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Suhrkamp Verlag Leseprobe Khurana, Thomas Das Leben der Freiheit Form und Wirklichkeit der Autonomie © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2198 978-3-518-29798-8 suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2198 Es ist eine geläuige Idee, dass freie Selbstbestimmung bedeutet, sich gera­ de nicht von seiner lebendigen Natur bestimmen zu lassen. Wie homas Khurana in seiner grundlegenden Studie im Anschluss an Kant und Hegel zeigt, können wir es bei einer solchen Entgegensetzung von Freiheit und Leben jedoch nicht belassen. Nur im Rückgang auf den Begrif des Le­ bens erschließt sich die Form und Wirklichkeit der menschlichen Freiheit. Dies zu behaupten, bedeutet jedoch gerade nicht, praktische Freiheit auf natürliche zu reduzieren. Indem wir diesem Gedanken folgen, gewinnen wir vielmehr ein tieferes Verständnis der inneren Spannungen und Heraus­ forderungen der Freiheit, eine kritische heorie unserer zweiten Natur. homas Khurana ist Lecturer of Philosophy an der University of Essex. homas Khurana Das Leben der Freiheit Form und Wirklichkeit der Autonomie Suhrkamp Diese Publikation geht hervor aus dem DFG­geförderten Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« an der Goethe­Universität Frankfurt am Main. Bibliograische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliograie; detaillierte bibliograische Daten sind im Internet über http://dnb.d­nb.de abrufbar. Erste Aulage 2017 suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2198 © Suhrkamp Verlag Berlin 2017 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öfentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotograie, Mikroilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany ISBN 978­3­518­29798­8 Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Erster Teil Kant und die Analogie von Autonomie und Leben Kapitel I: Die Form der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zwei Quellen der Idee der Autonomie (§§ 1­4) . . . . . 2. Die Idee der Autonomie (§§ 5­11) . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Paradox der Autonomie (§§ 12­15) . . . . . . . . . . . . 4. Eigengesetzlichkeit und lebendige Selbstorganisation (§§ 16­25) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Unfreiheit des Lebendigen (§§ 26­29) . . . . . . . . . . 31 31 45 68 85 123 Kapitel II: Die Wirklichkeit der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Problem der Wirklichkeit der Freiheit (§ 30) . . . 2. Das Reich der Natur und das Reich der Freiheit 137 137 (§§ 31­35) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 178 3. Können und Sollen (§§ 36­39) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Natur als Medium der Verwirklichung der Freiheit 5. Verwirklichung der Freiheit (§§ 43­47) . . . . . . . . . . . . 6. Die Unwirklichkeit der Freiheit (§ 48) . . . . . . . . . . . . 198 219 251 Schwelle (§§ 49­50) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 (§§40­42) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Teil Hegel und das Leben der Freiheit Kapitel III: Geist und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Drei Schritte über Kant hinaus (§§ 51­55) . . . . . . . . . . 2. Geist und Natur als Verhältnisbestimmungen 277 277 (§§ 56­62) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Kapitel IV: Die Freiheit des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Von Selbstgesetzgebung zu Selbstkonstitution 327 (§§ 63­64) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 2. Lebendige Selbstkonstitution (§§ 65­68) . . . . . . . . . . . 3. Der Kontrast von lebendiger und geistiger Selbsthervorbringung (§§ 69­73) . . . . . . 4. Der Schritt vom Leben zum Geist: Additive und transformative Modelle (§ 74) . . . . . . . 342 368 380 Kapitel V: Das Leben der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Zweideutigkeit der zweiten Natur (§§ 75­81) . . . . 2. Das Werden der Freiheit: Anthropologie (§§ 82­89) . . . 3. Das Erscheinen der Freiheit: Phänomenologie 389 389 409 (§§ 90­95) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 4. Die Wirklichkeit der Freiheit: Objektiver Geist (§§ 96­103) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 531 532 Einleitung Der Wille ist eine Art von Causalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejeni­ ge Eigenschaft dieser Causalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann […]. