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300 Thomas Khurana I. Die Anthropologie stellt im Rahmen der Enzyklopädie das »Scharnier«3 zwischen der Naturphilosophie und der Philosophie des Geistes dar und betrifft in diesem Sinne den »Übergang von der Notwendigkeit zur Freiheit« (Enz. In, § 3812,24). Sie gilt dem Geist »in seinem Naturzustande« (VPG 1822, 8) und behandelt unter dem Titel der »Seele« den »Schlaf« und das »Erwachen« des Geistes in der Natur. Die Seele ist, wie Hegel sagt, »der Schlaf des Geistes; - der passive nous des Aristoteles, welcher der Möglichkeit nach Alles ist« (Enz. In, § 389,43). Die Anthropologie beschreibt, wie dieses unbestimmte Potential, Alles zu sein, in bestimmterer Gestalt realisiert wird, so dass sich die entwickelten Formen des subjektiven Geistes auf dieser Grundlage herausbilden können. Hegel erläutert diese Bewegung durch drei Stufen - die der natürlichen Seele, der fühlenden Seele und der wirklichen Seele - und bestimmt die Gewohnheit als jenen »Mechanismus des Selbstgefühls«, der den Schritt von der natürlichen zur wirklichen Seele ermöglicht. Die Gewohnheit spielt so eine entscheidende Rolle für die Verwirklichung des Geistes. Wäre es dem Menschen nicht möglich, Gewohnheit auszubilden, könnte in ihm kein subjektiver Geist rege werden. 4 Die »wesentliche Bestimmung« der Gewohnheit ist hierbei für Hegel die der »Befreiung« (Enz. In, §410A, 185): Durch Gewohnheit eröffnet sich für den Menschen die Möglichkeit, sich von natürlichen Bestimmungen frei zu machen und neue, durch seine Tätigkeiten - Wiederholungen und Übungenselbst gesetzte Bestimmungen zu etablieren. Die Gewohnheit ermöglicht diese Bestimmungen nicht im Sinne einer willkürlichen Wahl zwischen gegebenen Strebungen oder einer inneren Setzung einer Absicht, deren Wirklichkeit zunächst noch fraglich bleiben muss. Die Gewohnheit ermöglicht diese vielmehr so, dass sie in Form einer zweiten Natur, einer gesetzten Unmittelbarkeit Wirklichkeit gewinnen. Die gewohnten Bestimmungen sind in diesem 3 4 So auch Sandkaulen (2010,35). Ganz in diesem Sinne spricht Hegel dem sogenannten» Tier« die Gewohnheit im eigentlichen Sinne ab. Das» Tier« steht dabei in mehrfacher Hinsicht an der Schwelle zur Gewohnheit, überschreitet diese aber nicht: So kann man zwar (i) den für eine Art charakteristischen Zusammenhang der Teile eines Organismus »Habitus« nennen (Enz. II, § 368A, 501); das Tier verhält sich zu diesem Zusammenhang aber nicht wie zu einer erworbenen Gewohnheit. Zweitens weisen manche Tiere (ii) erworbene Verhaltens dispositionen auf, die einer Gewohnheit nahekommen; sie sind dafür aber auf das Gewöhnt- und Dressiertwerden durch Menschen angewiesen (VGP 1825,367; vgl. aber VGP 1827/28,131) und beziehen sich daher in diesen Gewohnheiten nicht auf sich selbst. Schließlich (iii) vermögen Tiere sich so in ihrer Art und in ihrem Typus einzuleben, dass das Leben zur »prozeßlosen Gewohnheit« (Enz. II, § 375, 535) wird. Dies ist aber keine Gewohnheit, die das Tier haben und unterhalten kann, sondern vielmehr »die Gewohnheit des Lebens« selbst, an der es stirbt. (Enz. II, § 375Z, 536). »Die Gewohnheit des Rechten« 301 Sinne weder bloß äußerlich gegebene Inhalte, zwischen denen gewählt wird, noch bloß subjektive Absichten, die zu verwirklichen bleiben, sondern objektive Bestimmungen, die das Subjekt in Besitz genommen hat. Das Subjekt ist so in den durch Gewohnheit gesetzten und angeeigneten Bestimmungen, wie Hegel sagt, bei sich selbst. 5 Es verwirklicht sich, mit anderen Worten, in dem, was es gewohnt ist und gewohnheitsmäßig ausübt. In Hegels Darstellung geschieht diese Verwirklichung der Seele in ihren Gewohnheiten im Einzelnen dadurch, dass sich die Seele durch Wiederholung und Übung (i) gegen äußerliche Empfindungen abhärtet, (ii) Begierden und Triebe durch die Gewohnheit ihrer Befriedigung (nicht: durch ihre Unterdrückung) abstumpft und (iii) durch die Ausbildung von Geschicklichkeit ihre Zwecke in ihre Leiblichkeit einbildet. Während Abhärtung und Abstumpfung vor allem beschreiben, wie die Seele sich negativ von Bestimmungen ihrer gegebenen Natur frei macht, zeigt die Geschicklichkeit, wie die Seele sich durch Gewohnheit so neu bestimmt, dass sie in ihren Bestimmungen bei sich selbst ist. Sie bildet neue Handlungsmuster aus, die sie wesentlich ausmachen und zu ihrem Sein gehören, und formt ihren Leib zu einem Werkzeug ihrer Zwecke um. Sie bildet so durch Wiederholung eine neue, selbstgesetzte OZ, 191) aus, die über und zugleich »allgemeine Weise des Tuns« (Enz. III Leben Gemäße« das hinausgeht, wozu der Leib als »das dem von selbst geschickt ist (Enz. III §410Z, 190). Wodurch zeichnen sich nun aber die Wiederholungen Gewohnheit im Unterschied zu bloßen Lebensvollzügen näher aus? Diese drängt sich vor allem darum auf, weil bereits die Vollzüge lebendiger Wese,n für Hegel wesentlich durch Wiederholung gekennzeichnet sind. In diesem Sinne" spricht Hegel davon, dass das, was in den Banden der Natürlichkeit befangen' bleibt, durch »leere Wiederholung des Anfangs« und »langweiligen Kreislauf« charakterisiert sei (Enz. III, § 399Z, 95). 6 Das Sein des Lebendigen ist, wie Hegel unterstreicht, wesentlich Reproduktion: »Nur als dieses sich Reproduzierende, nicht als Seiendes, ist und erhält sich das Lebendige« (Enz. II, § 352,435). Dieses Sichreproduzieren geschieht im Falle des Animalischen durch drei differenzierte Prozesse - den Prozess der Gestalt, den Prozess der Assimilation und den Prozess der Gattung - durch die das Lebewesen sich erhält oder, anspruchsvoller ausgedrückt: sich in das verwandelt, was es ist. An dieser Bestimmung imponiert zunächst, dass das Lebendige nicht als Seiendes, sondern nur als Prozess das ist, was es ist. Nicht minder bedeutsam aber ist, dass dieser Prozess des unablässigen Werdens sich dabei in Gestalt von sich wiederholenden Vorgängen realisiert, die das Lebendige 5 6 Zum »Bei-sich-selbst-Sein-im-Anderen« als einer Grundfigur von Freiheit vgl. GPhR, § 7Z, 57 sowie Enz. I, § 24Z2, 84. Vgl. auch VG, 70 u. 149. 302 Thomas Khurana zu sich selbst zurückkehren lassen. Sie lassen das Individuum wachsen (das heißt: in seiner Erweiterung zu sich zurückkehren), sich erhalten (das heißt: sich unablässig in das verwandeln, was es ist) und schließlich sich in einem neuen Individuum reproduzieren (das heißt: in seiner Reproduktion zu seiner Anlage zurückkehren, von neuem beginnen und verschwinden). Wenn aber schon das Lebendige so begriffen werden kann, dass es sich wiederholt und nur dadurch die ihm eigene Form setzt, wie unterscheidet sich die Operationsweise der Gewohnheit dann überhaupt von der Prozessform des Lebendigen? Betrachten wir nur die Form des Prozesses der Assimilation nach seiner praktischen Seite um einen Eindruck von den Besonderheiten und Grenzen der lebendigen Wiederholungsstruktur zu gewinnen.? Der praktische Prozess der Assimilation, durch den das lebendige Wesen sich so auf sein anderes (die unorganische Natur) bezieht, dass es sich dadurch erhält, ist elementar durch das Gefühl des Mangels und den Trieb ihn aufzuheben (Enz. III, § 359, 468ff.) gekennzeichnet. In diesen beiden Momenten zeigt sich schon, was die Wiederholungsstruktur auf dieser Ebene noch auszeichnet: Zufall und Notwendigkeit. 