I.

Das Konzept »Geistesgeschichte« ist ein Verfallsprodukt. Es entstand aus dem Scheitern der klassischen deutschen Philosophie. Weil es diese Bürde nicht begriff, verzerrte es die Geschichte und wurde zur Ideologie. Zugleich aber birgt das Konzept ein Versprechen. Es lautet auf den Überstieg des geschichtlichen Immanenzzusammenhanges in die Transzendenz des Geistes. Dieses Versprechen gilt es freizulegen und anderwärts einzulösen.

II.

Die klassische deutsche Philosophie hatte die Geschichte unter dem Gesichtspunkt einer Verwirklichung der Vernunft gedeutet.Footnote 1 Zwar lassen sich Herders Humanitätsgeschichte, Kants Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Fichtes Zeitalterdenken, Schellings Weltalterlehre oder Hegels Geschichtsphilosophie nicht über einen Kamm scheren. Aber in dem Punkt treffen sie sich: Geschichte ist ihnen nicht nur eine Abfolge von Handlungen und Ereignissen, vielmehr läßt sie den Weg erkennen, auf dem Bildung der Vernunft erfolgte. Und da jene Entwürfe auch selber vernünftige Gestalten waren, vollzogen sie die Selbsterkenntnis der historisch gebildeten Vernunft. Entsprechend stellten sie – die einen stillschweigend, die anderen ausdrücklich – Abschlußgedanken der Geschichtsprozesse dar.

Diesen selbstbezüglichen Gesamtzusammenhang der Geschichte nannte Hegel »Geist«.Footnote 2 Hierin klingt einerseits die antike Geistphilosophie an. Nach Platons Bericht hatte Anaxagoras den Geist (Nous) als das Ordnungsprinzip dessen, was ist, eingeführt, und auch Platon selber machte ihn für die Einsicht in die Ideen und ihre Verhältnisse geltend, ohne die die Dinge sich nicht in ihrem wahren Anblick zeigten.Footnote 3 Anderseits verweist der Name »Geist« auf den Heiligen Geist der christlichen Botschaft. Sie verkündet, daß der Buchstabe töte, der Geist hingegen lebendig mache, und sie sieht die Gemeinde der Gläubigen so sehr vom Geist vereinigt, daß dessen Feuer alles Trennende überwinde.Footnote 4 Beides – der Geist als Ordnungsprinzip und der Geist als verlebendigende Einheit – kennzeichnet das Geschichtsverständnis, das in allen Varianten der klassischen deutschen Philosophie am Werke ist und das Hegel auf den Punkt brachte. Sein Programm: den toten Buchstaben historischer Sachverhalte im Blick auf den lebendigen Geist eines Prinzips zu entziffern.

Mit einer solchen Entzifferung sind drei entscheidende Dinge verbunden. Erstens holt sie das Gegebene aus seiner Gegebenheit heraus. Was als Fakt und Tatbestand als historisches Positum dazustehen scheint, entpuppt sich als Vollzugsmoment eines größeren Zusammenhanges, der es verflüssigt. Jetzt treten Verweise, Verknüpfungen, Verstrickungen in den Vordergrund. Nichts ist einfach nur hinzunehmen, alles ist auf etwas anderes zu beziehen, aus dem es erst erhellt. Und dadurch findet es seinen Grund in der lebendigen Einheit der Geschichte – eben in deren Geist. Das Gegebene wird zu einem Geistigen. Der Geist der Geschichte führt zum Antipositivismus.

