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Hin und Her

Utopie lebendiger Gemeinschaft in Goethes Märchen und die Folgen (Wanderjahre, Keller, Handke)

Seesaw

The utopia of a lively community in Goethe’s Märchen and the aftermath (Wanderjahre, Keller, Handke)

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Der Beitrag fokussiert das Hin und Her als ein von Goethe favorisiertes Bewegungs- und Zeitkonzept. In seinem Wesen selbst schwankend vermag das Hin und Her im Märchen zunächst die persönlichen und historischen Wirrnisse utopisch auf die Idee einer lebendigen Gemeinschaft hin zu überschreiben. Die beispiellose Integration von Phantasie und Erzählung, Individuum und Gemeinschaft bleibt jedoch ein Einzelfall, dem die zunehmende Desynchronisation von Individuum und Gemeinschaft im Hin und Her des epischen Erzählens in den Wanderjahren entgegentritt. Gottfried Keller und Peter Handke zeigen exemplarisch zwei verbleibende Alternativen auf, wie auf Goethe bezugnehmend ein Erzählen im Zeichen des Hin und Her aussehen kann: Keller verlagert die Vorstellung lebendiger Gemeinschaft ganz in den Traum; Handke unternimmt den Versuch, in der Phantasie eine Gemeinschaft der Vereinzelten zu stiften.

Abstract

The paper focuses on the figure “Hin und Her”, viewing it as one of Goethe’s favourite concepts of movement and time. In Das Märchen the figure “Hin und Her” succeeds in utopically overwriting personal and historical disruptions according to the idea of a lively community. This integration of fantasy and narration, individual and community is without precedent in Goethe’s work and remains a singular case. It is confronted by the successive desynchronisation of individual and community of the “Hin und Her” in the epic narration of the Wanderjahre. Offering alternatives to Goethe while still referring to him, both Gottfried Keller and Peter Handke succeed in pointing out in an exemplary manner, what narration marked by the “Hin und Her” can look like: While Keller transposes the image of a lively community to the dream, Handke attempts to create a community of mutually disconnected subjects within fantasy.

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Notes

  1. FA I, 9, 1111. Hervorh. C.K.

  2. Ebd., 1098, Hervorh. C.K.

  3. Vgl. David E. Wellbery, »Zwei Sprachgebärden in Goethes Liebeslyrik«, in: Carsten Rohde, Thorsten Valk (Hrsg.), Goethes Liebeslyrik. Semantiken der Leidenschaft um 1800, Berlin 2013, 203–221, hier: 203 f.

  4. Auf den Zusammenhang von Schwanken und Leben hat Eva Geulen hingewiesen. Eva Geulen, Aus dem Leben der Form. Goethes Morphologie und die Nager, Berlin 2016, 66.

  5. FA I, 7, 11.

  6. Juliane Vogel, Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche, München 2018, 129. Dem Zusammenhang zwischen der hier untersuchten Sprachgebärde und der Dramentheorie des 18. Jahrhunderts wäre weiter nachzugehen; der vorliegende Beitrag bleibt auf Erzähltexte beschränkt.

  7. FA I, 24, vgl. Geulen (Anm. 4), 65. Geulen pointiert folgendermaßen: »[D]as Schwanken und Oszillieren zwischen Norm und Ausnahme ist letztlich die ausnahmslose Norm« (ebd., 77). Mag auch das Schwanken, wie sie darlegt, »unterhalb begrifflicher oder auch nur quasibegrifflicher Konsistenz« bleiben (ebd., 66), so hat es in der Sprachgebärde des Hin und Her einen sprachlichen Indikator.

  8. So besteht etwa die Freiheit des Künstlers für Dürer darin, eine Schlangenlinie so zu zeichnen, dass »sie hyn und her gezogen mag werden wie man will«, vgl. hierzu: Régine Bonnefoit, »Von der Bedeutung der Schlangen- und Zickzacklinie in Klees Kunsttheorie. Eine Geschichte zweier Kontrahenten«, in: Paul Klee. Kein Tag ohne Linie, hrsg. vom Zentrum Paul Klee, Bern mit Tilman Osterwold, Ostfildern-Ruit 2005, 50–59, für Dürer: 50.