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS 4:446) 1. Idee: Das Leben der Freiheit Von einem Leben der Freiheit zu sprechen hat eine doppelte Bedeu­ tung. Auf der einen Seite legt diese Wendung nahe, dass schon dem Leben das Merkmal der Freiheit zukommt. Zum anderen deutet der Ausdruck darauf hin, dass die Freiheit ein ihr eigenes Leben besitzen mag. In diesem doppelten Genitiv wird so ein Übergang angedeutet von der Freiheit, die dem Leben als solchem zukommt, zu dem eigenen Leben, das die Freiheit führt. Inwiefern aber ist schon das Leben frei und inwiefern besitzt auch die Freiheit immer noch ein Leben? Warum mag es unserem Verständnis der Freiheit und des Lebens dienen, ihren inneren Zusammenhang zu begrei­ fen? Und in welchem Sinne genau sind Leben und Freiheit aufein­ ander zu beziehen? Die folgenden Überlegungen werden drei aufeinander bezogene Weisen erläutern, in denen Freiheit und Leben in einem wesent­ lichen Zusammenhang stehen: (1) Freiheit ist ein Vermögen, das sich nur in lebenden Wesen herausbilden kann. (2) Um die Form der Freiheit zu verstehen, müssen wir die Form des Lebens verste­ hen. (3) Um die Wirklichkeit der Freiheit zu begreifen, müssen wir verstehen, inwiefern die Freiheit ein Leben eigener Art gewinnt. In diesem Sinne sind wir auf den Lebensbegrif verwiesen, um die Genese, die Form und die Wirklichkeit der Freiheit zu verstehen. Um diese drei Gedanken zu entwickeln, wendet sich dieses Buch zwei Autoren zu, die zwar als Philosophen der Freiheit geläuig sind, wohl aber kaum als »Lebensphilosophen« gelten können: Kant und Hegel. Diese scheinbar abseitige Wahl geschieht nicht zufällig. Es 7 gilt, im Werk dieser Autoren einen philosophischen Lebensbegrif besonderer Art herauszuarbeiten, der historisch den Lebensbegrif­ fen der sogenannten Lebensphilosophie vorausgeht und nicht in derselben Weise dem Begrif des Geistes entgegengesetzt werden kann. Leben fungiert in der kantischen und postkantischen Philo­ sophie vielmehr als ein Übergangsbegrif zwischen dem Reich der Natur und dem Reich der Freiheit. Betrachten wir Leben unter diesem Gesichtspunkt, wird deutlich, dass es sich nicht einfach um einen theoretischen Begrif handelt, der Wesen bestimmter Art klassiizieren soll, sondern vielmehr um einen Relexionsbegrif, den wir benötigen, wenn wir uns als praktische Wesen verstehen wollen: als geistige und freie Wesen, die sich zugleich in der Natur praktisch realisieren. Leben bezeichnet den Punkt, an dem die Na­ tur selbst – mit Hegel zu reden – »praktisch« wird (D 2:109).1 Die­ sen praktischen Lebensbegrif gilt es zu entwickeln, um ein tieferes Verständnis der Freiheit zu gewinnen. Kant und Hegel werden dabei in der folgenden Darstellung unterschiedliche Rollen zukommen. Kant formuliert den entschei­ denden Freiheitsbegrif der Autonomie und wirft dabei zugleich Probleme auf, die uns auf den Begrif des Lebens verweisen. Inso­ fern Kant selbst diesen Verweisen aber aus systematischen Gründen nicht konsequent folgt, bleibt der Gedanke, auf den er uns verweist, unabgeschlossen. Erst Hegel wird den Weg, den Kant durch den Zusammenhang von Leben und Freiheit erschließt, bis zu seinem Ende verfolgen. Kant bereitet in diesem Sinne die drei Gedanken nur vor, dass Freiheit im natürlichen Leben beginnt, dass Freiheit als Autonomie der Form lebendiger Selbstorganisation analog ist und dass Freiheit in Gestalt einer zweiten Natur ein eigenes Leben gewinnen muss. Er legt eine Analogie zwischen Autonomie und Leben nahe, von der er aus wesentlichen Gründen aber nicht so Gebrauch macht, dass er die Gestalt der Autonomie durch ihre le­ bendige Genese, Form und Wirklichkeit aufschließt. Hegel deutet das, was bei Kant bloße Analogie zu bleiben scheint, hingegen im Sinne eines systematischen Zusammenhangs von Geist und Leben, durch den sich Freiheit schließlich als irreduzibel lebendig darstellt. Die Absicht der Rekonstruktion von Kant und Hegel, die in den beiden Teilen dieses Buches entfaltet wird, ist vor diesem Hinter­ 1 Hegels und Kants Schriften werden im Folgenden nach Siglen zitiert, die am An­ fang des Literaturverzeichnisses, S. 532­535, aufgelistet werden. 8 grund ebenso systematisch wie historisch: Systematisch geht es um die Entwicklung eines Freiheitsverständnisses, das zwei Probleme, die bei Kant letztlich ungelöst bleiben, durch die Relexion auf den Zusammenhang von Leben und Freiheit zu entfalten sucht: das Problem der Paradoxie der Autonomie und das Problem der Wirk­ lichkeit der Freiheit. Historisch zielen die nachstehenden Über­ legungen darauf, einen Weg von Kant zu Hegel nachzuzeichnen, der in den dominanten Narrativen vernachlässigt wird, und einen Lebensbegrif im deutschen Idealismus aufzuweisen, der unterbe­ lichtet geblieben ist. Indem wir diesen Pfad von Kant zu Hegel verdeutlichen, kann hervortreten, inwiefern Hegel nicht einfach