8 Das Gefühl des Mangels (das Bedürfnis) ergibt sich dabei zwar schon nicht mehr als bloß mechanisches Einwirken äußerer Ursachen, sondern als ein Erregtwerden durch Potenzen, die nur für das lebendige Wesen diese Signifikanz haben. Dennoch haftet diesem Gefühl eine bestimmte Form der Zufälligkeit an, da das Bedürfnis stets ein bestimmtes ist und auch nur durch ein Bestimmtes auf begrenzte Weise befriedigt / / ! 7 8 Im Rahmen einer ausführlicheren Untersuchung hätte man hier auch den Prozess der Gestalt sowie den Prozess der Gattung zu untersuchen. Was den Prozess der Gestalt - die innere Gliederung des lebendigen Wesens zu einem Ganzen aus Momenten - anbetrifft, ist die von Hegel hervorgehobene innere Gleichheit und Symmetrie der Gestaltung hervorzuheben, die er der Asymmetrisierung durch »Beschäftigung, Gewohnheit, Tätigkeit, Geistigkeit überhaupt« kontrastiert (Enz. II, § 355Z, 458). Hinsichtlich des Gattungsprozesses ist es von besonderer Bedeutung, dass die lebendige Reproduktion noch nicht zu einer vollendeten Vermittlung von Besonderem und Allgemeinem in Gestalt eines Einzelnen, das in seiner Besonderheit für sich zugleich allgemein ist, gelangt, sondern die Reproduktion des Allgemeinen nur durch eine schlecht unendliche Kette von Besonderen gelingt. In der Reproduktion verschwinden die besonderen lebendigen Individuen und werden durch ein neues, abermals partikulares Individuum ersetzt, für das dasselbe gelten wird. Dass in der lebendigen Reproduktion sich manifestierende Allgemeine bleibt so wesentlich abstrakt und kann nie konkret in einem Einzelnen, das für sich allgemein ist, auftreten. Notwendigkeit und Zufälligkeit versteht Hegel dabei als die doppelte Gestalt, in der das Dasein der Natur noch nicht das der Freiheit ist: »Die Natur zeigt daher in ihrem Dasein keine Freiheit, sondern Notwendigkeit und Zufälligkeit.« (Enz. II, § 248, 27) Zufälligkeit in dem hier beschriebenen Sinne hat hier also nicht den Charakter der Freiheit, nicht einmal den einer negativen, sondern entspricht einem bestimmten Typ von Notwendigkeit: »Zufälligkeit ist dasselbe wie äußerliche Notwendigkeit, d. h. eine Notwendigkeit, die auf Ursachen zurückgeht, die selbst nur äußerliche Umstände sind« (VG, 29). »Die Gewohnheit des Rechten« 303 werden kann (Enz. III, § 360, 472f.). Der Trieb, das Bedürfnis aufzuheben, wiederum geht zwar darauf, dem Bedürfnis den Mangel seiner Bestimmtheit zu nehmen; die Befriedigung des Bedürfnisses geschieht aber immer nur im Einzelnen und gelangt im Lebendigen nur bis zur Gestalt des Instinkts, demgemäß die Beseitigung des Mangels auf eine starre und partikulare Weise geschieht. Hegel schreibt: »Weil das Tier, das sich hier als unmittelbar Einzelnes verhält, die nur im einzelnen nach allen Bestimmungen der Einzelheit (dieses Orts, dieser Zeit usf.) vermag, so ist diese Realisierung seiner seinem Begriffe nicht angemessen, und es geht aus der Befriedigung fortdauernd in den Zustand des Bedürfnisses zurück« (Enz. III, § 362,475). Das Tier reagiert auf anfallende, in diesem Sinne: zufällige Bedürfnisse durch instinktive, in diesem Sinne: notwendige Handlungen, die das Bedürfnis aber nie allgemein, sondern immer nur im Einzelnen befriedigen können. Daher ergibt sich die Bewegung der Assimilation als endlose Reihe von wiederholten triebhaften Handlungen in Reaktion auf sich immer wieder reproduzierende Bedürfnisse. Die Form der Wiederholung gelangt in Gestalt des Instinkts dabei zu einer Bestimmtheit und Notwendigkeit des Handelns, die immer von der Zufälligkeit des Bedürfnisses abhängig bleibt. Die so implizierte Zufälligkeit des Handelns drückt nicht eine Freiheit des Wesens selbst aus, da sie dem Lebewesen widerfährt und es neuer äußerer Notwendigkeit unterwirft. Das Tier befriedigt zwar Bedürfnisse, darin aber nicht wirklich sich selbst (oder: sein Selbst): es befriedigt sich nicht auf allgemeine Weise. 9 Die Wiederholung des Triebs behält also den Charakter der Partikularität und nimmt eben darin die Form einer schlechten Unendlichkeit an: Der Trieb, der dem Bedürfnis die Form seiner Bestimmtheit benehmen will, kann dies nur jeweils im Einzelnen und muss es darum immer wieder tun. Zufälligkeit und Notwendigkeit bedingen sich hier somit wechselseitig, führen jeweils zum anderen zurück. 10 Wiederholung geschieht darum, weil sie nicht das erreicht, wonach sie strebt. 9 10 In Gestalt der Einheit von theoretischer und praktischer Assimilation - im Bildungstrieb kommt das Tier dem allerdings nahe: »Indem im Bildungstriebe das Tier sich selbst hervorgebracht hat und doch noch dasselbe Unmittelbare ist, so kommt es erst hier zum Genusse seiner selbst, zum bestimmten Selbstgefühl« (Enz. III, § 365Z, 497). Als Charakterisierung für Hegels Auffassung des Lebens insgesamt scheint diese Qualifizierung auf gewisse Weise einseitig: Blicken wir auf das Lebendige im Unterschied zum Geistigen, mag es überzeugend scheinen, das Lebendige durch die Doppelfigur von Zufälligkeit und Notwendigkeit zu charakterisieren. Blicken wir hingegen auf das Lebendige im Unterschied zur mechanischen Natur, so betont Hegel, dass das Lebendige bereits eine »höhere Notwendigkeit« (Enz. III, § 381, 19) verkörpert: eine basale Form innerer und insofern »freier« Notwendigkeit (siehe hierzu auch die Beiträge in Khurana (2013». Wir betonen hier in diesem Sinne einseitig die verbleibende Defizienz - die »Ohnmacht« (VG, 58) - des Lebendigen, die wesentlich 304 Thomas Khurana 11. Die Wiederholungen der Gewohnheit zeichnen sich nun im ersten Schritt dadurch aus, dass sie sich negativ gegen die Wiederholungen der Bedürfnisse und der Instinkthandlungen profilieren. In der Vorlesung über die Philosophie des Geistes aus dem Jahr 1822 drückt Hegel das dadurch aus, dass er die Gewohnheit als »aufgehobenen Trieb« bestimmt (VPG 1822, 90). Die Gewohnheit zeigt sich zum einen in der Abhärtung gegen äußerliche Empfindungen - also der Abstraktion vom zufällig geweckten Bedürfnis - und zum anderen in der Abstumpfung der Begierden und Triebe durch die Gewohnheit ihrer Befriedigung. Durch die Abhärtung gegen unangenehme Reize und die regelmäßige, bedürfnisunabhängige Befriedigung wird dem Gefühl des Mangels sowie den Trieben und Begierden ihre zufällige Notwendigkeit genommen. Der Mechanismus der Gewohnheit erscheint dabei auf dieser Ebene zunächst erstaunlicherweise einfacher als der Mechanismus von Gefühl des Mangels und Trieb seiner Aufhebung. An die Stelle einer Koordination von Reiz und Handlung tritt die Unterbrechung des Zusammenhangs, die bloße Gewöhnung an Reize und die bloße Wiederholung von Handlungen. Dies erlaubt der Gewohnheit