Zweitens vermag durch jene Entzifferung die prinzipielle Vernunft auch in den Sachverhalten erkannt werden, die unvernünftig scheinen. Hierbei wird die Unvernunft – konkret: das Leid – in der Geschichte nicht weggewischt. Aber es behält nicht das letzte Wort. Zwar bleiben, für sich genommen, historische Ereignisse unvernünftig. Doch im Gesamtzusammenhang lassen sie die Spur der Vernunft erkennen, »die Rose im Kreuz«, wie Hegel in Anspielung auf Luthers Emblem wie auf die Rosenkreuzer sagte.Footnote 5 Auf diese Weise kann der Schrecken in der Geschichte sogar selber eine vernünftige Bedeutung erlangen: das Verdienst, als Negativität zur Bestimmung der historischen Wahrheit beizutragen. Bestimmung ist ja Verneinung, wie Spinoza schrieb und Hegel aufgriff.Footnote 6 Ohne die Verneinung der vernünftigen Verhältnisse durch das Leid zerflösse der Geist der Geschichte daher im Ungefähren. Mithin wird die Unvernunft der Geschichte zum Mittel der Vernunft – zu ihrer »List«Footnote 7.

Drittens lautet der geschichtliche Geist genauer auf den »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«.Footnote 8 Denn ein selbstbezüglicher Gesamtzusammenhang ist ein Freiheitszusammenhang: er steht unter keiner äußeren Bedingung mehr. Sein Geist ist daher der Geist der Freiheit. Ihn erfaßt der philosophische Abschlußgedanke der Geschichte – und bezieht darum alle ihre Sachverhalte auf die Bildung des Freiheitsgedankens. Entsprechend lassen sich die Geschichtsprozesse von ihm her als Prozesse einer Arbeit am Freiheitsbewußtsein verstehen. Das ist der Kern, auf den Hegel die Bildungsgeschichte der Vernunft zuspitzte.

Geschichte unter dem Gesichtspunkt einer Verwirklichung der Vernunft zu deuten heißt also: in Aufhebung des historischen Positivismus das gegebene Unvernünftige auf die Vernunft eines Fortschrittes im Bewußtsein der Freiheit zu beziehen. Die einzelnen Positionen unterscheiden sich stark in der Durchführung dieses Programmes, verfolgen es aber alle. Darum lebt ihnen die Geschichte aus ihrem Geist.

III.

Indessen scheiterte das Programm. Sein Problem lag im Begriff der Totalität beschlossen. Wenn der Geist der Geschichte in deren selbstbezüglichen Gesamtzusammenhang besteht, dann kann er in keiner anderen geschichtlichen Ordnung mehr stehen. Äußere Bedingungen hat er ja nicht mehr. Folglich gibt es keine Alternativen zu ihm. Die Geschichtsprozesse sind daher – prinzipiell – notwendig. Hegel sagt es geradeheraus: es gelte in den historischen Zufälligkeiten die Notwendigkeit des Ganzen zu erkennen.Footnote 9

Aber dann zielt das Programm an der historischen Kontingenz vorbei. Sosehr es die Geschichte insgesamt unter dem Gesichtspunkt eines Freiheitszusammenhanges versteht, sowenig besteht diese Freiheit in der Kontingenz von Handlungen und Ereignissen. Freiheit ist hier die Selbstbestimmung eines Gesamtzusammenhanges, und alle Freiheit von Handlungen und Ereignissen beruht auf ihrer Integration in diese Gesamtheit, die selber keine Alternative besitzt. Entsprechend kann das Programm die Kontingenz nur als Binnenereignis eines Notwendigen begreifen – also gerade nicht als Kontingenz, sondern als Moment des Absoluten.

Das war keineswegs Hegels Privatproblem. Auch die anderen Modelle der klassischen deutschen Philosophie neigten in diese Richtung. Herder verstand die Geschichtsprozesse nach Art einer naturwüchsigen, organischen Entfaltung; Kant setzte eine weise Naturabsicht als Regulativ der Menschengeschichte an; und Schelling dachte die geschichtliche Welt noch in ihrer Verkehrtheit als Theogonie.Footnote 10 Auf die eine oder andere Weise geriet so das geschichtlich Kontingente in die Mühlen des Notwendigen, sich ohnehin Vollziehenden, oder verblieb zumindest unter dessen normativer Herrschaft. Eine gelingende Verknüpfung seiner Kontingenz mit der Notwendigkeit eines Gesamtzusammenhanges ist hingegen nicht zu erkennen.