als eine idealistische Überbietung Kants, sondern vielmehr als seine materialistische Vertiefung zu begreifen ist. Hegel geht nicht da­ durch über Kants Dualismus hinaus, dass er sich ganz auf die Seite des Intelligiblen schlagen würde, sondern im Gegenteil dadurch, dass er auf der Frage insistiert, wie der Geist sich am Leben gewinnt und in der Natur verwirklicht. Diese materialistische Vertiefung ist dabei nicht einfach, wie meist angenommen, eine Rückkehr zu Aristoteles: Der Lebensbegrif Hegels ist nur vor dem Hintergrund der kantischen Fragestellung zu verstehen und beschreibt kein blo­ ßes aristotelisches Residuum.2 Indem Hegel die Bedeutung des Lebens für die Genesis, Form und Wirklichkeit der Freiheit des Geistes aufweist, kommt es nicht einfach zu einer Ineinssetzung von Geist und Leben. Hegel zeigt vielmehr, dass der Geist seinen Ursprung, seine Materie und seine Form an einer lebendigen Na­ tur gewinnen muss, die ihm zugleich unangemessen bleibt. Der Geist kann darum nicht aufhören, das Leben zu überschreiten, das er führt. Die Relexion auf die Beziehung von Freiheit und Leben geschieht also nicht einfach in der Absicht einer Naturalisierung der Autonomie, sondern dient der Exposition des spannungsvollen Verhältnisses von Geist und Natur. 2 Darum ist Hegels Naturalismus zumindest als ein »disenchanted Aristotelian Naturalism« zu charakterisieren – vgl. Terry Pinkard, Hegel’s Naturalism: Mind, Nature, and the Final Ends of Life, Oxford 2012, Kap. I. 9 2. Ausgangspunkte: Freiheit als Autonomie und Normativität als zweite Natur Die folgende systematische Rekonstruktion hat zwei Ausgangs­ punkte in der zeitgenössischen Diskussion: die Idee, dass Freiheit sich wesentlich als Autonomie verwirklicht, und den Gedanken, dass das Reich des Normativen sich als zweite Natur realisiert. Freiheit als Autonomie zu verstehen, bedeutet, sich der bloßen Entgegensetzung von Freiheit und Gesetz zu entziehen, dergemäß Freiheit die Abwesenheit von Beschränkungen und Gesetz eine Einschränkung von Freiheit wäre. Eine solche Freiheit wäre von Willkür oder Zufall ebenso wenig zu unterscheiden wie ein solches Gesetz von Zwang. Der Gedanke, der zum Begrif der Autonomie führt, verlangt, dass wir über diese Entgegensetzung hinausgelan­ gen und beginnen zu begreifen, inwiefern Freiheit sich in Geset­ zen einer bestimmten Art – selbstgegebenen Gesetzen – ausdrückt und inwieweit normative Verbindlichkeit in Freiheit gründet. Die­ se Vorstellung bezeichnet jene moderne Idee der Freiheit, die bei Rousseau und Kant Gestalt annimmt und deren Verständnis und Verwirklichung uns bis heute beschäftigt.3 Die Idee einer Freiheit der Selbstgesetzgebung beschreibt da­ bei zunächst vor allem ein Desiderat – die Notwendigkeit, Frei­ heit und Gesetz aus ihrem inneren Zusammenhang heraus zu verstehen, ohne dass schon unmittelbar klar wäre, wie diese Idee so entfaltet werden kann, dass sie sich nicht selbst widerstreitet. Eine entscheidende Problematik, die in der jüngeren Diskussion verstärkt hervorgetreten ist, liegt in dem Verdacht, dass die Idee der Selbstgesetzgebung in ein Paradox führt.4 Wenn ein Gesetz nur frei ist, sofern wir es uns, ohne durch Äußeres bedingt zu sein, selbst gegeben haben, so scheint das zu verlangen, dass wir uns das Ge­ setz grundlos geben. Wenn das der Fall wäre, würde aber rätselhaft, inwiefern wir an das grundlos gegebene Gesetz überhaupt gebun­ den sind. Wenn wir umgekehrt annehmen, dass wir uns das Gesetz der Freiheit also mit Grund gegeben haben müssen, so scheint die Autonomie abhängig von Gründen, die schon vor der autonomen 3 Zur Herausbildung dieser Idee vgl. Jerome Schneewind, he Invention of Autonomy: A History of Modern Moral Philosophy, Cambridge 1998. 4 Vgl. zu einem Überblick über die Diskussion homas Khurana, Christoph Menke (Hg.), Paradoxien der Autonomie, Berlin 2011. 10 Einsetzung Gültigkeit besaßen. Autonomie schlägt so entweder in grundlose Setzung oder Abhängigkeit von vorausgesetzten Grün­ den, in Willkür oder Heteronomie um. Ich werde dieses Paradox im ersten Kapitel ausführlich entwickeln, um im Anschluss daran zu zeigen, inwiefern uns die Idee lebendiger Selbstkonstitution die Idee der Autonomie auf neue Weise erschließen kann. Im Ausgang von der Idee der Selbstkonstitution lässt sich jene Paradoxie, die der Idee der Autonomie jeden Sinn raubt, vermeiden, ohne zu­ gleich die dialektische Spannung von Freiheit und Gesetz zu ver­ decken. Die Form des Lebens erschließt uns in diesem Sinne die Form der Freiheit. Begreifen wir Freiheit als Autonomie, so artikuliert sich in einer heorie der Freiheit zugleich eine Grundkonzeption von Norma­ tivität. Wenn Freiheit bedeutet, uns durch Gesetze zu bestimmen, die wir uns selbst gegeben haben – und nicht etwa schlicht darin besteht, uns ungehindert bewegen zu können –, so bezeichnet sie eine Form normativer Selbstbestimmung.5 Freie Wesen können wir in diesem Sinne nur als solche sein, die sich überhaupt in einem »Raum der Gründe« bewegen: als Wesen, deren Operationen nor­ mativ konstituiert sind und darin ihre Signiikanz haben, normativ zu wirken. Die Idee der Autonomie formuliert dabei nicht nur den Gedanken, dass Freiheit darin liegt, Normen einer besonderen Art – Normen, als deren Autor wir uns betrachten können – zu unter­ stehen, sondern zielt zugleich darauf, dass Freiheit die eigentliche Quelle der Normativität selbst ist. Wir müssen uns also nicht allein in einem Raum der Gründe bewegen, um Wesen sein zu können, für die sich das Problem der Freiheit überhaupt stellen kann; dem Raum der Gründe wohnt die Idee der Freiheit zugleich als sein wesentlicher Grund inne.6 Der Raum der Gründe erscheint mithin als ein Reich der Freiheit, das sich von dem gegebenen Reich der Natur abhebt. Mit dem Problem der Freiheit stellt sich somit zugleich die Fra­ ge, wie wir das Verhältnis zwischen dem Reich des Normativen und 5 Vgl. hierzu grundlegend Robert Brandom, »Freiheit und Bestimmtsein durch Normen«, in: h. Khurana, Ch. Menke (Hg.), Paradoxien der Autonomie, Berlin 2011, S. 61­89. 6 Dies führt dann im Weiteren zu dem Gedanken, dass »Responsivität gegenüber Gründen« selbst eine hilfreiche Erläuterung von Freiheit sein mag. Vgl. hierzu John McDowell, Geist und Welt, übers. v. h. Blume u. a., Frankfurt/M., S. 23. 11 dem Reich der Natur genauer verstehen können. Dies führt uns zu einem zweiten Ausgangspunkt in der gegenwärtigen Diskussi­ on: zur Bestimmung des Reichs der Normativität als einer zweiten Natur. Um nicht einer unüberwindlichen Kluft zwischen dem na­ türlichen Reich der Ursachen und dem freiheitlichen Raum der Gründe ausgesetzt zu sein, die diesen übernatürlich und unwirk­ lich erscheinen lassen würde, hat John McDowell an den Begrif der zweiten Natur erinnert. Dieser Begrif soll es uns erlauben, die natürliche Wirklichkeit des Normativen einzusehen, ohne es auf etwas bloß Natürliches zu reduzieren. Wir begreifen diese Wirk­ lichkeit vielmehr, indem wir erkennen, dass dem Normativen eine Natur eigener Art entspricht. Der Raum der Gründe wird durch begriliche Fähigkeiten konstituiert, die uns im Rahmen unserer normalen und natürlichen Entwicklung zur zweiten Natur werden. Die folgenden Überlegungen zielen darauf, im Rückgang auf den Begrif des Lebens genauer zu bestimmen, wie wir den Begrif und Status einer solchen zweiten Natur verstehen müssen. Im Ge­ gensatz zu der wiederholt von McDowell vertretenen hese, dass der Begrif der zweiten Natur eine bloße Erinnerung an die uns eigentlich bereits geläuige Natürlichkeit des Normativen darstelle, wird im Folgenden allerdings angenommen, dass der Begrif der zweiten Natur eine konstruktive Aufgabe zu übernehmen hat. Er dient der Explikation des Werdens und der Wirklichkeit der Frei­ heit: Wenn das Reich der Freiheit nur als eine zweite Natur existie­ ren kann, dann bedeutet dies, dass das Werden und Sein der Frei­ heit im Ausgang von der Natur zu verstehen ist. Freiwerden heißt, aus der ersten Natur herauszutreten. Freisein heißt, eine freie Natur anderer Art zu verwirklichen. Der Begrif der zweiten Natur zielt so auf eine gewordene Natur, ein gesetztes Sein. Wie im Folgenden deutlich werden soll, ist der Begrif der zweiten Natur dabei nur im Ausgang von einer ersten Natur, die lebendig ist, richtig zu ver­ stehen. Zweite Natur ist keine zweite anorganische Natur, sondern eine zweite Form lebendiger Natur. Zweitens gilt es zu zeigen, dass eine zweite Natur nur dann eine Form der Wirklichkeit der Freiheit sein kann, wenn es sich dabei um eine Form der Natur handelt, die ein anderes Verhältnis zu ihrem Gewordensein hat. Zweite Natur bezeichnet so nicht die Form eines schlicht wieder Natur gewor­ denen Geistes, sondern eine Weise, die Diferenz von Natur und Geist innerlich auszutragen. 