die Ausbildung neuer Vollzugstypen, die nicht allein in anfallenden Bedürfnissen ihre Ausgangsbedingung haben, sondern entweder in der bloßen Wiederholung selbst oder, wie sich in Antizipation späterer Stufen des Geistes sagen lässt, in Willensbestimmungen. Im einen Fall bringt die Gewohnheit des Wiederholens einer bestimmten Handlung selbst eine Neigung oder Tendenz zu der Handlung hervor; im anderen Falle wird eine zunächst willentlich ausgeführte Bewegung - etwa das Aufrichten - durch Wiederholung zu einem bewusstlos Gewollten, d. h. zu einem Gewohnten. ll üb die Gewohnheit aus einem »willentlichen« oder aus einem nicht weiter begründeten Vollzug entspringt; ob sie sich in ihrer Herausbildung mit spezifischen Auslösebedingungen assoziiert oder bloß zyklisch wiederkehrt, in jedem Fall ergibt sie sich nicht aus einem gegebenen zufälligen Bedürfnis, das mit Notwendigkeit einen bestimmten Akt verlangt. In dieser Entkopplung liegt eine Freisetzung des Wiederholens, das sich nicht mit äußerer Notwendigkeit ergibt und nicht zur Behebung eines durch sie selbst nie abschließend gestillten Bedarfs dient, sondern das sich auf sich selbst gründet. Die Wiederholung bringt sich hier gleichsam selbst hervor. Dadurch ergibt sich ein 11 mit seiner schlecht unendlichen Struktur zu tun hat, die sich in der praktischen Assimilation ebenso zeigt wie im Gattungsprozess. »[D]ie äußerlichste, räumliche Bestimmung des Individuums, daß es aufrecht steht, ist durch seinen Willen zur Gewohnheit gemacht, eine unmittelbare, bewußtlose Stellung, die immer Sache seines fortdauernden Willens bleibt; der Mensch steht nur, weil und sofern er will und nur so lange, als er es bewußtlos will.« (Enz. Irr, §410A, 186) »Die Gewohnheit des Rechten« 305 anderes Verhältnis zwischen Wiederholung und Wiederholer: Die Wiederholung der Gewohnheit wird, selbst wenn sie zum Sein des Wiederholenden wird und sich nach der Herausbildung der Gewohnheit dessen bewusster und beliebiger Kontrolle entziehen mag, auf eine tiefere Weise von dem sich gewöhnenden Wesen selbst vollzogen als die Wiederholung der Befriedigung. Eben darin liegt für Hegel die durch die Gewohnheit geleistete Befreiung von den Bedürfnissen und Trieben: »die Befreiung ist nicht die einzelne Befriedigung, sondern in dieser Befriedigung sich auf sich selbst zu beziehen« (VPG 1827/28, 128, Hervorh. ThK). Das Entscheidende ist also, dass das Subjekt sich durch den Mechanismus der Gewohnheit auf sich selbst zu beziehen vermag. Die neue Weise des Selbstbezugs, die über das immer nur je besondere und partikulare animalische Selbstgefühl hinausgeht, hängt nun wesentlich daran, dass der Trieb durch die Gewohnheit seine Befriedigung nicht nur je einzeln und neu erfährt, sondern gleichsam auf allgemeine Weise befriedigt wird (vgl. VPG 1825, 361 ff.). Indem ich den Trieb aus Gewohnheit befriedige und nicht unter dem Druck des je besonderen Mangels, befriedige ich den Trieb als Trieb (VPG 1825, 362). Es ist zwar immer noch notwendig, dies immer wieder zu tun, aber ich befriedige den Trieb hier nicht so, als sei es nur für dieses Mal, sondern gleichsam als wäre es auch »ein für allemal« (VPG 1825,362). Durch die Wiederholung der Befriedigung wird die Befriedigung als ein bereits bekanntes gesetzt, sie wird gleichsam »erinnert«, so dass der Trieb durch die Gewohnheit künftig auf gewisse Weise schon »vor der Befriedigung befriedigt« ist (VPG 1825, 364).12 Durch die Befriedigung des Triebes hindurch bezieht sich also das Subjekt auf sich selbst: auf dasjenige, was die Wiederholung vollzieht und das als Allgemeines durch die verschiedenen Wiederholungen hindurch bestehen bleibt. Das Gewohnheitssubjekt wird sich »im Selbstgefühl das aus der Befriedigung hervorgeht, Gegenstand [... ], so wird das Selbstgefühl, zum Gefühl seiner als eines Allgemeinen« (VPG 1825,361). Der Selbstbezug, den die Gewohnheit ermöglicht zeichnet sich also dadurch aus, dass zwei Momente in ihm zusammentreffen: Aneignung und Verallgemeinerung. Der Gewöhnte vollzieht seine Akte in einer tieferen Weise als seine eigenen und als allgemeine. Auch für die Wiederholungen des Lebens 12 In der Vorlesung von 1825 macht Hegel Griesheims Nachschrift zufolge hieran den Unterschied von Geistigem und Tierischem fest: »Der Trieb wird das erste Mal befriedigt, das zweite Mal ist es nur Wiederholung ohne Neues, eine Befriedigung die schon etwas bekanntes ist. Bei Thieren ist die Befriedigung immer eine erste, nicht bekannte, beim Geistigen ist sie schon bekannt, das Subjekt ist in der Befriedigung schon im voraus in sich erinnert. In der Wiederholung der Befriedigung ist uns alles schon bekannt, es ist kein besonderer Reiz mehr, er ist abgestumpft, das Interesse ist vermindert und so geschieht es daß der Trieb auf allgemeine Weise, der Trieb als solcher ein für alle male befriedigt ist.« (VPG 1825, 362) 306 Thomas Khurana galt, dass das durch sie konstituierte Wesen die Empfindungen bereits als >seine< hatte und sich in ihnen auf gewisse Weise selbst fühlte (Enz. 111 § 401, 100ff.). Das »Mein-eigen-Sein« der Empfindungen blieb aber verglichen mit dem Mein-eigen-Sein, das durch die Idealisierung und Verleiblichung der Gewohnheit hervorgebracht wird, deutlich schwächer, 13 da die Empfindungen nur jeweils im Einzelnen angeeignet oder verleiblicht werden: »[U]m ihrer Unmittelbarkeit und des Gefundenseins willen« bleiben die Empfindungen notwendig immer »einzelne und vorübergehende Bestimmungen« (Enz. 111 § 402, 117). In der Vorlesung zur Philosophie des Geistes von 1827/28 heißt es entsprechend zum Kontrast von Empfindung und Gewohnheit: Die Individualität hat Bestimmungen, Empfindungen, diese sind zunächst ein. zelne. Ich bin da in einen Inhalt versenkt, ich erhalte mich nicht als allgemeines darin. In der Gewohnheit dagegen ist gesetzt, daß diese Befriedigungen zugleich dem Allgemeinen unterworfen, dies zugleich aus ihnen heraus, sich in seiner einfachen Beziehung auf sich erhält. [ ... ] Es ist da nicht nur einzelnes, eine momentane Befriedigung pp., sondern ich bin dies, es ist meine allgemeine Weise. (VPG 1827/28, 124) Das Entscheidende an dieser Bestimmung ist mithin, dass in der Gewohnheit das Meinige und das Allgemeine zusammentreffen. Schon für die Triebe galt in Gestalt der Instinkte, dass sie eine allgemeine Form annahmen, aber die Notwendigkeit, die in ihnen zum Ausdruck kam, blieb abhängig von bestimmten Empfindungen des Mangels und war derart keine selbstgesetzte Notwendigkeit. In der Gewohnheit beziehe ich mich nicht nur auf eine allgemeine Weise, sondern auf diese allgemeine Weise als eine durch mich gesetzte. Die Gewohnheiten sind ein »durch mich Gesetzes. Dadurch unterscheiden sich die Gewohnheiten von den natürlichen Qualitäten, zu denen ich nichts zugetan habe«. Die Tätigkeit wird hier erst dadurch und insofern allgemein, als »ich sie meinem Selbst aneigne« (VPG 1827/28, 124). Die Tätigkeit ist in dem Sinne allgemein, dass sie nicht nur von außen betrachtet vorangegangenen Vollzügen gleichförmig geschieht, sondern dass ich sie im wörtlichen Sinne »wieder hervor hole«: »Ich hole wieder hervor die Tätigkeit, die schon die meinige ist« (VGP, 129). 