  9. Hier und im Folgenden: FA I, 17, 370 f. Hervorh. C.K.

  10. So der Titel meiner Dissertation: Claudia Keller, Lebendiger Abglanz. Goethes Italien-Projekt als Kulturanalyse, Göttingen 2018.

  11. FA I, 24, 596.

  12. FA I, 9, 1081.

  13. Ebd. Hervorh. C.K.

  14. Vgl. zur Verbindung von Freiheit, Muße, Spaziergang und Schlangenlinie bspw. William Hogarths Analysis of Beauty; siehe dazu: Bonnefoit (Anm. 8), 52.

  15. FA I, 9, 1100. Hervorh. C.K.

  16. So darf etwa der Fährmann »jedermann herüber, niemand hinüber bringen« (ebd., 1085). Zur Bedeutung der Bewegung im Märchen, insbesondere der Bewegungen der Schlange, jedoch aus phänomenologisch-kognitiver Perspektive, vgl. Charlotte Lee, »Cognition in Action. Goethe’s ›Märchen‹«, Publications of the English Goethe Society 87/3 (2018), 121–130.

  17. FA I, 9, 1082. Die »Irrlichter« sind, so das Goethe-Wörterbuch, »bes in (sumpfig-)feuchtem Gelände sich hin und her bewegende (u Reisende vom Weg ablenkende) kleine Lichterscheinung« und zeichnen sich also insgesamt durch diese charakteristische Bewegung aus (Stefan Elit, Art. »Irrlicht«, in: Goethe-Wörterbuch, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Akademie der Wissenschaften in Göttingen und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Bd. 5, Stuttgart 2011, 89). Im Märchen heißt es an anderer Stelle vergleichbar: »[W]o unsere beiden Irrlichter hin und wider spielten« (FA I, 9, 1085).

  18. So bereits J.A. Hartung in den Jahrbüchern für wissenschaftliche Kritik, März 1837, Nr. 59.

  19. Cornelia Zumbusch hat im Zusammenhang ihrer Überlegungen zur Immunität der Klassik herausgearbeitet, dass im Märchen der tödliche Kontakt in eine heilende Kommunikation verwandelt wird, und zwar über einen »Schutz«, der »nicht auf rigide Trennung und Ausschluß [setzt], sondern auf die geregelte Verbindung des Getrennten.« Cornelia Zumbusch, Die Immunität der Klassik, Frankfurt a.M. 2011, 316–319. Kai Kauffmann, »Phantastische Austauschprozesse. Zu Goethes Märchen und den Heimatsträumen in Kellers Grünem Heinrich«, in: Georg Mein, Franziska Schößler (Hrsg.), Tauschprozesse. Kulturwissenschaftliche Verhandlungen des Ökonomischen, Bielefeld 2005, 203–226, hier: 210 f. In diesem Zusammenhang betont bereits Gustav Landauer die Bedeutung des Hin und Her: »Wir sind mit den vielen Gestalten in fortwährender Bewegung, ein geheimnisvolles Hin und Her waltet, eine Regsamkeit mannigfacher Elemente, von der wir empfinden, daß sie der Sehnsucht, der großen Erwartung des Wunders, der Erfüllung entspringt.« Gustav Landauer, Goethes Politik. Eine Ankündigung [zit. nach FA I, 9, 1539]. Ich danke Demian Berger für diesen Hinweis.

  20. FA I, 9, 1103.

  21. »Was ist erquicklicher als Licht? fragte jener – das Gespräch, antwortete diese.« (Ebd., 1087) Vgl. Kauffmann (Anm. 19), 211.

  22. Die Alte muss zunächst die Gefahr der schwarzen Hand in Kauf nehmen, um zur jungen schönen Frau zu werden, nach der ihre Eitelkeit sich sehnt.

  23. FA I, 9, 1111.

  24. Ingrid Oesterle, »Der ›Führungswechsel der Zeithorizonte‹ in der deutschen Literatur«, in: Dirk Grathoff (Hrsg.), Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode, Frankfurt a.M. 1985, 11–76.

