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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter May 19, 2021

Hartmut Zinser: Heilige Schriften zwischen Opferkult und Wortgottesdienst. (Aschaffenburg: Alibri Verlag, 2020), 126 Seiten, ISBN 978-3-86569-316-7.

  • Ulrike Kollodzeiski EMAIL logo

Rezensierte Publikation:

Hartmut Zinser: Heilige Schriften zwischen Opferkult und Wortgottesdienst. (Aschaffenburg: Alibri Verlag, 2020), 126 Seiten, ISBN 978-3-86569-316-7.


Zinser legt mit seinem Buch eine religionswissenschaftliche Neubestimmung der Kategorie „heilige Schriften“ vor. Dazu erläutert er seine These, „dass in dem Wandel des Kultus aus einem Opfersystem in einen Wortgottesdienst ein Schlüssel zum Verständnis von heiligen Texten und Schriften liegt“ (45). Diese Transformation bestimmt er als „eine Revolution in der Religionsgeschichte, die von der Wissenschaft viel zu wenig erforscht wurde“ (75).

In der Einleitung (Kap. 1) erläutert Zinser zunächst, was er unter „heiligen Schriften“ versteht. Dazu gibt er einen Überblick, welche Merkmale heilige Texten in den Religionen markieren, distanziert sich dann jedoch von diesen, „da sie von Voraussetzungen ausgehen, die an den Glauben gebunden und nicht wissenschaftlich beobachtet werden können“ (19). Nach einer kurzen Darstellung bisheriger religionswissenschaftlicher Positionen legt er seine eigene Definition vor. Diese orientiert sich maßgeblich daran, welche Schriften eine religiöse Gemeinschaft selbst als heilig und normativ anerkennt. Heilig ist dabei ausschließlich das, „was in einer Gesellschaft und Kultur als heilig angesehen wird“ (24). Die Religionswissenschaft dagegen müsse sich „einer Bewertung von solchen Texten und Schriften enthalten“ (25).

In den folgenden Kapiteln entfaltet Zinser seine These. Anhand der antiken römischen Religion (Kap. 2) zeigt er, dass in Religionen mit Opferkulten keine heiligen Schriften ausgebildet wurden. Dazu sei es erst mit dem Übergang zum Wortgottesdienst gekommen. Dem geht er konkret in Judentum und Christentum nach (Kap. 3). Durch die Zerstörung der zentralen Kultstätte, des Tempels in Jerusalem 586 v. Chr. und 70 n. Chr., sei jeweils ein Abbruch des Opferkultes erfolgt, der durch das Etablieren einer heiligen Schrift kompensiert wurde. Was sich zunächst vor allem im babylonischen Exil und in der Diaspora entwickelte, sei nach der Zerstörung des Zweiten Tempels endgültig an dessen Stelle getreten. Erst jetzt hätten bestimmte Schriften die Qualität von Offenbarungstexten erhalten, die es durch spezifische Auslegungsverfahrungen zu ergründen galt (47–50, 59–62).

Am Beispiel des Neuen Testaments veranschaulicht Zinser (Kap. 4) den Prozess der Kanonisierung. Dass die Verbindung mit dem Wortgottesdienst dabei eine entscheidende Rolle gespielt hat, macht er an einem Gegenbeispiel deutlich: Der Zoroastrismus habe keine vergleichbare heilige Schrift ausgebildet. Erst anlässlich der Festlegung der Texte durch westliche Wissenschaftler habe auch hier eine „‚Kanonisierung‘ von außen“ (87) stattgefunden.

Zinser schließt daran einige Überlegungen zum Motiv des Wiederauffindens von Schriften und dem Vorwurf der Schriftverfälschung an (Kap. 5). Darauf aufbauend hebt er hervor, dass die Religionsgeschichte auch als Geschichte der Auslegung von heiligen Schriften begriffen werden kann (Kap. 6). Die Verständigung auf eine bestimmte Form der Auslegung sei ein wichtiges Distinktionsmerkmal religiöser Gemeinschaften: sie seien „Auslegungsgemeinschaften“ (111).