13 »Daß übrigens Wille, Gewissen, Charakter noch eine ganz andere Intensität und Festigkeit des Mein-eigen-Seins besitzen als die Empfindung überhaupt und der Komplex derselben, das Herz, liegt auch in der gewöhnlichen Vorstellung« (Enz. III, § 400A, 98). »Die Gewohnheit des Rechten« 307 III. Wenn wir an diesem Punkt stehen blieben, könnte es so scheinen, als wäre der zu bestimmende Kontrast recht einfach: auf der einen Seite haben wir die gleichförmige, endlose und langweilige Wiederholung des Lebens, in der das Lebewesen das Ergebnis von Wiederholungen ist, diese aber nicht als Subj ekt selbst setzt und vollzieht, sondern vielmehr durch sie gesetzt wird und ihnen unterliegt. Das Subjekt wäre das Resultat bewusstloser Wiederholungen, die eine äußere Notwendigkeit besitzen. Im anderen Fall hingegen handelte es sich um Wiederholungen, die das Subjekt gegen die äußeren Notwendigkeiten seiner lebendigen Natur setzt und selbst als seine eigenen vollzieht. Während die Wiederholungen des Lebens Wiederholungen eigentlich nur für uns sind, nicht für das lebendige Wesen, das bewusstlos aus ihnen resultiert, sind die Wiederholungen der Gewohnheiten Wiederholungen für und durch das Subjekt der Gewohnheit, das sich durch sie hindurch auf sich als allgemeines bezieht. Bewusstlose Wiederholung des Lebens stünde Selbstwiederholung des Geistes gegenüber. In der Wiederholung der Gewohnheit würde sich in diesem Sinne bereits ein Verfügen oder ein »Vermögen« des Subjekts zeigen, das sich auch so ausdrücken ließe: »ich bin vollkommen die Macht« über meine Bestimmungen (VPG 1827/28, 129; vgl. VPG 1827/28S, 734). So eingängig ein solcher Kontrast scheinen mag, so unzulänglich bleibt er jedoch angesichts der Subtilität der Hegelschen Differenzierung. Die Gewohnheit fällt hier nämlich nicht einfach auf die Seite des Geistes, sondern bildet eine Art Scharnier von Seele und Geist. Die Gegenüberstellung nimmt sich mithin komplizierter aus: Auf der einen Seite gilt, dass schon das Lebendige anspruchsvoller operiert, da es nicht einfach ein Reich äußerlicher Notwendigkeit 14 bildet und bereits auf die Möglichkeit der Gewohnheit als Wiederholung der ihm eigenen Prozesse vorzuverweisen scheint. 15 U mge- 14 15 Auch für das Lebendige gilt, dass es sich zum dem macht, was es ist und auf der Ebene des Animalischen als »Subjektivität« (Enz. II, § 350ff.) existiert. Dabei ist das Tier nicht nur äußerlich betrachtet selbstisch, sondern »beim Tiere [ist] das Selbst für das Selbst« (Enz. II, § 3512,432). Gewiss, das Selbstgefühl des Tieres ist noch nicht Selbstbewusstsein, aber umgekehrt gilt auch für die Gewohnheit noch, dass sie den Selbstbezug zunächst allein auf der Ebene des Selbstgefühls ermöglicht (vgl. zur Gewohnheit als »Mechanismus des Selbstgefühls« (Enz. III, §410A, 184)). Betrachtet man die Hegelsche Beschreibung der Prozesse der Gestalt, der Assimilation und der Reproduktion im Detail und hält sie gegen die Beschreibung der Gewohnheit, dann fallen viele Resonanzen auf. Der Prozess der Gestaltung wird als eine innerlich zweckmäßige Durchbildung des Ganzen bestimmt, die der Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit der Gewohnheit korrespondiert. Die Weise, in der der Prozess der Assimilation es dem Lebendigen erlaubt, sich gegen seine Außenwelt als Feld bloß mechanischer Einwirkungen indifferent 308 Thomas Khurana kehrt macht Hegel in seiner Beschreibung deutlich, dass die Gewohnheit immer noch oder wieder Natur ist. Wenn es stimmt, dass Wiederholung die Art ist, »wie eine Thätigkeit die Form der Allgemeinheit im Natürlichen gewinnt« (VPG 1825,403, Hervorh. ThK), dann können wir schließen, dass es eine Form der Allgemeinheit im Geistigen geben muss, die hiervon noch zu unterscheiden wäre. Wir können die Wiederholungen des Lebens und die der Gewohnheit nicht dadurch in ihrem Unterschied begreifen, dass wir bewusstlos-mechanische Wiederholungen von selbstbewussten, frei disponiblen Vermögen unterscheiden. Denn die Weise, in der das Subjekt sich in der Gewohnheit auf sich selbst bezieht und in seinem Anderen bei sich selbst ist, hat auf der Stufe der Gewohnheit eine andere Form: Überraschenderweise ermöglicht die Gewohnheit diese Selbstbeziehung gerade nicht dadurch, dass eine willkürliche Dispositionsmöglichkeit geschaffen wird, sondern vielmehr dadurch, dass das durch sie Gesetzte erneut als Natur auftritt. Die Gewohnheit vermag sich gegen die Natur durchzusetzen und das Reich des Geistigen zu eröffnen, nicht dadurch, dass sie sich über die Natur souverän erhebt oder ihr gegenüberstellt, sondern dadurch, dass sie das lebendige Wiederholen wiederholt und so die Natur selbst in Besitz nimmt, oder auch: Bestimmungen durch Naturalisierung aneignet. IV. »Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden«, schreibt Hegel: »Natur, denn sie ist ein unmittelbares Sein der Seele, - eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen und den Vorstellungs- [und] Willensbestimmtheiten als verleiblichten (§ 401) zukommt« (Enz. III § 410A, 184).16 Die Gewohnheit ist also eine doppelt refle- 16 zu setzen und diese vielmehr spezifisch wahr- und so in Besitz zu nehmen, korrespondiert offenkundig den Leistungen der Gewohnheit, durch die wir uns gegen bestimmende Größen indifferent machen und andere Bestimmungen zu setzen und in Besitz zu nehmen vermögen. Die Art und Weise, wie das Lebendige durch seine Vollzüge seine Gattung reproduziert, scheint schließlich der Gewohnheit insofern verwandt, als diese eine allgemeine Weise des Tuns hervorbringt, die anderen zu überliefern ist. Das alles heißt nicht, dass Gewohnheit und lebendiges Wiederholen identisch wären; es legt aber nahe, dass die Gewohnheit als eine Form der Wiederholung lebendigen Wiederholens zu verstehen ist. Eine Parallelstelle aus einer der Nachschriften lautet: »Der Ausdruck >eine andere Natur< ist ganz richtig, einerseits ein Anderes als die Natur, also Befreiung, eine zweite Natur gegen die unmittelbare Natürlichkeit, andererseits ist sie Natur, ist ein Sein, ich bin so, das ist meine Gewohnheit, diese Qualität hat noch diese Seite der Natürlichkeit an ihr« (VPG 1827/28,125). Vgl. auch VPG 1822,89; VPG 1825,367,372; VPG 1827/28S, 728. »Die Gewohnheit des Rechten« 309 xive Wiederholung: Sie ist zum einen Wiederholung gegen die Wiederholungeine zweite Natur, die sich gegen die erste setzt und ihren ersten wesentlichen Zug in der Abstraktion von Bestimmungen der ersten Natur hat. Zum anderen aber ist sie dabei eine Wiederholung der Wiederholung - eine zweite Natur, dergemäß die erworbenen Bestimmungen erneut als Seinsbestimmungen des Subjekts auftreten. Inwiefern der Erfolg der Gewohnheit gerade davon abhängt, dass sie den Bestimmungen der Natur nicht Willkür entgegensetzt, sondern Bildungsprozesse, die die lebendigen zu wiederholen scheinen, lässt sich am einfachsten anhand des Gegenmodells der Verrücktheit sehen. 