Dieses modale Problem ist schwerwiegend genug. Doch zudem ist es mit einem quantitativen Problem verbunden. Denn im Zuge einer Verfehlung des Kontingenten wird das Einzelne verfehlt. Das Einzelne ist ja etwas Kontingentes. Als Endliches, das von anderem Endlichen begrenzt wird, besitzt es keine Notwendigkeit, sondern steht im Gesamtzusammenhang alles Endlichen, innerhalb dessen ihm sein Sein zufällt. Wird daher die Kontingenz zum Binnenereignis des Absoluten verstümmelt, so zerfließt zugleich das Einzelne im Faltenwurf des Ganzen. Eigenständigkeit besitzt es nicht. Und dennoch geht es dem geschichtlichen Blick immer auch um Singularitäten: eigenständige Epochen, Räume, Individuen. Sie geraten nun zu abhängigen Phasen, Schauplätzen, Geschäftsführern des Weltgeistes. Dadurch werden sie in ihrer Besonderheit verfehlt. Was unter Modalitätskategorien als ein Problem von Kontingenz und Notwendigkeit bestimmt ist, bildet unter Quantitätskategorien ein Problem von Partikularität und Totalität.

Für beides fand das Geschichtsdenken der klassischen deutschen Philosophie keine Lösung. Es verschloß vor dem modal-quantitativen Problem die Augen.

IV.

Sachlich kann das Konzept »Geistesgeschichte« als Antwort auf das modal-quantitative Problem verstanden werden. So, wie Dilthey das Konzept auf den Weg brachte, suchte es den Knoten mit einem Streich zu lösen: es erfand kurzerhand eine partikulare Totalität – ein kontingentes Absolutes. »Geist« geriet zum Namen dieses Zwitterwesens.

Diltheys Kernbegriff war der Begriff »Weltanschauung«. Er bezeichnet in einem Zug zweierlei: die Anschauung, die Menschen sich von einer ganzen Welt machen, und die Anschauung, die ihnen diese Welt von sich vermittelt. Entsprechend verknüpft der Begriff den subjektiven Geist der Einzelnen mit dem objektiven Geist des Ganzen. Solche Weltanschauungen finden ihren Ausdruck in den wissenschaftlichen Systemen, den religiösen Gebäuden, den künstlerischen Erzeugnissen, dem persönlichen Erleben einer Zeit. Sie alle verweisen letztlich auf »Bedeutung und Sinn des Ganzen«.Footnote 11 Aber sie geben dem Ganzen nicht das letzte Wort. Denn weil seine Bedeutung und sein Sinn immer eine Bedeutung und ein Sinn für das Leben der Einzelnen darstellt, betreffen sie zugleich das, was »mich am meisten angeht«.Footnote 12 Das heißt: im objektiven Geist einer Welt erkennt der subjektive Geist sich wieder. »Weltanschauung« ist der Titel solcher Wiedererkenntnis im Ganzen.

Mit ihm konnte die Geistesgeschichte neu verstanden werden. Sie trat jetzt als eine Geschichte von Weltanschauungen auf. Statt historische Tatbestände als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit zu entziffern, legte sie Weltanschauungen in ihren geschichtlichen Gestalten aus. Im Rahmen einer solchen Auslegung kann es keine Hierarchie geben. Denn weil man jenseits der Weltanschauungen nicht sinnvoll von der Welt sprechen kann, lassen sich die Weltanschauungen zwar nach Typen unterscheiden, nicht aber hinsichtlich dessen, wie gut oder schlecht sie die Welt im Blick haben. Dilthey schrieb daher: »Getrost mögen wir in jeder dieser Weltanschauungen einen Teil der Wahrheit verehren.«Footnote 13 Und er präzisierte: jede künde auf ihre Weise vom »Rätsel des Lebens«Footnote 14. Entsprechend wurde die Geistesgeschichte zur Geschichte des Lebens im Umgang mit seinen Rätseln. Und weil das Leben immer wieder rätselhaft ist, verzichtete diese Geschichte auf die Suche nach einer Lösung des Lebensrätsels, so daß keine Umgangsform den Vorrang beanspruchen darf. Alles, was die Geistesgeschichte vermitteln wollte, waren Einsichten in die Muster, mit den Rätseln des Lebens umzugehen: eine historische Typologie der Weltanschauungen.