12 3. Kontexte: Ethischer Naturalismus, Biopolitik, Lebensform Indem die folgenden Überlegungen den Begrif des Lebens auf­ nehmen, um ein vertieftes Verständnis der Form der Freiheit und ihrer Genese und Wirklichkeit zu gewinnen, nehmen sie einen Begrif in Anspruch, der gegenwärtig eine breite Aufmerksamkeit insbesondere in der praktischen Philosophie erhält. Obwohl diese gegenwärtigen Diskussionen rund um den Lebensbegrif in der fol­ genden Darstellung nicht in den Vordergrund treten werden, will ich an dieser Stelle drei Kontexte kurz erwähnen, vor deren Hin­ tergrund sich die systematische Stoßrichtung der folgenden Arbeit etwas weiter konturieren lässt: die Diskussionen um den ethischen Naturalismus, die Debatte um die biopolitische Struktur der Mo­ derne und das normativitätstheoretische Interesse am Begrif der Lebensform. Diese drei Stränge der gegenwärtigen Diskussion le­ gen alle auf ihre je eigene Weise nahe, dass die Struktur ethischer oder politischer Normativität nur im Ausgang vom Lebensbegrif richtig erschlossen werden kann. Im Rahmen des ethischen Naturalismus begegnen wir der Idee, dass das ethisch Gute eine Form des natürlich Guten – das natür­ lich Gute des Menschen – sei.7 Um die Form unserer normativen Urteile zu begreifen, wird uns so der Blick auf unsere Urteile über lebendige Wesen empfohlen, die wir auf Grundlage von naturhis­ torischen Urteilen über ihre jeweilige Spezies als gesund oder defekt beurteilen können.8 Ethische Urteile hätten, so die hese, diesel­ be grundlegende Struktur, in dem Sinne, dass sie die Operationen oder Merkmale eines Handelnden vor dem Hintergrund von na­ turhistorischen Urteilen über die menschliche Lebensform als gut oder schlecht, als »gesund« oder »defekt« im übertragenen Sinne verstehen. Die Quelle des Normativen liegt vor diesem Hinter­ grund nicht etwa in Pro­Einstellungen von Handelnden, sondern in Formmerkmalen der Spezies des Menschen. Die Diferenz, die sich zwischen bloß lebendigen und vernünftigen Lebewesen auf­ 7 Vgl. exemplarisch Philippa Foot, Die Natur des Guten, übers. v. M. Reuter, Frank­ furt/M. 2004. 8 Vgl. hierzu grundlegend Michael hompson, Leben und Handeln. Grundstrukturen der Praxis und des praktischen Denkens, übers. v. M. Haase, Frankfurt/M. 2011. 13 tut, läge dann nur noch im speziestypischen Inhalt des jeweiligen Guten, nicht aber in der grundlegenden Form der betrefenden Normativität. Obwohl es so scheinen könnte, als hätten die Ausführungen im Folgenden eine ähnliche Stoßrichtung, da auch sie auf eine for­ male Analogie zwischen lebendiger Natur und normativem Geist verweisen, sind sie dem ethischen Naturalismus in einer wesentli­ chen Hinsicht entgegengesetzt. Zum einen legen sie einen anderen Begrif des Lebendigen zugrunde, demgemäß schon dessen Nor­ mativität nicht durch die äußerliche Beziehung von Formaussagen und Einzelaussagen abgebildet werden kann.9 Zum anderen gehen sie davon aus, dass bloß lebendige Wesen und geistige Wesen sich nicht allein durch den Inhalt ihres jeweiligen Guts unterscheiden, sondern formal unterschieden sind. Bei den normativen Urteilen über menschliche Merkmale und Operationen handelt es sich um Urteile in der ersten Person plural – und zwar nicht allein in der Weise, dass das beurteilte Objekt zufälligerweise wir selbst sind, sondern in dem Sinne, dass die Normativität dieses Urteils wesent­ lich an diesem Selbstbezug hängt.10 Wenn der Begrif des Lebens uns etwas an der Struktur der Normativität erschließen kann, dann gerade die Selbstkonstitutivität des Normativen. Der Punkt, an dem Leben und Geist sich berühren, ist daher nicht in erster Linie Gesundheit und Krankheit, sondern: Freiheit und Unfreiheit. Die zweite zeitgenössische Diskussion, auf die das Folgende zu beziehen ist, betrift den Begrif der Biopolitik. Wenn die moder­ ne Politik als Biopolitik charakterisiert wird, so soll dies besagen, dass diejenige Materie, die in der Moderne zum eigentlichen Ge­ genstand und Modell politischer Gestaltung wird, das natürliche Leben des Menschen selbst ist.11 Moderne Politik bezieht sich 9 Zu einer anderen Aufassung der Normativität des Lebendigen, die gerade nicht seine bloße Normalität, sondern seine normensetzende Kraft beschreibt, vgl. Georges Canguilhem, Das Normale und das Pathologische, übers. v. M. Noll, R. Schubert, Berlin 2012. 10 Vgl. hierzu hompsons Aufsatz »Apprehending Human Form«, in dem bereits deutlich wird, dass es an dieser Stelle einen Formunterschied geben muss, da vernünftige Wesen nicht unter eine Lebensform fallen, sondern sich durch Ur­ teile in der ersten Person selbst unter diese bringen. Siehe Michael hompson »Apprehending Human Form«, in: A. O’Hear (Hg.), Modern Moral Philosophy, Cambridge 2004, S. 47­74. 