17 In der Dialektik der Seele bestimmt Hegel die Gewohnheit als eben jenen Mechanismus, durch den es der Seele gelingt, die Gefahr der Verrücktheit abzuwenden und wirkliche Seele - d. h. eine Seele, die ihren Körper zu ihrem Zeichen zu machen vermag 18 - zu werden. In der Verrücktheit treten zwei Aspekte der Seele auseinander: einerseits die besonderen Empfindungen, in denen die Unmittelbarkeit des substantiellen Inhalts der Seele zum Tragen kommt, andererseits die für sich allgemeine Subjektivität. Diese zwei Aspekte treten so auseinander, dass die Seele einerseits als »rein formelle[J, leere[J, abstrakte[J Subjektivität« auftritt und sich andererseits mit einer abstrakt möglichen objektiven Bestimmung überidentifiziert und so »die Bedeutung einer wahrhaften Einheit des Subjektiven und Objektiven« anmaßt (Enz. 111, § 408Z, 164). Das geschieht etwa so, dass die Seele eine unbestimmte abstrakte Möglichkeit für etwas Konkretes und Wirkliches nimmt: Nur weil abstrakt betrachtet ein Mensch überhaupt König sein könnte, hält sich das Subjekt für emen. Die Verfehlung der Verrücktheit - die phantasmatische Identifikation der Seele mit einer bestimmten, abstrakt möglichen Bestimmung - ist doppelt: Zum einen kommt es nicht zu einer objektiven Einheit von Subjektivem und Objektivem, in dem Sinne, dass ich eine abstrakte Möglichkeit tatsächlich objektiv realisiere, sondern bloß zu einer unbegründeten, subjektiven Behauptung einer solchen Einheit. Zum anderen wird das Subjekt seiner Fähigkeit, abstraktes, vollkommen unbestimmtes, daher allem beliebigen Inhalte offenstehendes Ich zu sein auch nicht gerecht, da es sich mit einer partikularen Möglichkeit überidentifiziert. Das Ich büßt hier die Fähigkeit ein, »in jeder seiner Vorstellungen sich selber vollkommen gegenwärtig zu bleiben, läßt 17 18 Dass die Gewohnheit entscheidend aus ihrer dialektischen Stellung zur Verrücktheit zu verstehen ist, haben in den vergangenen Jahren die Lektüren von Catherine Malabou und, im Anschluss daran, Slavoj Zizek herausgehoben. Vgl. Malabou (2005, 21ff.); Zizek (2012,327258). Die Seele hat »an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt, die als Kunstwerk der Seele menschlichen [... ] Ausdruck hat.« (Enz. III, § 411, 192) 310 Thomas Khurana sich von einer besonderen, nur subjektiven Vorstellung gefangen nehmen« (Enz. III, § 4082, 168) Weder Subjekt noch Objekt, weder Allgemeinheit noch Besonderheit kommen hier also zu ihrem Recht. Die Gewohnheit stellt dagegen eine Möglichkeit für die Seele dar, sowohl eine besondere Bestimmung anzunehmen als auch darin allgemein zu bleiben: In der Gewohnheit nehme ich nicht willkürlich eine Bestimmung für mich in Anspruch, sondern transformiere mich durch Wiederholung und Übung in ein Wesen, das diese Bestimmung objektiv realisiert: Durch eine Durchbildung der Leiblichkeit mache ich mich zu einem bestimmten Wesen. Diese Besonderheit drückt sich darüber hinaus nicht in einer bloß einzelnen Empfindung oder Bewegung aus, sondern in einer allgemeineren Weise des Tuns. Es kommt also zu einer realen und objektiven Vermittlung von Besonderheit und Allgemeinheit durch die Ausbildung spezifischer Vermögen, die ebenso allgemein sind, wie sie das Wesen als ein besonderes ausmachen. Noch bedeutender ist nun aber, dass die Gewohnheit diese Vermittlung so leistet, dass sich auch die abstrakte Subjektivität, das unbestimmte, allem Inhalt offenstehende Selbst darin erhält: Die Gewohnheit ermöglicht der Seele ein »ungestörte[sJ Beisichsein [ ... ] in aller Besonderheit ihres Inhalts« (Enz. III, § 4102, 187f.). Dieses Beisichsein wird nun gerade dadurch ermöglicht, dass die Seele sich mit ihrem Inhalt auf eine solche Weise identifiziert, dass sie sich von den Inhalten zugleich detachiert. In der Gewohnheit nehme ich meine Bestimmungen nicht nur derart in Besitz, dass ich sie mir aneigne, ich habe sie zugleich so bewusstlos und desinteressiert in meinem Besitz, dass ich über sie als mein Sein schon wieder hinaus bin. In der Gewohnheit beziehe ich mich also nicht allein auf mich als ein ebenso spezifiziertes wie allgemeines Wesen, sondern verweise zugleich auf mich als ein radikal unbestimmtes Selbst, das durch die Gewohnheit nicht erschöpft ist und für weiteres offen bleibt. Der Gewohnheit gelingt es genau dadurch, uns unsere Fähigkeit zu erhalten, >in jeder unserer Vorstellungen< - und das heißt auch: in künftigen, noch gar nicht angeeigneten Vorstellungen - >uns selbst vollkommen gegenwärtig zu bleiben<. Es ist in diesem Sinne entscheidend, dass das In-Besitz-nehmen einer Bestimmung nicht bedeutet, sich in sie vollkommen zu versenken oder sich durch sie gefangen nehmen zu lassen. Hege! schreibt: Daß die Seele sich so zum abstrakten allgemeinen Sein macht und das Besondere der Gefühle [ ... ] zu einer nur seienden Bestimmung an ihr reduziert, ist die Gewohnheit. Die Seele hat den Inhalt auf diese Weise in Besitz und enthält ihn so an ihr, daß sie in solchen Bestimmungen nicht als empfindend ist, nicht von ihnen sich unterscheidend im Verhältnisse zu ihnen steht noch in sie versenkt ist, sondern sie empfindungslos und bewusstlos an ihr hat und in ihnen sich bewegt. Sie ist insofern frei von ihnen, als sie sich in ihnen nicht interessiert und beschäftigt (Enz. UI, § 410, 183f.). »Die Gewohnheit des Rechten« 311 Die Gewohnheit zeichnet sich also dadurch aus, dass die Seele sich die besonderen Bestimmungen weder entgegensetzt, um über sie willkürlich zu entscheiden, noch in sie einfach versenkt ist. Die Seele hat die Bestimmungen in solcher Weise zu einer Bestimmung ihres eigenen Seins gemacht, dass sie zu diesen nicht mehr in einer solchen Differenz steht, dass sie Interesse an ihnen nehmen müsste, ohne aber doch mit diesen Bestimmungen völlig zusammenzufallen. Indem die Seele in dieser Bestimmung »als ihrem Besitze existiert, ist sie zugleich für die weitere Tätigkeit und Beschäftigung [ ... ] offen« (Enz. In, § 410, 184). In der Gewohnheit ist unser Bewusstsein gerade darum, weil die erworbene Bestimmung hier wieder die Form der Natur annimmt, »zu gleicher Zeit in der Sache gegenwärtig, für dieselbe interessiert und umgekehrt doch abwesend, gegen sie gleichgültig« (Enz. In, §410Z, 191). Was die Seele also in der Gewohnheit freisetzt ist gerade, »daß unser Selbst ebenso sehr die Sache sich aneignet wie im Gegenteil sich aus ihr zurückzieht« (Enz. In, § 41 OZ, 191). Gerade dadurch, dass die Seele dieser selbstgesetzten Bestimmung die »Gestalt eines Mechanischen, einer bloßen Naturwirkung gibt« (Enz. In, § 41 OZ, 191), bringt sie sich selbst als etwas hervor, dass über die Gewohnheit hinaus ist: etwas, das indifferent und desinteressiert ist gegen dieses von der Seele selbst gesetzte Sein. Negativ ausgedrückt scheint hier das Paradox der Gewohnheit zu