Aber unterschlug das Konzept »Geistesgeschichte« nicht die methodische Konstruktion, die eine Weltanschauungstypik vollzieht? Die wissenschaftstheoretischen Darlegungen des Neukantianismus hatten doch, nahezu zeitgleich zu Dilthey, den Vorrang der Methode im Aufbau der Wissenschaften herausgestrichen.Footnote 15 Erich Rothacker, der Mitbegründer einer Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, argumentierte dagegen.Footnote 16 Ihm zufolge münden die wissenschaftlichen Methoden notwendig in unauflösbare Streitigkeiten. Und diese verwiesen auf die Abkunft der Methoden aus verschiedenen Weltanschauungen. Sosehr daher die geistesgeschichtliche Arbeit methodisch vorgehe, sosehr bleibe auch diese Arbeit an bestimmte Weltanschauungen gebunden, deren »synthetische Kraft«Footnote 17 den Boden für alles Weitere bilde. Das hieß: statt nach einer Letztbegründung zu suchen, galt es, die Weltanschauungen weiter zu typisieren – als Mutterböden methodischer Verfahren. Noch ihre eigene Verfassung also bezog die Geistesgeschichte auf Weltanschauungsformen.

Ersichtlich biß sich hier die Katze in den Schwanz. Die Geistesgeschichte legte Weltanschauungen mit Methoden aus, die selber Weltanschauungen entspringen. Aber dieser Zirkel war notwendig. Denn die Geistesgeschichte wollte zuletzt nichts anderes sein als die Selbstexplikation des Lebens. Sie erkundete ja dessen Antworten auf seine Rätsel – verstand sich also als lebendige Selbsterkundung. Entsprechend wurde unter ihrem Leitbild der Geist zu einem Derivat des Lebens. Seine relativen Wahrheiten sollten uns die Weltanschauungen darbieten, und noch die Erforschung der Weltanschauungen wußte sich dem Bereich des Relativen zugehörig. Geistesgeschichtliches »Erleben, Ausdruck und Verstehen«Footnote 18 gehörte zu der Bewegung eines sich bis zur Wissenschaft selber auslegenden Lebens.

Hiermit haben wir – von außen betrachtet – die partikulare Totalität, das kontingent Notwendige der Geistesgeschichte deutlich vor Augen. Man sieht, wie diese Geschichte von Ganzheiten im Nebeneinander handelte. Jede von ihnen erschien als ein Gesamtzusammenhang – und zugleich nur als Einzelnes unter Einzelnem; jede von ihnen wurde als historisch kontingent begriffen – und zugleich mit einer Notwendigkeit ausgestattet, die niemand bestreiten kann, den das jeweilige Ganzen »am meisten angeht«. Auf diese Weise löste die Geistesgeschichte das modal-quantitative Problem durch eine geschickte Verteilung der jeweiligen Paarglieder.Footnote 19 Vom externen Standpunkt der Weltanschauungslehre war alles kontingent und partikular; vom internen Standpunkt der Weltanschauungen selber hingegen war alles notwendig und total. Und weil die Weltanschauungslehre mit Methoden arbeitete, die in Weltanschauungen gründen, wußte sie auch sich selber in diesen Komplex einbezogen. In solch kontingenter Notwendigkeit, einzelner Allgemeinheit, relativer Absolutheit bestand der auszulegende Geist.