11 Vgl. grundlegend Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum 14 nach dieser Diagnose auf ihre Subjekte nicht als politisch­geistige Wesen, deren Handlungen politisch organisiert, regiert oder be­ herrscht werden müssen, sondern zunächst als lebendige Wesen, deren lebendige Kräfte geformt, bewirtschaftet und gelenkt wer­ den müssen. Wenn es zutrift, dass das Werden, die Form und die Wirklichkeit der Freiheit wesentlich lebendig sind, dann könnte das zunächst dafürsprechen, dass die Politik notwendig Biopolitik ist. Was das allerdings genauer heißen könnte, hängt davon ab, was unter Leben hier näher gefasst werden soll und welche Rolle diesem für die Freiheit genauer zukommt. Jener Lebensbegrif, durch den hier der Begrif der Freiheit erhellt werden soll, ist keine biologische Kategorie, sondern einen Begrif, der seinen wesentlichen Ort in unserem praktischen Selbstverständnis gewinnt. Und die Weise, in der die Freiheit dabei ein Leben besitzt, ist nicht von der Art, dass Freiheit und Leben zusammenfallen, sondern dass sie durch ihre Diferenz zusammengehalten werden. Die hier ausgeführte Positi­ on kann mithin gerade nicht so gedeutet werden, dass das Leben der Freiheit auf ein natürliches Leben zu reduzieren wäre und sei­ ne Gestaltung in der Maximierung seiner lebendigen Kräfte liegen könnte. Das menschliche Leben ist vielmehr wesentlich politisch, weil ihm die Diferenz von Freiheit und Natur, Mensch und Tier innerlich ist.12 Das Leben, um das es im Folgenden gehen soll, ist weder ein schlicht biologisches Phänomen noch ein politisches Artefakt (das nackte Leben als ein seiner Form beraubtes Leben). Das Leben, um das es im Folgenden gehen wird, ist vielmehr das Leben der Freiheit: eine Relexionskategorie unseres Selbstverständnisses als prak­ tische Wesen. Unter den gegenwärtig kursierenden Lebensbegrifen hat diese Kategorie die größte Nähe zum Begrif der Lebensform, den Wittgenstein in der Relexion auf die Form unserer Normati­ vität geprägt hat. Diese Relexionskategorie kann unser Verständnis von Normativität und Freiheit dabei in zwei Richtungen vertie­ fen: Sie erlaubt uns Freiheit und Normativität genealogisch auf Wissen, übers. v. U. Raulf, W. Seitter, Frankfurt/M. 1983, S. 159­190; Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 1997; Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. v. H. hüring, Frankfurt/M. 2002. 12 Vgl. zu einem solchen Begrif der Politik Giorgio Agamben, he Use of Bodies, übers. v. A. Kotsko, Stanford 2016, S. 208. 15 das natürliche Leben zurück zu beziehen und so einen problema­ tischen Dualismus von Natur und Freiheit, Leben und Geist in Frage zu stellen, der unser Verständnis der genuinen Wirklichkeit der Freiheit gefährdet. Sie ermöglicht es uns auf der anderen Seite, die Frage nach der besonderen freien oder geistigen Lebensform zu stellen, durch die sich das Reich des Normativen verwirklicht. In der gegenwärtigen Diskussion scheint der Gedanke, dass uns die für unsere kulturelle Existenz konstitutiven Regeln im Sinne einer »Lebensform« gegeben sind, vor allem darauf zu zielen, die Unhintergehbarkeit dieser Regeln hervorzuheben.13 Wie sich im Folgenden zeigen wird, liegt die Pointe des hier entwickelten Ge­ dankens aber woanders: Wenn die Freiheit im natürlichen Leben ihre genealogische Vorgeschichte hat, dann nur deshalb, weil be­ reits dieses Leben eine innere Prozessualität aufweist, durch die es über jeweils gewonnene Formen wieder hinausgeht. Die Verwirk­ lichung des Geistes in Gestalt einer Lebensform ist zudem nicht so zu verstehen, dass der Geist darin einfach zur Form eines natür­ lichen Lebens zurückkehren würde. Zweite Natur ist eine ebenso notwendige wie beschränkte Form, in der sich der Geist realisiert. Seine Freiheit besteht darin, in einem ofenen Verhältnis zu jener zweiten Natur zu verbleiben, was sich nicht zuletzt in ihrer immer neuen Infragestellung und Überschreitung zeigt. Das Leben des Geistes gibt es somit nur durch einen Abstand des Geistes von sei­ nen Vergegenständlichungen und durch eine innere Pluralität von Lebensformen. 4. Umriss: Von Kant zu Hegel Um den Zusammenhang von Leben und Freiheit im Detail zu ent­ wickeln, wenden sich die folgenden Überlegungen im ersten Teil Kant und im zweiten Hegel zu. Dabei werden das kritische Werk Kants und die entwickelte Gestalt des hegelschen Systems im Vor­ dergrund stehen. Der erste Teil verdeutlicht, dass Kant eine interne Beziehung von Freiheit und Leben andeutet, die er aber zugleich nicht zur Grundlage seiner Konzeption der Autonomie macht. He­ gels Verhältnis zu Kant kann man auf eine neue und prägnante 13 Siehe allerdings mit gegenläuiger Stoßrichtung Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Berlin 2014, insbes. S. 119­121. 16 Weise verstehen, wenn man sieht, wie Hegel die von Kant ange­ deutete Beziehung von Autonomie und Leben in seiner Explikati­ on der Freiheit des Geistes systematisch ausführt. Am Leitfaden des Lebensbegrifs ergibt sich so ein neues Verständnis der Bewegung von Kant zu Hegel, das zugleich besondere Ressourcen erschließt, um die Form und Wirklichkeit der Autonomie zu begreifen. 