach im Verstehen der Natur und der Formen des Dukkha, d. h. des Leidens, sowie auf dem Weg nach Moksha, also zur Erlösung. Einer dieser Wege besteht im Wissen um den substanzlosen, immateriellen und illusorischen Charakter der individuellen Seele, des Ego – der Wurzel aller materiellen Verhaftung. Schopenhauer verweist in diesem Zusammenhang auf die Selbstverneinung des „Willens zum Leben“ als einzig möglicher Verwirklichung der Freiheit auf der Ebene des Daseins. Nach Schopenhauer bietet diese Rettung und Erlösung an und befreie von der Verdammung auf dem Rad der ewigen Wiederholung „zwischen Schmerz und Langeweile.“[8] In der Geschichte des europäischen Nihilismus zeichnet sich, so Nietzsche, eine analoge Konstellation wie in der Philosophieentwicklung in Indien ab. In dieser Konstellation nimmt die Metaphysik Schopenhauers einen strategischen Platz ein. Der schopenhauersche Begriff des „einzigen Gedankens“ steht – als Glorifizierung der Mitleidsphilosophie – als kritischer Punkt im Verlauf einer Entwicklung, während sich die asketischen Ideale als Masken des Willens zum Nichts, des Nihilismus, erweisen. Nach dieser Interpretationsperspektive zeigt sich die Vedanta-Philosophie als eine Philosophie oder Weltanschauung, die sich mit der asketischen Praxis des Yoga und einer theoretischen Linie dieser asketischen Praxis, und zwar der Samkhya-Philosophie, an die Logik anlehnt. Damit wird verständlich, weshalb Nietzsche im Ecce homo (1888) den Buddhismus weder als Religion noch als Moral behandelt, sondern als eine zu einer langen philosophischen Tradition gehörende Diätetik und medizinische Praxis.

Zu der in GM III 27 umrissenen Parallele finden wir im Antichrist (1888) in den Passagen zur buddhistischen Askese eine Bestätigung. Mit den praktischen Empfehlungen des Buddhismus verwandelt sich die Askese in therapeutische Aktivität:

Er wendet dagegen das Leben im Freien an, das Wanderleben, die Mässigung und die Wahl in der Kost; die Vorsicht gegen alle Spirituosa; die Vorsicht insgleichen gegen alle Affekte, die Galle machen, die das Blut erhitzen; keine Sorge, weder für sich, noch für Andre. Er fordert Vorstellungen, die entweder Ruhe geben oder erheitern – er erfindet Mittel, die andren sich abzugewöhnen. Er versteht die Güte, das Gütig-sein als gesundheit-fördernd. Gebet ist ausgeschlossen, ebenso wie die Askese; kein kategorischer Imperativ, kein Zwang überhaupt, selbst nicht innerhalb der Klostergemeinschaft (– man kann wieder hinaus –) (AC 20).

In nachgelassenen Fragmenten vervielfacht Nietzsche seine geistigen Experimente zur Umgestaltung und Umdeutung der Askese in Konsequenz der Selbstaufhebung der christlichen Moral. Im Gegensatz zu Schopenhauer zielt Nietzsche also auf eine Umdeutung der Askese ab bzw. auf deren Rückführung zur Natur: „Ich will auch die Asketik wieder vernatürlichen; an Stelle der Absicht auf Verneinung die Absicht auf Verstärkung; eine Gymnastik des Willens; eine Entbehrung und eingelegte Fastenzeiten jeder Art, auch im Geistigsten“ (Nachlass 1887, 9[93], KSA 12.387). Und an anderer Stelle: „Was verdorben ist durch den Mißbrauch, den die Kirche damit getrieben hat: 1) die Askese: man hat kaum noch den Muth dazu, deren natürliche Nützlichkeit, deren Unentbehrlichkeit im Dienste der Willens-Erziehung ans Licht zu ziehen“ (Nachlass 1887, 10[165], KSA 12.552). Das Fragment behandelt zudem die Umdeutungen des Fastens, der gemeinschaftlichen Lebensform in den Klöstern, der Feste und der fundamentalen Erfahrung des Todes. Das mentale Experiment der Physio-Psychologie Nietzsches spielt hier mit Modalitäten wie der Vernatürlichung der Askese und der Umdeutung von Leid und Tod.