Allerdings standen diese Standpunkte nicht einfach nebeneinander. Vielmehr wurden sie durch das Zauberwort »Leben« verknüpft. Weil das Leben selber es sei, was sich in partikularen Totalitäten mit seinen Rätseln beschäftige, flossen in ihm der interne und der externe Standpunkt ineinander. Das Leben schien daher von dem quantitativ-modalen Problem gar nicht berührt zu werden. Stattdessen bewegte es sich diesseits aller modalen und quantitativen Kategorien. Und als jener Teil der lebendigen Bewegung, die die wissenschaftliche Bildung zum Ziel hat, galt das auch für das geistesgeschichtliche Verstehen. Es wollte ebenfalls eine Regung des Lebens sein – und glaubte sich dadurch den Problemen von Relativität und Absolutheit entzogen.

So schien die Geistesgeschichte zugleich bescheidener als die klassische deutsche Philosophie wie gediegener.

V.

Sie zahlte dafür einen hohen Preis.

Erstens verfehlte sie das Negative. Das Leid und die Unvernunft in der Geschichte stellten bei ihr nicht einmal mehr Listen der Vernunft dar. Stattdessen kolorierten sie nur ein bedeutendes und sinnvolles Ganzes. Denn zwar können die Weltanschauungen auf verschiedene Weise mit der Negativität im Leben umgehen: von seiner Leugnung bis zu seiner Verherrlichung. Aber sie selber bilden niemals etwas Negatives, sondern stets Positivitäten. Und solche Positivitäten erkundete die Geistesgeschichte. Ihr begegnete das Negative darum nur insofern, als es in einer Weltanschauung bereits verarbeitet ist. Es konnte dann als wichtige Größe erlebt, ausgedrückt und verstanden werden. Seinen Sinn und Bedeutung aber besaß es bloß innerhalb jener Positivität. Entsprechend galt der Satz »Bestimmung ist Verneinung« in der Geistesgeschichte nur nachgeordnet. Er betraf bisweilen das Innere einer Weltanschauung, niemals aber deren Geschichte in dem unendlichen Prozeß einer Selbstauslegung des Lebens, die folglich selber eine positive Sache darstellte.

Zweitens tendierte die Geistesgeschichte zu einer Art höheren Positivismus. Zwar suchte sie die einzelnen Gegebenheiten auf ihren Zusammenhang zu lesen. Aber dieser Zusammenhang war ihr jeweils der subjektiv-objektive Geist einer Weltanschauung. Und Weltanschauungen können nur noch typisiert werden. Geistesgeschichtlich wurden sie daher festgestellt, nicht aber mehr in einen Zusammenhang gebracht, der sie aus ihrem Gegebensein herausgeholt hätte. Die Formel, Weltanschauungen seien insgesamt Selbstauslegungen des Lebens, artikulierte diesen Zusammenhang jedenfalls nicht. Auch sie hatte bloß feststellenden Charakter. Denn das Leben selber erlaubt keine andere Artikulation als seine Selbstauslegungen in Weltanschauungen. Entsprechend nahm die Geistesgeschichte das Leben in seiner Selbstbewegung einfach hin. So schrumpfte der Anspruch, den die Geistesgeschichte mit dem Namen »Geist« suggeriert, zuletzt auf die Registrierung des Lebensvollzuges zusammen. Das war ja der Witz der Geistesgeschichte: daß der Geist selber ein Derivat des Lebens sei, dessen partikular-totale Gestalten er bilde. Die inhaltliche Buntheit der Weltanschauungen drapierte diese Nacktheit des hinzunehmenden Lebens bloß.