liegen, positiv ausgedrückt ihre List: Sie ermöglicht die Herausbildung der wirklichen Seele und mithin den Ausgangspunkt subjektiven Geistes nicht dadurch, dass sie eine nicht-natürliche Vollzugsweise einführt, sondern zunächst dadurch, dass sie eine natürliche Form wiederholt. In der Wiederholung der natürlichen Form wird auf diese aber (i) als eine durch die Seele gesetzte und in dem Sinne nicht von außen auferlegte, sondern selbstgegebene Form zugegriffen. (ii) Zweitens wird in der Reproduktion der Natur ein Überschuss an Selbst erzeugt, der sich nicht als konkrete andere BestimiHung, sondern als Indifferenz, Desinteresse, Offenheit für andere Bestimmung zeigt. Nur durch Wiederholung der lebendigen Wiederholung, nicht durch eine jäh eingreifende Willkür, etabliert die Gewohnheit eine neue Selbstbeziehung. Durch die Wiederholung der Wiederholung bleibt sich nicht alles gleich: Der Unterschied zwischen den Wiederholungen der Triebe und der Wiederholung der Gewohnheit ist im Ergebnis radikal: ein lebendiges Wesen, das zur Gewohnheit fähig ist, kann durch die Wiederholungen der Gewohnheit von der äußeren Notwendigkeit seiner natürlichen Bestimmung Abstand gewinnen und sich eine Natur geben, in der es bei sich ist, ohne gänzlich in ihr versenkt zu sein. Aber die Form, in der das geschieht, wird nicht durch einen ontologisch oder metaphysisch völlig anders gearteten Vollzugstyp, sondern durch ein reflexives Arrangement von Wiederholungen ermöglicht. 312 Thomas Khurana v. Die Nähe der Wiederholungen der Gewohnheit zu den Wiederholungen des Lebens, die die Bedingung dafür ist, dass sich der Geist in Gestalt der Gewohnheit überhaupt gegen die Bestimmungen der ersten Natur durchzusetzen vermag, bedingt aber zugleich die Begrenztheit der Gewohnheit, ja sie impliziert sogar die Gefahr, dass die Aneignung der natürlichen Prozesse in Natur zurückschlägt. Hegel markiert dabei die Grenze der Gewohnheit auf mindestens drei Weisen: Dadurch, dass er aufweist, dass die Allgemeinheit der Gewohnheit eine Form abstrakter Allgemeinheit bleibt; dadurch, dass er verdeutlicht, dass die Allgemeinheit hier an den besonderen Körper gebunden bleibt; und dadurch, dass er die Tendenz der Gewohnheit zur Mechanisierung verdeutlicht, durch die diese droht, den gerade im Entstehen begriffenen Geist schon wieder in Natur zurückschlagen zu lassen. Hinsichtlich der Allgemeinheit, die in der Gewohnheit gebildet wird, macht er deutlich, dass es sich dabei nur um eine aus der Wiederholung vieler Einzelheiten durch Reflexion hervorgebrachte Allgemeinheit handeln kann. Diese Allgemeinheit ist in gewissem Sinne abstrakt, da sie aus der Wiederholung des Einzelnen und unter Absehung dessen, was die Einzelnen voneinander unterscheidet, gewonnen werden muss. Nur zu dieser Form des abstrakt Allgemeinen »kann die mit dem Unmittelbaren, also dem Einzelnen, sich beschäftigende natürliche Seele gelangen« (Enz. III, § 41 OZ, 188 f.). Um zu derjenigen allgemeinen Weise des Tuns zu gelangen, durch die wir die sozialen Verhältnisse der Subjekte verstehen können, müssen wir dagegen die Ebene des Selbstbewusstseins erreichen. Die Gewohnheit impliziert eine Form der abstrakten Allgemeinheit, in der das Partikulare und das Allgemeine zwar nicht mehr so auseinander- oder vermittlungs los ineinanderfallen wie in der verrückten Seele, aber noch nicht so vermittelt sind, dass wir ein konkretes an und für sich Allgemeines vor uns haben. Auf der Stufe der Sittlichkeit ergibt sich mit Blick auf die Grenze der Allgemeinheitsform der Gewohnheit eine doppelte Verschiebung. Zum einen etablieren sich die Gewohnheiten im Medium selbstbewusster Aktivitäten, setzen hier also voraus, dass die Allgemeinheit schon für sich geworden ist. Zum anderen bilden sich die Gewohnheiten in einem Ensemble von ineinandergreifenden Praktiken heraus, die ein Ganzes bilden, in dessen Rahmen auch die Unterschiede zwischen den Gewohnheiten ihren Anteil am Allgemeinen haben. Das bedeutet nicht, dass die Gewohnheiten im Einzelnen betrachtet nicht weiter die Qualität abstrakter Allgemeinheit hätten; aber auf der Ebene des Gesamtarrangements wird ein weiterreichendes, konkretes Allgemeines erreicht. Die zweite Grenze der Gewohnheit wird an dem Medium deutlich, in dem sich die abstrakte Allgemeinheit der Gewohnheit verkörpert: Diese Allgemeinheit erweist sich als wesentlich an den einzelnen Körper gebunden. »Die Gewohnheit des Rechten« 313 Die Seele durchbildet und idealisiert zwar ihren Leib, es bleibt aber dabei, dass sie sich zunächst nur in diesem einzelnen Körper vergegenständlicht und mithin nicht in einem Medium, dass das geistige Individuum mit anderen teilt. Während die »menschliche Gestalt [ ... ] für den Geist nur die erste Erscheinung desselben« ist, ist die Sprache »sogleich sein vollkommener[er] Ausdruck« (Enz. In § 411A, 192). Die Sprache ist, in den Worten der Phänomenologie, »das Dasein des Geistes« (PhdG, 478),19 weil sie eine geteilte Vergegenständlichung des Geistes darstellt, durch den die Struktur eines Ich, das Wir und eines Wir, das Ich ist im verselbstständigten und geteilten Zeichen tatsächlich konkretes Dasein gewinnen kann. Die sich leiblich niederschlagende Gewohnheit, die Hegel ins Zentrum der Anthropologie stellt, liefert eine wesentlich individuelle Vergegenständlichung. Das Hervorgehen des Geistes aus der Natur erfordert solche Formen individueller Vergegenständlichung, bedarf aber darüber hinaus auch einer Form genuin sozialer Verkörperung, durch die es möglich wird, dass die Gattung sich nicht allein durch sich ablösende Einzelne verwirklicht. 20 Die dritte Grenze der Gewohnheit, die Hegel markiert, liegt in der mechanischen Qualität der Gewohnheit. Wenn sie die ganze Seele absorbiert und das Ich als reine N otwendigkeit 21 vollzieht, kann der Mensch, der durch die Gewohnheit »einerseits frei wird [ ... ] andererseits doch zu ihrem Sklaven« werden (Enz. In, § 41 OZ, 189). Das tritt besonders drastisch daran hervor, dass die Gewohnheit, wenn wir sie ganz abstrakt verstehen, wie Hegel sagt, nichts anderes als »der Tod ist«. In dem Moment, wo wir Gewohnheiten nicht mehr haben, sondern unsere Gewohnheiten schlicht sind, sterben wir den Tod der Gewohnheit. In dieser Form liefert uns die Gewohnheit einer Tendenz bloß natürlicher Veränderung aus. Die Gewohnheit nimmt denselben Verlauf wie der Weg, der vom Kind über den Mann zum Greis führt: Der Greis geht durch die abstumpfende Gewohnheit in einen Zustand der Interesselosigkeit zurück (Enz. 111, § 396, 75, 78, 85) und wird ebenso leblos wie die »zur prozeßlosen Gewohnheit gewordene Tätigkeit seines physischen Organismus zur abstrakten Negation der lebendigen Einzelheit - zu Tode fortgeht« (Enz. 111, § 396Z, 86). Da, wo die Gewohnheit so mechanisch wird und so sehr mit sich selbst zusammengeht, dass sie prozesslos genannt werden muss, »erlischt die Lebendigkeit« (Enz. In, § 396Z, 85). Wir können uns durch Gewohnheit nur so lange befreien, wie wir durch Gewohnheiten 19 20 21 Vgl. auch die Bestimmung der Sprache als »das geistigste Dasein des Geistigen« in der Rechtsphilosophie (GPhrR § 164,7:315). Die Jenaer Systementwürfe verhandeln diesen Problemkomplex durch die Diskussion der sogenannten »Mitten«: Sprache, Werkzeug, Familiengut US I, S. 191 ff.,]S III, S. 174ff.). Vgl. hierzu Habermas (1968). »Die Gewohnheit ist [... ] das [ ... ] Ich als Notwendigkeit« (VPG 1827/28,130). 