4 Philosophieren im Schatten des extremen Nihilismus

Wie gezeigt wurde, versteht Nietzsche das Aufkommen des Nihilismus als einen unaufhaltbaren Prozess innerhalb der Kulturgeschichte, in deren epochaler Bewegung das Problem der Bedeutung des Ideals zum Vorschein tritt. Mit Entstehung des Nihilismus rückt zudem das nihil in den Fokus: der Wille zum Nichts, der die Essenz allen Ideals bilde. Das Ideal ist in all seinen Formen der metaphysische Trost für die Wunde der Existenz, die Strategie aller religionsphilosophischen Versuche, im Drama der Endlichkeit einen Sinn zu finden, eine Rechtfertigung für Leid und Tod. Es ist zugleich die Forderung nach einem Sinn des von Schmerz und Tod untrennbaren Lebens – und sei es selbst nur ein durch asketische Ideale verschleiertes Nichts. Paul van Tongeren verweist folgerichtig darauf, dass das asketische Ideal uns in jedem Ideal das asketische Element erahnen lasse. Somit wirkt die Askese an allem weiter, was wir denken, tun oder erschaffen – und demgemäß sogar an Nietzsches Kritik des asketischen Ideals selbst. Auch beziehe sich bei Nietzsche der Begriff „asketisches Ideal“ nicht nur auf einen besonderen Typ des Ideals oder des Asketismus, sondern auf die Askese, die jedem Ideal und Idealismus innewohnt.[9]

In der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral ersetzt Nietzsche den Plural durch das „asketische Ideal“ im Singular, was andeutet, dass sich die authentische Bedeutung der asketischen Ideale nicht in ihrem strictu sensu Armut, Keuschheit und Gehorsam zur Brechung des Willens erschöpft. Alles Ideal ist in seiner Essenz Askese und in seiner Konsequenz eine Abwendung vom non-sense der Welt, ein Wille zur Verneinung des Lebens und zur Überwindung des Todes, also zum nihil. Somit ist der Wille nach Nichts von Anfang an das eigentliche Fundament der Askese. Nietzsches Kritik des asketischen Ideals wird hier zur Kritik des Ideals tout court und damit auch zu einer Kritik der westlichen Philosophiegeschichte als Ganzer, die sich seit Platon auf die Ideen und das Ideal beruft. In diesem Zusammenhang steht der Name „Gott“ für Nietzsche nicht nur für eine religiöse Entität, sondern ist ein alle Sphären der Ideale verbindender Ausdruck. Gott bezeichnet das ens supremum und vereint in sich die Sphären des Guten, des Wahrhaftigen und des Schönen. Nach Nietzsche ist der Atheismus ein Angriff auf das Ideal im Namen der tatsächlichen Realität, also der Wahrheit – insbesondere weil die Idealisierung – wie jedes Ideal – eine Form der Verneinung der Realität sei, denn „aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen“ (EH, Warum ich so klug bin 10).

Nietzsche beabsichtigte, einen Teil seines geplanten Hauptwerks der Diagnose und Entstehung des Nihilismus in der Philosophiegeschichte zu widmen. Dieses Projekt wird auch in GM III 27 angekündigt:

Jene Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhange gründlicher und härter angefasst werden (unter dem Titel „Zur Geschichte des europäischen Nihilismus“; ich verweise dafür auf ein Werk, das ich vorbereite: Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwerthung aller Werthe). (GM III 27, KSA 5.408 f.)

Es ist eine Ankündigung dessen, was später in einer erweiterten Version einer genealogischen Bearbeitung der geschichtlichen, psychophysiologischen Genese des Ideals folgen sollte:

Sieht man vom asketischen Ideale ab: so hatte der Mensch, das Thier Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel; „wozu Mensch überhaupt?“ – war eine Frage ohne Antwort; der Wille für Mensch und Erde fehlte; hinter jedem grossen Menschen-Schicksal klang als Refrain ein noch grösseres „Umsonst!“ Das eben bedeutet das asketische Ideal: dass Etwas fehlte, dass eine ungeheure Lücke den Menschen umstand, – er wusste sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er litt am Probleme seines Sinns […] und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn! Es war bisher der einzige Sinn; irgendein Sinn ist besser als gar kein Sinn (GM III 28).

Der Sinn der Askese, der in der Verstrickung der Wissenschaft mit asketischen Idealen und im unbedingten Willen zur Wahrheit zum Vorschein kommt, zeigt sich als das, was eben nicht Überbleibsel ist, sondern den eigentlichen Kern und das Innerste des Ideals ausmacht. Für Nietzsche ist der moderne Atheismus weiterhin an das gleiche Ideal gebunden, wobei die Formulierung des Ideals im Atheismus sogar strikter und spiritueller sei und von Anfang bis zum Ende esoterisch. Was auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als der Sinn von Mensch und Welt und damit der Sinn aller Idealisierung der Existenz, der Sinn des Ideals als Rechtfertigung und Sinngebung, aber auch als Erlösung von Schmerz, Endlichkeit und Tod.