Drittens öffnete die Geistesgeschichte hierdurch Einfallstore für neue Ausstaffierungen des Lebens. Weil dessen Weltanschauungen kontingent und partikular waren, erlaubten sie die Einführung kontingenter und partikularer Bestimmungen ihrer Bildung. Diese erfolgten dann im wundersamen Einklang mit den politischen Gegebenheiten. Berühmt ist Rothackers Wendung zu rassischen und völkischen Faktoren in den dreißiger Jahren. Sie war keineswegs nur opportunistisch. Vielmehr antwortete sie auf die Unbestimmtheit des Lebensbegriffes. Wenn Weltanschauungen partikulare Totalitäten darstellen, in denen das Leben sich selbst auslegt, und wenn der methodische Zugriff auf sie selber wieder in Weltanschauungen gründet, dann lassen sich aus Weltanschauungen neue Methoden der Weltanschauungsanalyse herleiten. Nichts anderes tat Rothacker. Aus der Begegnung mit neuen Weltanschauungen heraus erweiterte er die Weltanschauungen zu Lebensstilen und schrieb dann Volk und Rasse stilbildende Kraft zu.Footnote 20 Hierbei blieb er dem geistesgeschichtlichen Programm durchaus treu. Denn Volk und Rasse waren Rothacker kein Selbstzweck. Einzig als Bestimmungsgründe des partikular-totalen Geistes, auf den es im Erleben, Ausdruck und Verstehen von Weltanschauungen ankam, wurden sie ihm bedeutend.Footnote 21 Diese Treue entschuldigt nichts, sondern macht alles nur schlimmer. Sie zeigt, daß das Programm selber seine völkisch-rassische Weiterbildung erlaubte. Es hätte auch andere Weiterbildungen gestattet, denn die Kontingenz aller Weltanschauungen, in der zuletzt auch die methodische Bestimmtheit der Geistesgeschichte gründet, macht auch deren Verfassung kontingent.

Diese Probleme münden schließlich in das Grundproblem. Es lautet auf den Immanenzzusammenhang des Lebens. Indem das Leben den Anfang und das Ende seiner weltanschaulichen Selbstauslegung darstellen sollte, schloß die Geistesgeschichte seine Immanenz gegen jeden Überstieg ab. Über diesen Lebensvollzug ragte der Geist nicht hinaus. Vielmehr befriedigte er sich in seiner Derivatfunktion. So konnte er zwar als etwas besonders Edles am Leben ausgegeben werden, blieb aber im Grund eingeschlossen in dessen bloße, unhinterfragbare Vollzüge. Dadurch wurde die Geschichte des Geistes zum allumfassenden Immanenzzusammenhang. Sosehr sie voller partikularer Transzendenzgedanken war, so wenig wurde sie selber zur Transzendenz hingerissen. Auf diese Weise verstümmelte die Geistesgeschichte alle Gedanken der Transzendenz zu immanenten Transzendenzgedanken. Sie band sie an der Gegebenheit des Lebens fest.

Damit wurde die Geistesgeschichte zur Ideologie. Sie verklärte die Geschichtsprozesse zu Positivitäten, deren Gegebensein statt zu hinterfragen zu erleben, auszudrücken, zu verstehen sei, wobei ihre Methoden selber aus kontingenten Lebensregungen entspringen konnten. In seiner griechischen und christlichen Formulierung war der Geist das Übersteigende gewesen: jenseits des Seienden; wie eine Taube vom Himmel herabkommend.Footnote 22 Und auch in den Nachfolgegestalten der klassischen deutschen Philosophie blieb er das Absolute. Geistesgeschichtlich aber machte man ihn zu dem Moment einer Immanenz des kontingenten Lebens. Entsprechend wurde er zum Binnengewächs einer »Naturgeschichte«Footnote 23. So schlug der Geist in den Nichtgeist um – und so spielte sich umgekehrt der Nichtgeist als Geist auf.

VI.

Kein Wunder, daß die Geistesgeschichte ihr Ansehen verlor. Noch ihren großen Zeugnissen haftet beweihräuchernder Zuschnitt, kontingente Sichtverengung, Verklärung des Gegebenen an.Footnote 24 An die Stelle der Geistesgeschichte mußte daher anderes treten.

