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Die ärztlich assistierte Selbsttötung und das gesellschaftlich Gute

Zur Frage nach der ethischen Rechtfertigung eines Verbots ärztlicher Suizidassistenz in einer liberalen Gesellschaft

Physician-assisted suicide and the common good

On the question concerning the ethical justification of a prohibition of physician-assisted suicide in a liberal society

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Ethik in der Medizin Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Der Artikel geht der Frage nach, ob ein (standesrechtliches) Verbot des ärztlich assistierten Suizids ethisch zu rechtfertigen ist. Er plädiert für die ethische Zulässigkeit eines solchen Verbots und für die Berechtigung, bei der Entscheidung darüber, Konzepte des gesellschaftlich Guten zugrunde zu legen, die sich nicht auf gesellschaftliche Folgen beziehen. Dazu weist er auf die besondere Bedeutung hin, die eine Praxis der ärztlichen Suizidassistenz für Gesellschaft und ärztliche Identität hat bzw. hätte, und weist nach, dass in dieser Streitfrage von allen Seiten unvermeidlich Konzepte des Guten herangezogen werden. Vor diesem Hintergrund argumentiert er unter Bezugnahme auf kommunitaristische Gedankenfiguren in begründungstheoretischer Hinsicht für einen transparenten Umgang mit solchen Konzepten und in normativer Hinsicht dafür, dass die ärztliche Suizidassistenz mit guten Gründen als etwas angesehen werden kann, das einem wohlverstandenen gesellschaftlich Guten zuwiderläuft.

Abstract

Definition of the problem The question whether a prohibition of physician-assisted suicide is justifiable plays a prominent role in the recent debate about this practice. Many authors argue that assisted suicide is an issue of individual choice, that a prohibition bases on particular conceptions of the good and that such a justification is not acceptable in a liberal society. Arguments Within the frame of a communitarian approach the article demonstrates that the handling of dying and what physicians are allowed to do is central for society and the professional identity of physicians and that every ethical position within this debate unavoidably rests upon certain conceptions of the good. Conclusion Therefore it is necessary to deal with these conceptions in a transparent way and it is justifiable to impose a prohibition of physician-assisted suicide based on a conception of the common good that does not rest on supposed social consequences.

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Notes

  1. Das gute Leben und die gute Gesellschaft sind selbstverständlich aufeinander bezogen: Eine gute Gesellschaft ist auch diejenige, die ihren Mitgliedern ein gutes Leben ermöglicht. Dennoch ist es angemessen und hilfreich, die beiden Ebenen zu unterscheiden.

  2. Hier ist oft zu hören, dass sich passive Sterbehilfe nicht grundsätzlich von Suizidassistenz (und Tötung auf Verlangen) unterscheide. Wenn passive Sterbehilfe legitim ist, müsse auch Suizidassistenz legitim sein ([4], S. 72 f.; [8], S. 210 ff.). Die breite Debatte um die Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen ist jedoch ein eigenes Thema, das hier nicht angemessen aufgearbeitet werden kann.

  3. Entgegen mancher Einschätzung [1] ist auch darauf hinzuweisen, dass der ärztlichen Gewissensfreiheit grundsätzlich keine unbeschränkte Geltung zukommt. So ist die Gewissensfreiheit anerkanntermaßen bereits massiv durch den Patientenwillen begrenzt.

  4. Hier geht es um ethische Gründe. Wie eine rechtliche Begründung aussehen könnte, müsste eigens diskutiert werden.

  5. Insofern ist auch die Behauptung nicht richtig, mit der Ablehnung einer Suizidassistenz werde der Patient „allein gelassen“ ([4], S. 108; [35], S. 294). So sehr für den Patienten subjektiv nur die Selbsttötung in Frage kommt und so schwer es ist, dem verzweifelten Patienten seinen Wunsch zu verwehren – die Ablehnung einer gewünschten Handlungsoption ist nicht identisch mit einem Alleinlassen. Das kann man nur behaupten, wenn man die fragliche Voraussetzung der Alternativlosigkeit bereits teilt.

  6. Das heißt zugleich: Wenn durch ein Verbot der Suizidassistenz die ärztliche Gewissensfreiheit beschränkt wird, wie manche Autoren meinen [1], dann gilt das gleichermaßen für die von den Befürwortern verlangte beschränkte Zulassung.

  7. Damit wird keineswegs der Anspruch verfolgt, die kommunitaristische Position zur Frage nach dem ärztlich assistierten Suizid zu formulieren – ein Anspruch, der angesichts der Heterogenität dieser Denkrichtung fragwürdig wäre.

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Kipke, R. Die ärztlich assistierte Selbsttötung und das gesellschaftlich Gute. Ethik Med 27, 141–154 (2015). https://doi.org/10.1007/s00481-014-0292-x

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