Aus dieser Perspektive wird das Kairos-Moment der nietzscheanischen Umwertung aller Werte hervorgehoben: Dionysos gegen den Gekreuzigten oder Dionysos/Nietzsche gegen die Triade Buddha, Sokrates und Christus wie auch ihre philosophisch-historischen Avatare. Darüber hinaus liefert die eingeklammerte Bemerkung in GM III 27 eine wertvolle Instanziierung der These, die der Genealogie der Moral zugrunde liegt: Weite Zeichenketten verschaffen Zugang zum Kern und zur Geschichte einer Sache, eines Organs, einer Sitte, einer Institution. Es handelt sich um eine Kette mit einer Mehrzahl an Sinn und Bedeutung, die der Archäo-Genealoge rekonstruieren und bewahren muss: nicht nur, um die Entstehungsbewegung, also ihr Werden, zu verstehen, sondern auch zur Betrachtung remanenter Virtualitäten. Hier beweist sich auch die Ernsthaftigkeit des echten Moralgenealogen, der sich der Aufgabe verschrieben hat, die problematische Bedeutung des asketischen Ideals zu ergründen. In Bezug auf die Vielzahl von Bedeutungen, mit denen sich Nietzsches genealogische Rekonstruktionen befassen, schreibt Andrea Orsucci:

Proprio il cristianesimo primitivo, con la sua sorprendente capacità di assimilare aspirazioni, credenze e modi di vita del circostante mondo pagano, finisce per mostrare, in molte pagine della Genealogia, non “un unico significato, bensì un’intera sintesi di ‘significati’” (II, 13). Ma anche l’antico Israele e il buddhismo sembrano sottrarsi, almeno nella prospettiva in cui vengono riletti da Nietzsche, ad una “definizione” univoca: nessun coerente dispiegamento di una tradizione compatta, ma piuttosto tortuosi processi di sedimentazione, ardui innesti tra apporti di origine ben diversa, che occorre passare in rassegna con grande cautela, senza nulla concedere a sintesi superficiali.[10]

Dieselbe „große Vorsicht“ ist erforderlich, um ein anderes komplexes Problem im Denken Nietzsches anzugehen, auf das sowohl Paul van Tongeren als auch Werner Stegmaier aufmerksam machen: die Art und Weise, wie das Ideal in der Kritik Nietzsches an den asketischen Idealen selbst weiterwirkt und so die Unmöglichkeit zeigt, den Nihilismus zumindest in diesem Sinne zu überwinden. Van Tongeren bezeichnet diese Verflechtung der Kritik mit dem Ideal als „Selbstreferenz“ und ist der Überzeugung, dass diese in GM III 27 verdeutlicht wird:

In his critique of ideals he is dependent on … an ideal once again, even if it is the one that he is still searching for. Nietzsche’s critique of nihilism repeats the criticized structures, but does not do so naively. It expressly demonstrates how this critique necessarily gets entangled in these idealist structures, and concludes that the recognition of this inevitability is a point beyond which one cannot get any further: “what meaning would our whole being possess if it were not this, that in us the will to truth becomes conscious of itself as a problem?” (GM III 27)[11]

Es handelt sich um eine selbstbezügliche Kritik, die kein logischer Mangel, sondern ein unvermeidliches Ergebnis des Aufkommens des europäischen Nihilismus ist. Die intellektuelle Redlichkeit des modernen wissenschaftlichen Gewissens – also das, was vom asketischen Ideal übrigbleibt – markiert den Unterschied zwischen den Philosophen der Zukunft und den Komödianten des Ideals. Die intellektuelle Redlichkeit bietet dem, der kein Schauspieler der Askese ist, weder eine Vermeidungsstrategie noch die Möglichkeit der Überwindung, weil der Rest des asketischen Ideals noch dessen Quintessenz in sich bewahrt. Betrachtet man das Problem in Bezug auf die Selbstreferenzialität, ist der Nihilismus vielleicht unausweichlich; die Selbstaufhebung des asketischen Ideals hätte in all ihren Formen keine Überwindung ohne Reste des Nihilismus zum Ergebnis:

Der Schluss auf die Selbstaufhebung des asketischen Ideals als solcher bringt, darüber ist sich Nietzsche im Klaren, nicht schon die Lösung aus der Lebensform, die es in Jahrtausenden herangebildet hat. Nietzsche kann nach allem, was er über die tiefe Verwurzelung und Eingebundenheit des Denkens in Lebensformen gesagt hat, nicht erwarten, dass intellektuelle Einsichten mit einem Mal die Lebensform des asketischen Ideals verändern. Er rechnet vielmehr mit langen Zeiträumen, in denen auch seine Einsicht erst wirken, sich erst durchsetzen muss, und angesichts der bisherigen Geschichte der Moral, wie er sie sehen gelernt hat, wird sich dies kaum durch bloße Aufklärung, sondern viel eher durch katastrophale moralische Einbrüche und Umbrüche vollziehen.[12]

Stegmaier verweist auf die Persistenz einer Variante des Nihilismus, die im Kontext ihrer möglichen Überwindung oder Selbstaufhebung noch radikaler ist als die in Nietzsches Werken und posthum erschienenen Fragmenten. Die von Nietzsche so bezeichnete Logik der Katastrophe, die Selbstaufhebung des der christlichen Moralität inhärenten Nihilismus, zieht einen unüberwindbaren basalen Nihilismus nach sich, mit dem wir leben müssen. Es handelt sich hierbei um die Figur des nihilistischen Nichts, das sich im Bewusstsein der nicht bezwingbaren Selbstreferenzialität der Philosophie des Nihilismus ausdrückt. Die kritische genealogische Arbeit selbst vollzieht sich im Bewusstsein des nihilistischen Charakters der Aufgabe, die Entstehungsgeschichte des Nihilismus zu rekonstruieren.