  25. Zur Bedeutung der ›Bedingungen‹, vgl. Keller (Anm. 10), 77 ff.

  26. FA I, 9, 1081.

  27. Ebd., 1114.

  28. Ebd.

  29. Friedrich Ohly, »Römisches und Biblisches in Goethes ›Märchen‹«, in: Ders., Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und Bedeutungsforschung, hrsg. Uwe Ruberg, Dietmar Peil, Stuttgart, Leipzig 1995, 217–235. Ich danke David E. Wellbery für diesen Hinweis. Ohly zeigt viele Verbindungen auf: Zentral für die Identifikation dieses Zusammenhangs ist das Ensemble aus dem Tempel, dem Platz mit dem in den Obelisken verwandelten Riesen und der Brücke über den Fluss und nicht zuletzt die Bezeichnung des Tempels als »Dom« (FA I, 9, 1088 u.ö.). Ohne auf Ohly Bezug nehmend, jedoch mit ähnlichen Resultaten: Jan Büchsenschuss, Goethe und die Architekturtheorie, Hamburg 2010, 119–121. In Dichtung und Wahrheit beschreibt Goethe den bis in seine früheste Kindheit zurückgehenden tiefen ›Eindruck‹ des Petersdoms: Im Elternhaus gehörten zu den römischen Prospekten auch der Petersplatz, die Peterskirche und die Engelsburg, und diese »Gestalten drückten sich tief bei mir ein« (FA I, 14, 19). Damit benutzt Goethe die gleiche Formulierung wie auch in Bedeutende Fördernis.

  30. Zum Projekt einer Kulturanalyse Italiens vgl. insgesamt: Keller (Anm. 10).

  31. Goethe prägt diesen Begriff bekanntlich in der Einleitung in die Propyläen, vgl. Wolfgang Frh. von Löhneysen (Hrsg.), Propyläen. Eine periodische Schrift. Hrsg. von Goethe, Bd. 1–3, Nachdruck, Darmstadt 1965, 40 f.

  32. Goethe an Meyer, 6.6.1797, in: Max Hecker (Hrsg.), Goethes Briefwechsel mit Heinrich Meyer, Bd. 1, Weimar 1917, 449.

  33. FA I, 18, 111, Hervorh. C.K. Vgl. Keller (Anm. 10), 399.

  34. Goethe an Meyer, 16.11.1795, in: Hecker (Anm. 32), 148. Vgl. ausführlicher: Keller (Anm. 10), 377–415.

  35. FA I, 15/1, 489, Hervorh. C.K. Die Formulierung aus der Italienischen Reise ist in den Briefen nicht überliefert. Es kann somit nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob das Märchen auf die Formulierung in einer Briefstelle Bezug nimmt oder ob die Formulierung in der Italienischen Reise eine Rückübertragung aus dem Märchen auf die Petersdom-Erfahrung darstellt, wobei Letzteres anzunehmen ist.

  36. FA I, 7/1, 206.

  37. FA I, 9, 1102.

  38. So heißt es im Märchen: »[U]nd man sah nichts mehr von der Bildung der Schlange, nur ein schöner Kreis leuchtender Edelsteine lag im Grase.« (Ebd., 1106) Vgl. zu den Verbindungen zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften und den Konsequenzen: Jennifer Caisly, »Goethe’s ›Märchen‹. An Exploration of (Im)Materiality«, German Life and Letters 72/3 (2019), 262–278.

  39. Zum Vorbild des Neuen Jerusalems vgl. Ohly (Anm. 29), 234.

  40. Vgl. hier und im Folgenden: Keller (Anm. 10), Kap »Das gebrochene Symbol der Weltgeschichte«.

  41. Harald Tausch, »Architektur und Bild in Goethes Roman ›Wilhelm Meisters Wanderjahre‹« (1821), in: Andreas Beyer, Ralf Simon und Martino Stierli (Hrsg.), Zwischen Architektur und literarischer Imagination, München 2013, 274–315.

  42. FA I, 10, 428.

  43. Ebd. Hervorh. C.K.

  44. Ebd., 426.

  45. Vgl. Claudia Keller, Sabine Schneider, »Die Kunst in der Kultur. Die Auseinandersetzung der Weimarischen Kunstfreunde mit einer problematischen Konstellation«, in: Alexander Rosenbaum, Johannes Rößler und Harald Tausch (Hrsg.), Johann Heinrich Meyer – Kunst und Wissen im klassischen Weimar, Göttingen 2013, 141–156.

  46. Eva Geulen, »Betriebsgeheimnisse der ›Pädagogischen Provinz‹ in Goethes ›Wanderjahren‹«, Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 1 (2010), 33–50, hier: 49.