314 Thomas Khurana hindurch eine Selbstbeziehung zu uns unterhalten; und wir können dies nur tun, solange die Gewohnheit im Prozess ihrer Bildung und Umbildung bleibt. Nur indem die Natürlichkeit weiterhin als gesetzte kenntlich bleibt und nur indem das Subjekt der Gewohnheit durch die Gewohnheit sich mit seinem Sein zusammenschließt und dennoch sich von diesem unterscheidet, ist sie eine Kraft der Befreiung. Nur indem die Gewohnheit uns erlaubt, gesetzte Bestimmungen zu Bestimmungen unseres Seins zu machen, vermag sie sich gegen die Bestimmungen der ersten Natur durchzusetzen und dabei ein überschüs$iges Selbst zu erzeugen, das in keiner seiner Bestimmungen aufgeht. Dieses bestimmungslose Selbst, das sich als Indifferenz manifestiert, ist aber eine äußerst prekäre Errungenschaft. Es hat seine Freiheit gerade darin, sich nicht von seinen Bestimmungen zu unterscheiden. Eben darin kann aber auch die Unfreiheit liegen. Nur so lange Indifferenz eine Haltung bleibt, durch die das Selbst sich von den Bestimmungen, mit denen es sich identifiziert, zugleich detachiert, setzt uns die Gewohnheit frei. VI. Muss also die Gewohnheit auf dem Wege zur Freiheit des Geistes noch überwunden werden, indem Wiederholungen des Geistes an die Stelle der Wiederholungen der bloßen Gewohnheit treten? Es liegt nahe, dies zunächst zu vermuten. Überraschenderweise macht Hegel aber schon in der Anthropologie deutlich, dass die Bedeutung der Gewohnheit keineswegs auf die elementaren Stufen des subjektiven Geistes beschränkt ist. Die Form der Gewohnheit »umfasst«, wie Hegel schreibt, »alle Arten und Stufen der Tätigkeit des Geistes« (Enz. III, § 410,186) -von der äußerlichsten, räumlichen Bestimmung des Individuums (Aufrechtstehen) über das Wahrnehmungsvermögen bis hin zur der reinen Tätigkeit des Denkens und der »Gewohnheit des Rechten überhaupt, des Sittlichen« (Enz. III, § 410, 185). Dass die Gewohnheit endlich bleibt und die Befreiung des Geistes in ihr Gegenteil zu verkehren droht, scheint also nicht zu bedeuten, dass wir auf sie verzichten könnten und ihre Form einfach hinter uns lassen könnten. Die leibliche Gewohnheit, die wir bis hierher dargestellt haben, hat ihre entscheidende Bedeutung zwar tatsächlich im Werden des Geistes und erfordert durch das Hervorgehen des Ich auch einen Schritt über sie hinaus (vgl. Enz. III § 4122, 197). Sie bleibt aber zugleich in doppelter Hinsicht als Mittel und Form unverzichtbar. In dem Maße wie der Geist sich in subjektiver Gestalt realisieren muss, kann nur die Gewohnheit dies ermöglichen: selbst die subjektive Verwirklichung des Denkens erfordert Gewohnheit des Denkens, da dieses sonst durch den Widerstand des organischen Leibes unmöglich wird. Überdies scheint es so, dass die allgemeine Form der Gewohnheit - die Form eines gesetzten Seins- »Die Gewohnheit des Rechten« 315 unverzichtbar bleibt, um die Freiheit des Geistes zu verstehen: um ihn als einen zu begreifen, der weder einfach willkürliche Bestimmungen setzt, noch seinem vorgegebenen Sein folgt, sondern sein Sein setzt. Hegel scheint der Auffassung zu sein, dass der Geist gerade in dem Maße, wie er Freiheit zu verwirklichen sucht, wesentlich als Gewohnheit existieren muss. Die Wirklichkeit der Freiheit erfordert, dass uns Freiheit in Gestalt eines Seins gegenständlich wird - auch wenn es sich dabei nur dann um eine Wirklichkeit der Freiheit handeln kann, wenn dieses Sein dabei zugleich von sich differiert. Wenn dies richtig ist, dann müssen die Grenzen und Zweideutigkeiten der Form der Gewohnheit, die Hegel in der Anthropologie nachgezeichnet hat, auch für die höheren Stufen des Geistes von Bedeutung bleiben. Die Art und Weise, in der sie das tun, fällt zugleich auf den verschiedenen Arten und Stufen des Geistes unterschiedlich aus. Dass die Form der Gewohnheit auch die höheren Stufen des Geistes - etwa den objektiven Geist in Gestalt der Sittlichkeit - umfasst, heißt in diesem Sinne nicht, dass es nicht entscheidende Änderungen in der Verwirklichung dieser Form gäbe, durch die sich die Wiederholungen der Gewohnheiten des Rechten von den Wiederholungen der subjektiven Gewohnheit unterscheiden. Es ist zunächst klar, dass sich das Feld, in dem sich Gewohnheit realisiert, deutlich ändert, wenn wir von der Seele - der natürlichen Form subjektiven Geistes - zur Sittlichkeit - der entwickelsten Gestalt des objektiven Geistes übergehen. Die Subjekte, denen wir eine Gewohnheit des Rechten zuschreiben, sind nicht allein als empfindende Seelen oder als wahrnehmende Bewusstseine, sondern als Selbstbewusstseine kenntlich geworden, die als einzelne für sich selbst allgemein sind. So bestimmt Hegel die Sitte dann auch nicht einfach als zur Natur gewordene Freiheit, sondern genauer: als »selbstbewusste Freiheit«, die »zur Natur geworden« sei (Enz. III, § 513,318; Unterstreichung ThK). Wir haben es in der Sittlichkeit in diesem Sinne nicht mit Empfindungen und Bewegungen zu tun, die durch die Gewohnheit von einem Ich so in Besitz genommen werden, dass es in ihnen bei sich selbst ist. Wir haben es vielmehr mit selbstbewussten Operationen des Anerkennens und Handelns zu tun, denen ein Selbst durch die Form der Gewohnheit derart Wirklichkeit verleiht, dass es darin bei uns ist. Für Hegel hatte sich gezeigt, dass Selbstbewusstsein im vollen Sinne auszubilden, nur möglich wird in Verhältnissen sozialer Anerkennung. Das Subjekt kann seine Freiheit und Allgemeinheit auf der Stufe des Selbstbewusstseins in diesem Sinne nur dadurch verwirklichen, dass es sich als ein I eh, das Wir, und Wir, das I eh ist begreift. Dadurch eröffnet sich die weite Sphäre des objektiven Geistes, in der Gewohnheiten nicht mehr allein als eine womöglich anderen »zu überliefernde allgemeine Weise des Tuns« (Enz. III, § 41 OZ, 191) zu verstehen sind, die an Einzelnen erscheint, sondern als ein System von in- 316 Thomas Khurana einandergreifenden Praktiken, in denen sich die Gewohnheiten der Einzelnen wechselseitig ergänzen und ermöglichen. 