Nietzsche hat das nihilistische Nichts, nach dem es mit allem absoluten Halt, an den sich Philosophen und Theologen bisher halten zu können geglaubt hatten, nichts ist, eher im Hintergrund seines Werks gelassen und mehr in seinen Notaten von ihm gesprochen. Denn von diesem Nichts kann man konsequenterweise gar nicht sprechen. Zu Beginn eines seiner letzten Werke, der Götzen-Dämmerung von 1888, kann man lesen: „Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich weiss …“ (GD, Sprüche und Pfeile 2). Das Wort „weiss“ ist hervorgehoben, danach folgen Auslassungspunkte. Mut braucht man, wo Angst aufkommt. Nietzsche brauchte seinerseits lange, um den Satz auszusprechen und mitzuteilen. Zuletzt hatte er für sich notiert, was er zu wissen glaubte: dass er „von Grund aus bisher Nihilist“ gewesen sei, sich das aber lange nicht eingestehen konnte. Aber gerade die Aufgabe, den Nihilismus aufzudecken, habe ihn selbst vor der völligen Haltlosigkeit bewahrt.[13]

Wir begegnen hier einem Nihilismus, den Nietzsche erlebt und in dem er sich selbst verstrickt oder verfangen hätte und der ein Nachlass für zukünftige Generationen, also für uns, ist. Diese Gestalt des Nihilismus bezieht sich auf die Notwendigkeit des Ideals. Das Ideal liefert einen Sinn für die menschliche Existenz. In dem von Stegmaier zitierten Nachlassfragment heißt es:

Zur Genesis des Nihilisten. Man hat nur spät den Muth zu dem, was man eigentlich weiß. Daß ich von Grund aus bisher Nihilist gewesen bin, das habe ich mir erst seit Kurzem eingestanden: die Energie, die Nonchalance, mit der ich als Nihilist vorwärts gieng, täuschte mich über diese Grundthatsache. Wenn man einem Ziele entgegengeht, so scheint es unmöglich, daß „die Ziellosigkeit an sich“ unser Glaubensgrundsatz ist. (Nachlass 1887, 9[123], KSA 12.407 f.)

Diese Variante des Nihilismus enthält das Resultat, das sich mit Nietzsche die Logik der Katastrophe nennen lässt. In einer Passage des fünften Buches der Fröhlichen Wissenschaft (1882–1887) – ein Buch, das er gemeinsam mit den Vorreden für die zweite Edition seiner Werke 1886 schrieb – lesen wir:

wir lachen schon, wenn wir „Mensch und Welt“ nebeneinander gestellt finden, getrennt durch die sublime Anmaassung des Wörtchens „und“! Wie aber? Haben wir nicht eben damit, als Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung des Menschen gemacht? Und also auch im Pessimismus, in der Verachtung des uns erkennbaren Daseins? Sind wir nicht eben damit dem Argwohne eines Gegensatzes verfallen, eines Gegensatzes der Welt, in der wir bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren – um deren willen wir vielleicht zu leben aushielten –, und einer andren Welt, die wir selber sind: einem unerbittlichen, gründlichen, untersten Argwohn über uns selbst, der uns Europäer immer mehr, immer schlimmer in Gewalt bekommt und leicht die kommenden Geschlechter vor das furchtbare Entweder-Oder stellen könnte: „entweder schafft eure Verehrungen ab oder – euch selbst!“ Das Letztere wäre der Nihilismus; aber wäre nicht auch das Erstere – der Nihilismus? – Dies ist unser Fragezeichen. (FW 346)

Wie Paul van Tongeren erkennt, ist Nietzsches Kritik des asketischen Ideals eine Kritik der Philosophiegeschichte im Allgemeinen und zugleich eine Kritik der Kultur, die unvermeidbar auch seine eigene Genealogie betrifft. Es handelt sich also um eine Selbstreferenzialität, die nichts mit einem Defizit in der Logik des Gedankens zu tun hat, sondern vielmehr den Schleier vom europäischen Nihilismus hebt, oder gar vom Schicksal der Philosophie selbst. In dieser Einsicht lassen sich auch Paradoxie und Ambiguität erkennen: Das Leben mit dem Nihilismus ist womöglich ein Hinweis auf erlangte Macht, auf jene Kraft, die sich genau als die Möglichkeit entpuppt, der Versuchung der Nostalgie des Absoluten zu widerstehen.