4.1 Erster Teil: Kant und die Analogie von Leben und Freiheit Der erste Teil sucht zu zeigen, dass ein volles Verständnis des Be­ grifs der Autonomie, mit dem Kant die praktische Philosophie der Moderne revolutioniert hat, nur im Rückgang auf den Begrif des Lebens möglich ist. Das ist ein mindestens kontra­intuitiver Gedanke, da Kant kaum eine Gelegenheit auslässt, den Imperativ der reinen praktischen Vernunft von den Vorgaben unseres sinn­ lichen Lebens abzusetzen. Die besondere Bedeutung, die der Idee lebendiger, sich selbst organisierender Wesen in Kants Konzeption aber nichtsdestotrotz zuwächst, wird vor dem Hintergrund zweier grundlegender Probleme der kantischen Konzeption deutlich: der Paradoxie der Autonomie (Kapitel I) und dem Problem der Wirk­ lichkeit der Freiheit (Kapitel II). Die Diskussion von Kants Autonomielehre zerfällt in der gegen­ wärtigen Literatur in zwei einander gegenüberstehende Fraktionen: konstruktivistische und realistische Lektüren. Während die realisti­ schen Deutungen den Konstruktivismus verdächtigen, die Gesetze der Freiheit dem subjektiven Belieben anheimzustellen und eine Form von Antirealismus zu vertreten, verdächtigen die konstruk­ tivistischen Lesarten die realistischen Interpretationen, den eigen­ tümlichen Status des Normativen zu verkennen und Kants Moral der Freiheit in eine Feier des Gegebenen zu verwandeln. Anhand dieser Debatte, die ich hier nicht als solche näher verfolgen werde,14 tritt ein doppeltes Problem hervor, vor das uns die Idee der Auto­ nomie stellt: Sie scheint zu verlangen, dass wir uns in einem ersten 14 Vgl. hierzu Jochen Bojanowski, der überzeugend dafür argumentiert, dass Kants Autonomielehre weder als moralischer Antirealismus noch als moralischer Rea­ lismus begrifen werden kann. Als Titel für Kants dritte Position schlägt er »mo­ ralischer Idealismus« vor – siehe »Is Kant a Moral Realist?«, in: Kant Yearbook 4:1 (2012), S. 1­22. 17 Akt der Einsetzung an eine Norm binden, ohne durch anderes dazu bestimmt zu sein. Das bedeutet jedoch, dass am Grund der autono­ men Ordnung ein grundloser Akt der Einsetzung und also Willkür steht. Nehmen wir stattdessen an, dass wir Gründe dafür hatten, uns dieses und nicht jenes Gesetz zu geben, dann scheint der au­ tonomen Einsetzung ein anderes Gesetz vorauszugehen, das wir uns nicht selbst gegeben haben. Autonomie scheint also entweder Willkür oder Heteronomie vorauszusetzen und sich somit selbst zu widerstreiten. Mehr noch: Die Drohung, in Willkür umzuschla­ gen, lässt uns bei vorab gegebenen Gründen Zulucht suchen, und die Gefahr, Autonomie so in Heteronomie zu verwandeln, lässt uns zur grundlosen Setzung zurückkehren. Wir drehen uns mithin im Kreis zwischen anti­realistischen und realistischen Deutungen der Autonomie. Im Rückgang auf den Begrif des Lebens kann man hingegen ein Verständnis der Autonomie entwickeln, das weder einen mo­ ralischen Anti­Realismus noch einen moralischen Realismus im­ pliziert, sondern dem Sittlichen eine praktische Realität eigener Art zugesteht. Die Figur der Autonomie verlangt nicht, dass wir in einem – sei es grundlosen oder bereits begründeten – Akt die Ge­ setze unseres Handelns einsetzen; sie beschreibt vielmehr Gesetze, durch die wir uns als die Handelnden, die wir sind, selbst kon­ stituieren. Kants Begrif sich selbst organisierender Wesen aus der dritten Kritik erlaubt es uns, ein genaueres Verständnis dieser Idee der Selbstkonstitution zu gewinnen und auch auf den Verdacht, dass die Idee der Selbstkonstitution das Paradox der Autonomie lediglich wiederholt, zu antworten. Wenn dennoch nur einzelne Autoren der Idee nachgegangen sind, dass Kants Gesetz der Autonomie im Ausgang von Geset­ zen des Lebendigen verstanden werden muss,15 dann deshalb, weil Kant in seinen praktischen Schriften selbst vor allem den materiel­ len und formalen Gegensatz zwischen Autonomie und Leben be­ tont. Seine Beschreibungen aus der dritten Kritik legen zwar nahe, dass er die formale Analogie zwischen lebendigen und praktischen 15 Vgl. insbesondere Christine Korsgaard, Self-Constitution: Agency, Identity, and Integrity, Oxford 2009; Sebastian Rödl, Selbstbewußtsein, Berlin 2011, Kap. 4; Robert Hanna, »Freedom, Teleology, and Rational Causation«, in: Kant Yearbook 1 (2009), S. 99­142. 