Zinser schließt (Kap. 7) mit der Überlegung, ob „Offenbarungsreligionen nicht eine Tendenz zu monotheistischen Vorstellungen haben“ (119). Erst durch Kolonialismus und Globalisierung seien auch „in polytheistischen Religionen, die eigentlich keine festgelegten heiligen Schriften brauchen und früher gar normative Texte eher abgewiesen haben, eine Tendenz zu heiligen Schriften zu beobachten“ (120).

Zinser legt einen interessanten Neuansatz zu den heiligen Schriften vor. Diese versteht er nicht als genuinen Bestandteil einer jeden Religion, sondern als spezifisches Phänomen, das vor allem Judentum und Christentum (und im Anschluss auch der Islam) ausgebildet hätten. Erst durch die europäische Expansion und die Übertragung des Prinzips der heiligen Schrift auf andere Religionen sei es auch bei diesen zu Kanonisierungsprozessen gekommen. Zinser mahnt deswegen die Religionswissenschaft, nicht voreilig überall heilige Schriften zu identifizieren.

Leider werden andere Erklärungen für den Anlass zur Fixierung der Tora nicht angesprochen – etwa die These der persischen Reichsautorisation.[1] Es bleibt auch zu überprüfen, ob es sich bei heiligen Schriften um eine rein jüdisch-christliche Erfindung handelt oder ob nicht auch andere Religionen Vergleichbares ausgebildet haben. Diese Frage hängt an der Definition der heiligen Schriften, und hier bleibt das Buch leider unklar: Einerseits sollen religiöse Selbstbeschreibungen nicht übernommen werden, anderseits soll die Religionswissenschaft sich einer eigenen Bewertung enthalten. Gemeint ist wohl, dass die Selbstbeschreibung zwar als Markierung ernst genommen, deren traditionelle Positionen in Bezug auf Alter, Verfasserschaft oder Unverändertheit der Schriften aber inhaltlich nicht übernommen werden sollen. Paradox wird dies jedoch gerade in Bezug auf die Bibel, deren Erforschung maßgeblich durch die christliche und jüdische Theologie geleistet wird, deren Ergebnisse auch Zinser im Wesentlichen übernimmt. Er versucht dem Problem zwar durch Exkurse zur Gegenüberstellung von Theologie und Religionswissenschaft zu entkommen, indem er etwa behauptet, der „Theologie geht es um das Wort Gottes, das in den heiligen Schriften offenbart ist, der Religionswissenschaft um Texte, die von einer Gemeinschaft für heilig erklärt werden“ (113). Nichtsdestotrotz haben wir aber den Theologien wesentliche Erkenntnisse über die Entstehungs- und Tradierungszusammenhänge der Bibel zu verdanken. Errungenschaften, hinter die Zinser selbst zurückfällt, indem er etwa zur Charakterisierung des Opferkultes des Ersten und Zweiten Tempels unkritisch Zitate aus dem Pentateuch zusammenfasst. Zudem bezeichnet er das Christentum als „jüdische Sekte“ (62) und „Abspaltung“ (48) von der „Mutterreligion, dem Judentum“ (76).[2] Solche Kategorisierungen widersprechen nicht zuletzt seiner eigenen These einer Revolution des Kultgeschehens in Christentum und Judentum.

Einen fruchtbaren Ansatz zu einer neuen Herangehensweise an heilige Schriften kann indes Zinsers Hinweis auf die Bedeutung der Auslegungsfunktion liefern. Schon Michel Foucault hat auf die Auslegung bzw. den Kommentar als eine zentrale Diskursfunktion hingewiesen, die auch eine Abstufung von Primärtext und Sekundärtext erlaubt.[3] Ein heiliger Text wäre dann derjenige, der in einer Religionsgemeinschaft zum Bezugspunkt einer fortlaufenden und besonders reglementierten Kommentierung wird.

Online erschienen: 2021-05-19
Erschienen im Druck: 2021-05-05

© 2021 Ulrike Kollodzeiski, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 24.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zfr-2021-0006/html
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