In einem solchen Zusammenhang ist es notwendig, mit äußerster Klarheit und Raffinesse vorzugehen und zu unterscheiden. Im Schatten des Nihilismus ist mehr denn je die Kunst der Interpretation vonnöten. Um zu neuen Erkenntnissen und zu einem tieferen Verständnis zu gelangen, muss an der Fähigkeit zur Entwirrung und Entschlüsselung von Rätseln festgehalten werden. Mehr denn je darf man sich nicht durch die Zeichen der Zeit verwirren lassen, sondern muss sich von den engen Perspektiven eines voreiligen Manichäismus befreien. Um sich gegenüber einem Nihilismus, der seine extremste Gestalt annimmt, bewusst positionieren zu können, ist es notwendig, die Perspektive eines sinn- und wertlosen Lebens bejahend und ohne Ausflüchte einzunehmen. Hierin wird das Zeichen der erreichten Macht liegen: fähig zu sein, absolute Überzeugungen und unbedingte Werte ohne Ressentiment aufzugeben. Aus dieser Perspektive heraus schlage ich im Folgenden zwei Schlussfolgerungen vor.

5 Perspektivismus, Politik und Interkulturalität

Erste Folgerung: Für das philosophische Denken unserer Tage kann die unnachgiebige Klarheit, mit der sich Nietzsche in das Wesen des extremen Nihilismus versetzt, große Beiträge leisten. Solche Beiträge sind umso wichtiger, als die Werte, Prinzipien und Institutionen, auf denen moderne Gesellschaften basieren, einer fortschreitenden Abnutzung und einem irreversiblen Verlust ihrer Legitimität unterliegen. Dieser Prozess prägt das postmoderne politische und soziokulturelle Szenario der Gegenwart und ist gekennzeichnet durch die Ausschöpfung aller politischen Handlungsmöglichkeiten, durch Desorientierung auf allen Lebensebenen und durch die Erosion des Terrains, auf dem die bisherigen Lebensformen basieren.

Es handelt sich um eine Situation der Konfusion, in der sich eine trennscharfe Unterscheidung zwischen richtig und falsch, Wahrheit und Lüge, Normalität und Ausnahme als äußerst schwierig erweist. Es scheint, als hätte Nietzsche mit seiner Geschichte des europäischen Nihilismus die Zustände unserer heutigen Zeit vorausgesagt. Die ethischen, sozio-politischen und kulturellen Krisen der postmodernen Gesellschaften sind als Phänomene eines unvollständigen Nihilismus zu begreifen. Sie sind Resultat vergeblicher Versuche, dem Nihilismus ohne Umwertung der nihilistischen Werte zu entgehen. Daraus ergibt sich eine Situation, in der nur das Gegenteil der angestrebten Ziele erreicht werden kann und das Problem des Nihilismus noch verschärft wird.[14]

Nach Nietzsche müsste das notwendige Resultat aus den bisherigen Werten jedoch ein vollkommener Nihilismus sein. Nietzsche lehnt vehement jegliche Anpassung, vermittelnde Kunstgriffe sowie Vermeidungsstrategien auf Grund der destabilisierenden Konsequenzen ab, die das Aufkommen des Nihilismus mit sich bringt. Krisen sind Phasen der Instabilität, des Übergangs und Untergangs, in denen verbindliche ethische Werte ausgehöhlt, vermischt und vertauscht werden. Falls sie bestehen bleiben, dann nur im Zeichen der Agonie und des Verfalls – und einhergehend mit dem Verlust ihrer Argumentations- oder Bezugsbasis.

Damit können wir bei Nietzsche wichtige Hilfsmittel für das Verständnis solcher Phänomene finden, mit der sich die Archäo-Genealogie in der Politik moderner westlicher Gesellschaften – wie beispielsweise das homo-sacer-Projekt von Giorgio Agamben – beschäftigt. So können wir die politische Philosophie Agambens in einen kulturgeschichtlichen Horizont setzen, der bereits durch Nietzsches Rekonstitution der Geschichte des europäischen Nihilismus umrissen wird. Dies gelingt aufgrund persönlicher Tendenzen bzw. Sichtweisen, die sich bei beiden Denkern finden wie etwa die Stellung und Rolle des Rechts bei der Entstehung politischer Gesellschaften und die strategische Relevanz der Literatur als Diagnosewerkzeug. Bei Agamben spielt, wie Ausnahmezustand (2003) verdeutlicht, insbesondere die Literatur Kafkas und die Rolle der Beziehung von Mensch und Gesetz eine zentrale Rolle und bildet zugleich den Interpretationsschlüssel für die Diagnose der politischen Moderne.

Mit Figuren und Begriffen wie „Homo sacer“, „bloßes Leben“, „Bann“ und „Ausnahmezustand“ bemüht sich Agamben, die Mysterien der vorväterlichen Bande vom Souverän bis hin zum Leben in der europäischen Moderne zu erhellen. Die dem Ausnahmezustand fehlende Unterscheidung von Faktizität und Geltung dient exemplarisch als hermeneutisches Diagnosewerkzeug der philosophischen und rechtspolitischen Probleme der Gegenwart, denn confusio/onis, abgeleitet von confundere, bedeutet ursprünglich mischen, also die Vermengung zweier verschiedener Einheiten zu einem Element.