18 Wesen für wesentlich hält.16 Die Analogie bleibt aber aus seiner Perspektive dadurch scharf begrenzt, dass lebendigen Wesen jenes Vermögen transzendentaler Freiheit fehlt, das Kant für eine unver­ zichtbare Bedingung aller praktischen Freiheit hält. Es gibt noch ein zweites Problem der Autonomiekonzeption, das uns bei Kant auf den Begrif des Lebens verweist: das Problem der Wirklichkeit der Freiheit. Es zeichnet Kants Autonomiebegrif aus, dass dieser sich nicht auf eine negative Bestimmung der Freiheit als Unbestimmtheit beschränken will, sondern Freiheit als positive Bestimmung besonderer Art zu fassen versucht. Dabei wird der Ty­ pus der positiven Bestimmung zugleich dem heteronomen Typus von Bestimmung, der die Natur kennzeichnet, so entschieden ent­ gegengesetzt, dass das Reich der Natur und das Reich der Freiheit wie zwei nebeneinanderstehende Welten erscheinen können, die von einer Kluft getrennt werden. Ein genaueres Bild der kantischen Konstruktion, das ich im zweiten Kapitel dieser Arbeit entwerfen werde, kann aber deutlich machen, dass das Reich der Natur und das Reich der Freiheit nicht auf diese Weise nebeneinander und bloß für sich bestehen können. Zwar schreibt Kant der Freiheit eine genuine und unmittelbare Form der Wirklichkeit zu, die sich im reinen Bewusstsein des Sollens manifestiert. Zugleich ist aber deutlich, dass es sich hier nur dann um ein Sollen im vollen Sinne handelt, wenn sich diese genuin praktische Wirklichkeit in einem Prozess der Verwirklichung ausdrückt, durch den Freiheit sich als Tatsache in natürlichen Wirkungen beweist. Freiheit kann ihre vollendete Wirklichkeit mithin nur darin haben, der Sinnenwelt eine andere Form zu verleihen und sich im Reich der Natur zu ma­ nifestieren. Wenn sich Freiheit aber wesentlich in ihren Wirkungen an der Natur erweisen muss, kann sie ihre Wirklichkeit nicht in einer abgetrennten Sphäre haben. Sittlichkeit existiert daher, wie Kant in der dritten Kritik bemerkt, als eine »zweite (übersinnliche) Natur« (KU 5:275). Um die Möglichkeit einer solchen zweiten Natur zu verstehen – einer Natur, die in Freiheit gründet, einer Freiheit, die als Natur erscheint –, müssen wir nun aber erneut den Lebensbegrif in Be­ tracht ziehen. Das gilt auf einer ersten Ebene in dem Sinne, dass 16 Kant hebt an einer Stelle sogar explizit heraus, dass diese Analogie uns mehr über die praktische Vernunft lehren könne als umgekehrt über lebendige Wesen (vgl. KU 5:375). 19 die Natur, die durch Freiheit transformiert werden kann, nur eine lebendige Natur sein kann. In der dritten Kritik wird deutlich, dass es rätselhaft bleiben muss, wie es überhaupt möglich sein kann, dass sich die Zwecke der Freiheit in der Natur realisieren, wenn wir allein auf den Naturbegrif der ersten Kritik festgelegt wären. Anhand lebendiger Wesen wird uns aber deutlich, dass wir ohnehin Grund haben, die Natur unter dem Prinzip der Zweckmäßigkeit zu beurteilen, wenn wir der Gesetzmäßigkeit des Zufälligen gerecht werden wollen, die sich in ihr zeigt. Wir beurteilen die Natur in diesem Sinne als ein ofenes System der Zwecke und erfahren sie so als eine organisierbare Materie, die zum Medium eines Reichs der Zwecke werden kann. Die Operationen der zweckmäßigen Trans­ formation der Natur inden sich dabei in Lebensprozessen bereits präiguriert, die auch die Struktur haben, den Mechanismus der Natur zweckmäßig überzudeterminieren. Die zweite Natur der Sittlichkeit erweist sich so als eine zweite Form lebendiger Natur. Das Paradigma, durch das Kant andeutet, wie eine solche zweite Natur möglich ist, die Ideen ausdrückt und die sinnliche Natur über sich selbst hinausweisen lässt, ist die Kunst. Auch mit Blick auf das zweite Grundproblem der Autonomie kann der Lebensbegrif aus Kants Perspektive jedoch nicht die ab­ schließende Lösung enthalten. Statt sich auf die Neubestimmung der Natur zu konzentrieren, die eine Verwirklichung der Freiheit möglich macht, und jene Operationen genauer zu umreißen, durch die wir die zweite Natur schafen, führt Kant vielmehr transzen­ dente Garanten der möglichen Realisierbarkeit der Freiheit ein. Da Natur und Freiheit in Kants Beschreibung einander letztlich irre­ duzibel heterogen bleiben, kann nur eine transzendente Instanz da­ für sorgen, dass beide zusammenstimmen. Das wird insbesondere im Rahmen der kantischen Diskussion des höchsten Guts deutlich. Sofern uns das Reich der Freiheit auf die Verfolgung des höchsten Guts verplichtet – das heißt auf die vollkommene und proporti­ onierte Realisierung von Tugend und Glückseligkeit –, nötigt sie uns zum Postulat Gottes und der Unsterblichkeit der Seele. Die Realisierung vollkommener Tugend erfordert eine unendliche Be­ wegung des Strebens, und das Zusammentrefen von Tugend und Glückseligkeit kann in der Natur, wie wir sie kennen, nur zufällig sein. Allein ein verständiger und moralischer Welturheber vermag daher, ihre Zusammenstimmung zu ermöglichen. 20