  47. Ebd., 44.

  48. Goethe an Schiller, 19.4.1797 (FA II, 4, 320).

  49. FA I, 18, 447.

  50. Ebd., 446. Vgl. Waltraud Maierhofer, »Wilhelm Meisters Wanderjahre« und der Roman des Nebeneinander, Bielefeld 1990. Volker Neuhaus hat die räumliche Dimension bereits früh in Bezug auf die Archiv-Metapher herausgearbeitet: »Die Archivfiktion in ›Wilhelm Meisters Wanderjahren‹«, Euphorion 62 (1968), 13–27.

  51. Bislang ist die Forschung am Rande auf dieses Verhältnis eingegangen, vgl. Hartmut Reinhardt, »Lizenz zum Spielen. Goethes ›Märchen‹ in seiner dialogischen Verbindung mit Schillers ästhetischen Schriften«, Jahrbuch der deutschen Schiller Gesellschaft 47 (2003), 99–122; Kauffmann (Anm. 19), bes. 215.

  52. Gottfried Keller, Der grüne Heinrich, 1. Fassung, hrsg. Thomas Böning, Gerhard Kaiser, Frankfurt a.M. 1985, 770.

  53. Ebd. Hervorh. C.K.

  54. Ebd., 770 f.

  55. Ebd., 771.

  56. Ebd. Hervorh. i. Orig.

  57. Ebd., 773.

  58. Ebd.

  59. Ebd., 10.

  60. Das Schlüsselblümchen, das Heinrich in den Brunnen gleiten lässt, dreht, als dieser dort ankommt, »sich schon emsig in dem Wirbel unter dem Wasserstrahle herum und konnte nicht hinauskommen« (ebd., 17).

  61. Bezüge zur Gattung des Märchens und insbesondere zu Goethes Märchen gibt es bei Handke wiederholt. Bereits für die Lehre von Sainte-Victoire (1980) hat er die Ankündigung des Alten (»Diesen Abend verspreche ich Ihnen ein Märchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen.«, vgl. Anm. 13) als Motto verwendet, das fortan auch als implizites Motto für weitere Texte stehen kann. Die Abwesenheit (1987) steht insgesamt in enger Beziehung zu Goethes Märchen und auch Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994) trägt die Gattungsbezeichnung des Märchens.

  62. Peter Handke, Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere, Berlin 2017, 226. So die Formulierung in Anlehnung an Hölderlins Die Nacht.

  63. Ebd., 546 f. Hervorh. C.K.

  64. Vgl. zu Handkes Goethe-Bezügen bes. Juliane Vogel, »›Wirkung in die Ferne‹. Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht und Goethes Wanderjahre«, in: Klaus Amann, Fabjan Hafner und Karl Wagner (Hrsg.), Peter Handke. Poesie der Ränder, Wien, Köln, Weimar 2006, 167–180 und Norbert Christian Wolf, »Der ›Meister des sachlichen Sagens‹ und sein Schüler. Zu Handkes Auseinandersetzung mit Goethe in der Filmerzählung ›Falsche Bewegung‹«, in: ebd., 181–199.

  65. Von den Entsagenden heißt es dort, dass sie »auf zierlichem Nachen von Ufer zu Ufer« des Lago Maggiore fahren, »den See in jeder Richtung durchkreuzend«. Dabei entgeht ihnen »weder Sonnenaufgang noch Untergang und keine der tausend Schattierungen, mit denen das Himmelslicht sein Firmament und von da See und Erde freigebigst überspendet und sich im Abglanz erst vollkommen verherrlicht.« (FA I, 10, 499).

  66. FA I, 7/1, 206.

  67. Ich zeige an anderer Stelle, dass es die sich hin und her bewegenden ›epischen Schritte‹, als »Schritte, die einbezogen« (Handke [Anm. 62], 55), sind, die im Vollzug des epischen Erzählens Gemeinschaft in der Sprachgebärde des Hin und Her realisieren: Claudia Keller, »Zeitfiguren des Epischen. Peter Handkes ›Die Obstdiebin‹ als eine Theorie des Erzählens im Erzählen«, erscheint in: ZfdPh 4/2020.

  68. Handke (Anm. 62), 547.

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Keller, C. Hin und Her. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 94, 161–179 (2020). https://doi.org/10.1007/s41245-020-00102-6

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