Agamben zieht Kafkas Literatur – genauer Walter Benjamins Interpretation zu Status und Funktion des Gesetzes in Kafkas Werk – als Allegorie und Schlüsselprinzip zur Dechiffrierung der politischen Realität unserer heutigen Gesellschaften heran. Für Agamben entwirft Kafka in seiner Literatur das ideale Abbild einer Situation, in der das Gesetz alle Schranken hinter sich lässt und mit dem Leben identisch wird, obschon es das Leben eigentlich interpretieren sollte, indem es ihm einen gesetzmäßigen, geordneten und geregelten Sinn gibt.

In diesem Zustand des Durcheinanders wird die Anwendung des Gesetzes selbst zur Tatsache. Infolgedessen unterscheidet sich diese nicht mehr von einer Überschreitung des Gesetzes, verwandelt sie sich doch nicht durch ihre Tatsächlichkeit in einen Rechtsakt, sondern durch die Dimension des Rechtsverständnisses oder der gesetzlichen Bedeutung, die sie annimmt, wenn sie mit der Norm in ein Verhältnis gesetzt wird. Unter diesem Gesichtspunkt wird die kulturelle und politische Moderne, so Agamben, als eine anomale und widersprüchliche Verschmelzung gegensätzlicher Qualitäten aufgefasst, bei der Antinomien nicht aufgehoben oder abgeschafft, sondern aufrechterhalten, konserviert und gefördert werden.

Die typisch kafkaeske confusio von Recht und Tatsache, Sollen und Sein, schafft eine als Sumpfdasein bezeichnete Lebensform. Gefangen im Netz des Dilemmas irren die Beteiligten durch einen erschreckenden und düsteren Raum fehlender Unterscheidbarkeit. Ohne eindeutige Differenz zwischen Sein und Sinn entsteht eine Zone der Trübung und Opazität, in der alles ineinander verschwimmt. Alle sind zugleich Henker und Opfer, Ankläger und Angeklagte, Verurteilte und Verurteilende, unfähig, zwischen Recht und Unrecht, Tugend und Laster, Wahrheit oder Unwahrheit zu unterscheiden:

In Ausnahmezustand beschreibt Agamben die zwei für ihn bedeutsamen Aspekte von Kafkas Werk: die kritische Diagnose des Weltzustands und die darin enthaltenen Spuren einer rettenden Umkehr dieser Verhältnisse. Zum einen findet er in dessen Werk die „genaueste Darstellung des Lebens im Ausnahmezustand vor“, zum anderen „sind Kafkas Figuren, so Agamben, deshalb für uns interessant, weil sie, jede mit einer eigenen Strategie“, versuchen, diese „gespenstische Form des Rechts im Ausnahmezustand“ zu deaktivieren (A, 77). Der „Ausnahmezustand“ ist eine Situation, in der ein mächtiger Souverän die bestehenden Gesetze aufgehoben hat und stattdessen seine eigene Macht und Herrschaft auf jeden Aspekt des Lebens seiner Untertanen ausdehnt, indem er ihnen seine Ordnung aufzwingt. Während der vom Souverän ausgerufene Ausnahmezustand jeden Bereich des Lebens durchdringt und den ganzen Planeten einem willkürlichen und repressiven Gesetz unterwirft, soll die messianische Umkehr dieser Situation das Gesetz abschaffen und das Leben in eine neue Freiheit entlassen. Erst wenn das Leben das Gesetz in der Weise in sich aufgenommen hat, dass es dieses aufhebt, anstatt es über das Leben herrschen zu lassen – ein Vorgang der einer endgültigen Erfüllung und daraus erfolgenden Abschaffung des Gesetzes entsprechen würde –, wird Agamben zufolge die Menschheit erlöst.[15]

Auch Nietzsche verweist in seinem Konzept des europäischen Nihilismus auf einen Zustand mangelnder Differenzierung und der confusio. Die wichtigste dieser Zukunftsprognosen liegt in der Proklamation des Todes Gottes: die Erkenntnis, dass „Alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war“ (FW 343), und also das Aufkommen des Nihilismus den Einsturz der Ideale, ein Zeitalter der Beliebigkeit, eine Trübung der Urteilsfähigkeit sowie einen Verlust des Sinns und der Desorientierung mit sich bringe. Untersucht man die korrespondierenden Inhalte in den Werken Nietzsches und Agambens, so scheint mir, dass wir eine bedeutende Analogie finden können:

What, after all, is the structure of the sovereign ban if not that of a law that is in force but does not signify? Everywhere on earth men live today in the ban of a law and a tradition that are maintained solely as the “zero point” of their own content, and that include men within them in the form of a pure relation of abandonment. All societies and all cultures today (it does not matter whether they are democratic or totalitarian, conservative or progressive) have entered into a legitimation crisis in which law (we mean by this term the entire text of tradition in its regulative form, whether the Jewish Torah or the Islamic Shariah, Christian dogma or the profane nomos) is in force as the pure “Nothing of Revelation.” But this is precisely the structure of the sovereign relation, and the nihilism in which we are living is, from this perspective, nothing other than the coming to light of this relation as such.[16]