22 Insofern die Anerkennungsverhältnisse, die das Sittliche ausmachen, selbst in Gestalt von Gewohnheiten realisiert werden müssen, ergibt sich die Notwendigkeit eines Ineinandergreifens von Gewohnheiten in komplexen Praktiken und institutionellen Zusammenhängen. Die Tatsache, dass die Gewohnheiten des Rechten in diesem Sinne der Verwirklichung selbstbewusster und sozialer Freiheit dienen, impliziert für ihre Bildung eine besondere Herausforderung und schafft eine weitere Quelle ihrer laufenden Umbildung: Die Subjekte dieser Gewohnheiten können als selbstbewusste diese Gewohnheiten in kritischer Reflexion distanzieren und womöglich auch reflexive Mechanismen 23 - Institutionen ihrer Kritik, Modifikation und Regulation - ausbilden. Und sofern diese Gewohnheiten unter dem Anspruch stehen, nicht nur sich selbst zu wiederholen, sondern ein Ganzes an Gewohnheiten zu wiederholen, ist ihre Herausbildung nicht nur jeweils von ihnen selbst abhängig. Obwohl wir die Grundform des Handelns also weiter als die der Gewohnheit erkennen können - ein Wiederholen, das unseren Handlungen die Form eines allgemeinen Tuns gibt und zu Bestimmungen unseres Seins macht -, ändert sich so erneut das reflexive Arrangement des Wiederholens. Während die Wiederholungen der Gewohnheit sich gegen die Wiederholungen des Lebens etabliert haben und deren Form dabei zugleich wiederholten, gilt für die Wiederholungen der Sitte, dass diese die Wiederholungen individueller Gewohnheit aufgreifen und durch ein neues Arrangement überformen und dadurch noch weiter verallgemeinern, dass sie diese in ein interdependentes Ganzes bringen. Nur so mägen die Gewohnheiten nicht nur jeweils Ausdruck der Seele in ihrer Allgemeinheit, sondern auch insgesamt Manifestation eines allgemeinen Selbstbewusstseins zu werden, so dass ich in ihnen nicht nur bei mir, sondern ich bei uns, wir bei mir sind. Während die Gewohnheit der Anthropologie sich darauf bezog, wie sich das Geistige in Gestalt der Gewohnheit im Natürlichen durchsetzt und die erste in eine zweite Natur verwandelt werden kann, scheint die Gewohnheit des Rechten sich darauf zu beziehen, wie die Bildung zweiter Natur selbst zu unserer Gewohnheit werden kann: wie wir das Geistige selbst zur Gewohnheit zu machen vermögen. 24 22 23 24 Zu der Figur von Ergänzungsverhältnissen zwischen verschiedenen Bedürfnissen und den entsprechenden Praktiken vgl. Honneth (2011, 86ff.) Vgl. hierzu Luhmann (1966). Vgl. hierzu: ))Die Pädagogik ist eine Kunst, die Menschen sittlich zu machen: sie betrachtet den Menschen als natürlich und zeigt den Weg, ihn wiederzugebären, seine erste Natur zu einer zweiten geistigen umzuwandeln, so daß dieses Geistige in ihm zur Gewohnheit wird.« (GPhR, § 151Z, 302, Hervorh. ThK) »Die Gewohnheit des Rechten« 317 So sehr sich aber die Ebene und das Arrangement der Gewohnheit ändert, so handelt es sich bei der Sittlichkeit dennoch um eine Wiederholung der Wiederholung der Gewohnheit. Indem wir uns der Grundform der Gewohnheit - einer gesetzten Unmittelbarkeit - bedienen, setzen wir uns unweigerlich auch ihrer inneren Gefahr - der eines Mechanischwerdens, durch die sie zu einer äußeren Notwendigkeit wird - wieder aus. Nicht zufällig erinnert Hegel auch in den Grundlinien der Philosophie des Rechts daran, dass der Mensch durch Gewohnheit nicht nur die falsche Form der Freiheit die Willkür - überwindet und seine recht verstandene Freiheit - das Beisich-selbst-Sein-im-Anderen - verwirklicht, sondern aus Gewohnheit auch zu »sterben« vermag - das heißt, sich so vollkommen im Leben einwohnt, dass er physisch wie geistig stumpf wird. Es geht dabei nicht nur um den Einzelnen, der durch den vollkommenen Zusammenfall mit den sittlichen Formen, durch das Erreichen dessen, was er anstrebt, eine Interesselosigkeit erreicht, die für ihn persönlich geistigen oder physischen Tod bedeutet. Es betrifft in Hegels Beschreibung auch eine sittliche Ordnung als ganze, die in dem Maße, wie das Rechte in ihr rein mechanische Gewohnheit und Routine wird, ihre Lebendigkeit verliert. Auch für ein Volk gilt in Hegels Beschreibung noch, dass es an oder aus Gewohnheit zu sterben, vermag. 25 Wie bedeutsam diese letale Seite der Gewohnheit ist, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die grundlegende Bestimmung der Sittlichkeit für Hegel darin besteht, dass sie »das lebendige Gute« ist (GPhR, § 142, 292, Herv. ThK). Wenn Sitte als Gewohnheit erscheint und Gewohnheit unweigerlich die Gefahr des Verlusts geistiger Lebendigkeit impliziert, dann wird die Sittlichkeit durch die Weise ihre Verwirklichung in ihrem Kern bedroht. Wenn die Sittlichkeit nur als »zweite Natur« wirklich werden kann, so kann das aus der Hegelschen Perspektive daher - anders als für viele zeitgenössische Positionen - keine beruhigende Feststellung sein, die uns der Festigkeit und U numstößlichkeit der Sittlichkeit versichern kann. Es ist vielmehr die Beschreibung einer Notwendigkeit, die die Sittlichkeit zugleich bedroht und von uns verlangt, dass wir die Bedingungen bedenken, unter denen die Gewohnheit des Rechten so prozesshaft bleiben kann, dass sie Sittlichkeit nicht in Natur verkehrt. Wie schon für die anthropologische Gewohnheit gilt auch hier, dass alles an einem prekären Gleichgewicht hängt: an der Weise, mit der es uns gelingt, eben dadurch, dass wir das Gesollte als Sein verwirklichen, uns von ihm zugleich so zu befreien, dass wir offen für weitere Tätigkeiten und auch für die Umbestimmung des durch uns gesetzten Seins werden. Es scheint, dass dies nur möglich ist, indem wir nicht aufhören, Gewohnheiten zu bilden und umzubilden, zu lernen und zu verlernen. 25 Vgl. hierzu VG, 68: »Und wie der Mensch an der Gewohnheit des Lebens stirbt, so auch der Volksgeist am Genusse seiner selbst« 318 Thomas Khurana Die prekäre Natur der Gewohnheit bleibt in diesem Sinne für alle Stufen des endlichen Geistes irreduzibel: Er kann einen Schritt über Natur hinaus nur machen, indem er sie wiederholt und in dieser Wiederholung der Gefahr unterliegt, in sie zurückzufallen. Es will also so scheinen, dass der Geist seine Freiheit nur verwirklichen kann, indem er sich immer wieder befreit, die Befreiung auch und gerade gegen frühere Objektivierungen der Freiheit wiederholt. 26 Die zweite Natur, von der die Rechtsphilosophie redet, kann mithin nicht als ein einmal erreichter und dann schlicht bestehender Zustand verstanden werden. Sie ist nur insofern eine Verwirklichung von Freiheit, wie sie ein Feld ständiger Umbildung bleibt: kein fixiertes Reich, sondern Medium der Befreiung. 26 Allenfalls im Medium des absoluten Geistes - in Religion, Kunst, Philosophie - können wir dazu nochmals eine andere Haltung einnehmen, die uns - wie Hegel sich ausdrückt mit unserer Endlichkeit versöhnt, indem sie uns einen vollendeten Sinn für die Einheit und Differenz von Kunst und Natur, Setzung und Sein, Freiheit und Gesetz, Erfindung und Wiederholung gibt. Wie genau man diese Leistung des absoluten Geistes zu verstehen hat, wenn zugleich klar ist, dass dies nicht einfach heißen kann, dass er uns an die Endlichkeit gewöhnt, kann ich an dieser Stelle nicht weiter verfolgen. 320 Verzeichnis der Siglen JS I: Hege!, G. W. E: Jenaer Systementwürfe 1. Das System der spekulativen Philosophie. Fragmente aus Vorlesungsmanuskripten zur Philosophie der Natur und des Geistes. Hg. v. K. Düsing u. H. Kimmerle. Hamburg 1986. JS III: Hegel, G. 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