Allein, den Immanenzzusammenhang führte man weiter, und zwar bis heute. Sozialgeschichte, Diskursanalyse, Systemtheorie, Kulturwissenschaften, Ideengeschichte – sie alle beziehen das Geschichtliche nicht auf einen Überstieg, sondern schließen es in Bestände ein. Die Bestände erhalten nur eine andere Ausformulierung. Der Sozialgeschichte bilden sie gesellschaftliche Komplexe, der Diskursanalyse bilden sie Machtlagen, der Systemtheorie bilden sie Funktionen, den Kulturwissenschaften bilden sie kulturelle Praktiken und Materialien, der Ideengeschichte bilden sie semantische Einflußgrößen. Sie sind Gegebenheiten ohne Transzendenz, in bloß immanenter Bewegung. Foucault bekannte sich zum »glücklichen Positivismus«.Footnote 25 Er redete den Klartext, den die anderen Ansätze nur selten aussprachen.

In dieser Lage aber läßt sich das Konzept »Geistesgeschichte« gegen den Strich bürsten. Dann hält es die Erinnerung daran wach, daß das Historische statt des Gegebenen das Geistige sein könnte – und dadurch an dem alten Versprechen des Geistes teilhätte, auf das Jenseits des Seienden, auf den offenen Himmel zu zielen. Freilich siedelte es das Jenseits des Seienden und den offenen Himmel nicht außerhalb der Geschichte an. Anders gesagt: die Geistesgeschichte ginge nicht in die Ewigkeit über. Vielmehr bedeutete das Transzendenzversprechen, wo es vom Geschichtsdenken selber gegeben würde, eine Transzendenz innerhalb des Historischen. Das heißt: es brächte eine Geschichtszeit jenseits des Gegebenen und seines geschichtlichen Immanenzzusammenhanges zur Geltung. Diesen Unterschied der Geschichtszeiten könnte man als den Unterschied von Vorgeschichte und Geschichte begreifen.Footnote 26 Es ließe sich dann sagen: Vorgeschichte – das ist das Historische in der Immanenz von Gegebenheiten. Hier leben Menschen unter deren Herrschaft. Geschichte hingegen – das ist das Historische jenseits dieser Gegebenheiten. Hier leben Menschen frei vom Gegebenen. Sie transzendieren es und machen darum ihre Geschichte selber.

Auf diese Weise würde der Geist in der Geschichte den Schritt von der Vorgeschichte zur Geschichte gehen. Ihn in der bisherigen Menschengeschichte zu erfassen, hieße entsprechend, die vergangenen und gegenwärtigen Spuren auf dem Weg der Vorgeschichte zum Schritt in die Geschichte zu erfassen. Bürstet man das Konzept »Geistesgeschichte« gegen den Strich, könnte es also zu einer Spurenlese werden: weil der Geist in seiner griechisch-christlichen Bedeutung die Transzendenz schon immer in sich barg, die nun endlich auch im Historischen angesetzt werden würde.

Indessen ist heute weder solcher Geist noch die Umbürstung des Konzeptes »Geistesgeschichte« verwirklicht. Zur Ideologie wurde die Geistesgeschichte, weil sie das Gegebene selber zum Geistigen erhob. Zum Versprechen kann sie nur dann werden, wenn sie uns das Geistige als die Transzendenz des Gegebenen kontrafaktisch vor Augen hält – und darum auch den Geist nicht als Gegebenes, sondern Aufgegebenes zur historischen Geltung bringt. Seit einigen Jahren wird die Idee des Geistes gerade in Bezug auf seine Transzendenz neu diskutiert.Footnote 27 Eine Geistesgeschichte, die ihres Versprechens inne würde, könnte mitsamt einer ihr entsprechenden Literaturwissenschaft daran teilhaben.