Auch für Nietzsche war dies unser Grenzproblem, bei dem sich der Philosoph letztendlich fragte, ob wir uns in und mit diesem Problem nicht in einem permanenten Zustand der Auflösung befänden, gefangen in einem Paradoxon, einem Begehren, das nicht mehr erfüllbar ist, da wir nicht mehr an das, was wir begehren, glauben können. Eine Kritik des Ideals, eines jeden Ideals, führt uns zur Kritik aufgrund dieses Ideals selbst. Dieser Antagonismus, dass wir das, was wir erkennen, nicht schätzen und gleichzeitig nicht mehr an das glauben, was wir uns vorlügen möchten, ist, so schreibt Nietzsche, genau das, was den Auflösungsprozess in Gang bringt.[17]

Mit der Philosophie Nietzsches wird in ihrer genealogischen Rekonstruktion des europäischen Nihilismus eine gedankliche Sphäre geschaffen, in der wir ein Werk wie das Agambens einsetzen und verorten können. Nicht zufällig ist es ein Werk, das versucht, die Grenzen einer neuen Ethik zu umreißen – einer Ethik des Zeugnisses, für die der Begriff des „Restes“ eine zentrale Rolle spielt.[18]

Als zweite Folgerung ergibt sich, dass das Gebot der Wahrhaftigkeit – verstanden als Tugend des modernen wissenschaftlichen Bewusstseins schlechthin – von Nietzsches Perspektivismus als entscheidender Punkt im Aufkommen des europäischen Nihilismus verstanden wird, wobei diese Interpretation in nicht geringem Maße das Verständnis des Begriffs „Europa“ beeinflusst. Europa (oder was man so nennt) gilt als der Raum, in dem die Philosophie (oder was man in Europa so nennt) entstanden ist und sich ausgebildet hat, in und von dem sie geprägt wurde. Es ist nicht nur ein geografischer Raum, sondern ein Kulturraum, in dem sich das jüdisch-griechisch-christliche Erbe verbreitete, ohne dabei andere Einflüsse auszuschließen. Europa ist, gemessen an der Dauer anderer sogenannter Hochkulturen, wie beispielweise der ägyptischen oder chinesischen, vergleichsweise jung. Die rasche Entwicklung Europas ist auch auf seine Fähigkeit zurückzuführen, Fremdes zu integrieren und dadurch sein eigenes Erbe immer neu zu bestimmen. Nach Nietzsche zeichnet sich Europa durch die „Fähigkeit zur beständigen Verwandelung“ aus (FW 24).[19]

Europa bezeichnet demnach weder einen physischen Raum noch eine geopolitisch festlegbare Region, sondern ist ein kultureller Begriff. Mit dem Perspektivismus macht sich die disruptive Kraft der Kritik Nietzsches also auch daran, es mit der bis dato unangefochtenen Übereinstimmung von Philosophie mit Europa, von griechisch-westeuropäischer Philosophie mit der menschlichen Vernunft aufzunehmen. Zeigt eine kritische Reflexion doch, dass die westliche Philosophie und die in ihr vorherrschende logische Rationalität aufgrund ihrer eigenen Normen eine Betrachtungsweise ist, die in ihrem Denken nach universellen Leitlinien, Möglichkeiten und Bedingungen für das Dasein in der Welt sucht.

Europa ist in der Philosophie Nietzsches eine eingenommene Perspektive, in der eine Vielzahl von Perspektiven miteinander verwoben sind und eine Einheit bilden. Diese Betrachtungsweisen, die durch die spezifische Geschichte und Tradition der einzelnen Staaten geprägt werden, bilden gemeinsam eine Meta-Perspektive, die Europa zu Europa macht. Europa bezeichnet somit sowohl eine Perspektive der Welt als auch eine Welt an Perspektiven, d. h. ein perspektivistisches Universum. Diese Meta-Perspektive kann, im Bewusstsein ihrer Abgrenzung, nur durch die Erkenntnis ihrer Besonderheiten hervortreten. Nur von einem anderen Bezugspunkt aus, der seinerseits nur aus einer ihm eigenen Perspektive erkannt werden kann, kann eine solche Perspektivierung verwirklicht werden.

Nietzsches Perspektivismus verlangt nach Antworten und lässt vielleicht auch eine neue Aufgabe der Philosophie abseits des Nihilismus durchscheinen. Mit dem Perspektivismus eröffnet sich ein nicht umkehrbarer Horizont der Interkulturalität, der uns nicht nur eine Auseinandersetzung mit interkultureller Philosophie ermöglicht, sondern auch eine Philosophie der Interkulturalität. Er bietet neue Chancen hinsichtlich des ewigen Strebens nach Allgemeingültigkeit, das tief in der westeuropäischen Kultur verankert ist, und eröffnet Möglichkeiten für die Umsetzung der der Philosophie eigenen Verpflichtung zu Wahrheit und Objektivität. Die Universalität identifiziert sich als unverzichtbare Forderung der Vernunft, jedoch nicht mehr in ihrer traditionellen eurozentrischen Formulierung, sondern als ein gerechtfertigter Anspruch: möglich einzig im Dialog zwischen der Pluralität von Kultur- und Geschichtswelten und auf Basis unterschiedlicher Elemente, die durch die Erfahrungen dieser Welten als Formen authentischen menschlichen Lebens angeboten werden:

