Zusammenfassung
Die Frage nach der Gerechtigkeit im Gesundheitswesen wird aus der Perspektive einer allgemeinen Theorie der Gerechtigkeit betrachtet. Diese Theorie ist ein Befähigungsansatz, der zwischen 1) der Grundversorgung aller Bürger mit Grundbefähigungen, 2) einem gerechten Anteil an den Früchten gesellschaftlicher Kooperation und 3) individuell erstrebten Gütern und Leistungen differenziert. Die Anwendung dieser Theorie reagiert auf charakteristische Probleme der Allokation im Gesundheitssektor: den prinzipiell ungedeckten Bedarf, die mangelnde Zurechenbarkeit des Bedarfes und die asymmetrische Informationsstruktur zwischen Patienten und Leistungserbringern.
Abstract
Definition of the problem: Health care economics pose typical allocation problems, such as unlimited demand, limited accountability for demands and informational asymmetry.
Arguments: According to the capability approach the basic capabilities of cooperative citizens are defined and a modus for fair distribution of the fruits of social cooperation is suggested.
Conclusion: Health care economics should provide basic capabilities first, politically valued capabilities thereafter and leave merely individually desired services to individual funding.
Notes
Die klassische Unterscheidung von Engelhardt in Mikro- und Makroallokation jeweils oberer und unterer Ebene wird hier auf zwei überspannende Fragen nach Gerechtigkeit der Ressourcenzuteilung überführt (s. unten). Ziel des vorliegenden Textes ist es, Kriterien zu finden, die auf allen Ebenen anwendbar sind, um so eine Entscheidungsverschiebung von Ebene zu Ebene zu verhindern (s. [6, 18]).
Für den bundesdeutschen Fall trifft dies vornehmlich den Bereich der verschreibungspflichtigen Mittel und Therapien. Diejenigen Medikamente, die im Rahmen der Selbstmedikation und Laienmedizin rezeptfrei oder apothekenfrei verkauft werden, können der Entscheidungskompetenz der normalen Marktteilnehmer anvertraut werden.
Die Entscheidung, diese Gerechtigkeitserwägungen nur gesellschaftsintern anzustellen, wird sich im Folgenden aus der Wahl der Gerechtigkeitstheorie erhellen.
Vergleiche SGB § 12: „(1) Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein.“
Der Befähigungsansatz ist auf der Ebene der moralischen Regeln ein Konsequenzialismus; auf der Ebene der Moralbegründung handelt es sich um einen Kontraktualismus. Grundbefähigungen sind die Bedingung der Zustimmungsfähigkeit zu einer staatlichen Struktur (vgl. [10]).
Diese betrifft natürlich nicht die Möglichkeit von privaten Versicherungsunternehmen, Risikosportler, Raucher, Alkoholiker und andere Gruppen mit höheren Beiträgen zu belasten, solange sie keine staatliche Unterstützung dafür finden.
Eine interessante Diskussion des Einflusses umfangreicher distributiver Vorgaben auf den politischen Prozess findet sich bei Kersting [12]. Ihm geht es allerdings nicht um den konkreten Fall des Gesundheitswesens.
Entwürfe zu alternativen Wegen zu politischer, aber auch kultureller Partizipation weist schon Barber 1985 auf [1].
Zur Position Sterbender in der Anerkennungsgemeinschaft von Personen vgl. Sturma ([23], S. 19 f.).
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Heinrichs, JH. Grundbefähigungsgleichheit im Gesundheitswesen. Ethik Med 17, 90–102 (2005). https://doi.org/10.1007/s00481-005-0368-8
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