Gibt es ein „Gespräch der Kulturwelten“, in der ihre Differenz als gegenseitig fruchtbare Herausforderung erlebt wird, in der erst aus der Begegnung der recht eigentliche „Weltcharakter“ dieser Welten entdeckt und gefördert werden kann? Haben nicht die großen Weltkulturen gerade dadurch, dass sie, jede auf ihre Weise, eigene und auch unvergleichliche Grundmöglichkeiten für die ganze Menschheit bereitstellen, das Recht, hierin ungeteilte Unterstützung zu erfahren? Und dies keineswegs vor dem Hintergrund folkloristischer Selbstdarstellungen oder gar kulturell-gesellschaftlicher Hybridbildungen, sondern aufgrund ihres engagierten Beitrags, den sie für die Menschheit im Ganzen und damit für ein größeres und entwickelteres Humanum leisten oder zu leisten sich anschicken? Kann auf all dies ernsthaft verzichtet werden, oder ist nicht vielmehr ein Bewusstwerden dieser Konstellation und das gegenseitige Herausarbeiten der Kulturwelten als „Welten“ die Bedingung auch dafür, Erscheinungsformen wie Fremdfeindlichkeit, Ausländerhass, Immigrations- und Integrationsprobleme sinnvoll und prospektiv begegnen zu können? Kulturelle Assimilation bleibt da ebenso stumpf, unrealistisch und in der Konsequenz inhuman wie die Vorstellungen multikultureller Gesellschaften.[20]

Dieses Szenario zeichnet sich sehr deutlich und mit besonderer Prägnanz im heutigen Brasilien ab, wo aktuell eine hitzige und heftige Debatte darüber stattfindet, was es eigentlich bedeutet, in Brasilien Philosophie zu betreiben. Gibt es eine Philosophie Brasiliens beziehungsweise eine authentisch brasilianische Philosophie? Oder gibt es nur ein Philosophieren in Brasilien, eine gelehrte Wiederholung und akademische Nachahmung der angloamerikanischen und westeuropäischen Philosophie? Hat die Philosophie eine eigene Geschichte in Brasilien? Wenn es in dieser Debatte einen Sinn gibt, so ist dieser im Rahmen einer historischen Transformation zu finden, in der Nietzsches Perspektivismus und sein Bezug zum Thema der Interkulturalität eine Schlüsselrolle spielen können. Ich beziehe mich hierbei speziell auf ein Ereignis, das in Form eines Buches mit dem Titel La Chute du Ciel. Paroles d’un Chaman Yanomami (2010) zum Brennpunkt wurde.[21] Das schriftstellerische Werk ist das Resultat einer langen, interkulturellen Freundschaft zwischen dem französischen Anthropologen Bruce Albert und dem Yanomami-Schamanen Davi Kopenawa, einem Ureinwohner des brasilianischen Amazonaswaldes. Neben La Chute du Ciel illustrieren insbesondere die Veröffentlichungen des brasilianischen Anthropologen Eduardo Viveiros de Castro wie etwa A Inconstância da Alma Selvagem (2020)[22] oder Métaphysiques Cannibales (2009)[23] die Möglichkeit eines indigenen Perspektivismus im brasilianischen Amazonas und zeigen, dass dieser sich auf dem Feld der interkulturellen Philosophie für einen tiefgründigen Dialog mit der Philosophie Nietzsches eignet. Durch eine anerkannte und bestätigte Andersheit können thematische Variationen und Invarianzen, Perspektivismus, Multikulturalismus oder gar Multinaturalismus kritisch hinterfragt, aber auch und vor allem andere Sichtweisen auf Leben und Existenz, Erfahrungstypen und Denkhorizonte erschlossen werden. Erst die Konfrontation mit und der Dialog zwischen verschiedenen Kulturwelten ermöglichen die kritisch-philosophische Auseinandersetzung – und machen diese notwendig.

Die kulturelle Vielfalt induziert und fördert den wechselseitigen Dialog verschiedener philosophischer Denktraditionen. Im Austausch und in der Auseinandersetzung erscheint jede kulturelle Welt als symbolischer und existentieller Bereich, in dem die vielfältigen, unterschiedlichen und sich verändernden Gebilde entstehen, die wir Lebenswelten nennen – mit ihren eigenen Organisationsformen, den ihnen innewohnenden Kräften der Transformation und Entwicklung: die Welt verstanden als οἶκος, als menschliches Bewohnen der Erde und deshalb in einem weiteren Sinne auch als λόγος, als apophantischer Raum des Verbs, der Rede, des Denkens und des menschlichen Geschehens in seiner kulturellen, ethischen und politischen Dimension.

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Published Online: 2022-04-21
Published in Print: 2022-11-30

© 2022 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

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