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BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter (A) December 9, 2021

Boshammer über Verzeihen

  • Leonhard Menges

Reviewed Publication:

Boshammer Susanne. Die zweite Chance. Warum wir (nicht alles) verzeihen sollten. Hamburg: Rowohlt, 2020, 240 S.


1 Verzeihen und normative Autorität

Neulich saß ich eingequetscht zwischen zwei Kindersitzen auf der Rückbank eines Mittelklassewagens. Beim Aussteigen klemmte ich die Schulter meines Sohns ein, was ihm weh tat. Ich versuchte zu trösten und sagte, dass es mir leid tue. Aber Müdigkeit und Unterzuckerung auf beiden Seiten führte zu einer längeren, nicht unhitzigen Diskussion darüber, ob das nun eine echte Entschuldigung (oder besser: Bitte um Verzeihung) gewesen sei, und allgemein darüber, wie man reagieren soll, wenn man etwas falsch gemacht hat und wenn einem selbst Unrecht getan wurde.

Susanne Boshammers Die zweite Chance: Warum wir (nicht alles) verzeihen sollten liefert Antworten auf diese und ähnliche Fragen. Auch das Buch scheut sich nicht vor den kleinen, alltäglichen Vergehen und Fehlern, nimmt aber genauso die großen Verbrechen der Menschheit in den Blick. Im ersten Teil wird gefragt, was Verzeihen ist, im zweiten, ob und wann wir verzeihen sollten.

Das Buch ist eine beeindruckende Fundgrube für Gedanken zum Verzeihen aus Philosophie, Alltag, Geschichte, Literatur, Film und Popkultur, die intellektuelle Anregung und viel Lesevergnügen bereitet. Dabei hilft die glasklare Gliederung und Leseführung mit hilfreichen Zusammenfassungen und Ausblicken.

Das Buch zielt auf das breitere, philosophisch interessierte Publikum. Es verzichtet auf eine detailliertere Auseinandersetzung mit der umfangreichen Literatur zum Thema und nutzt die Klassikerinnen und Klassiker genauso wie jüngere Arbeiten eher als Inspiration und Stichwortgeber zu eigenen Überlegungen (leider verzichtet das Buch auch auf ein Stichwort- und Literaturverzeichnis). Die Argumente werden langsam, Schritt für Schritt, dargestellt, was bei geübten Lesenden zu dem Eindruck führen kann, dass das Buch auch kürzer hätte ausfallen können. Die Ausführlichkeit sorgt zugleich dafür, dass es sich gut als Grundlage für ein Proseminar oder auszugsweise für einen Philosophiekurs in der Oberstufe eignen sollte. Diejenigen, die sich mit den Diskussionen um Verzeihen, Vorwürfe, reaktive Einstellungen oder ähnliches besser auskennen, finden vor allem auf den Seiten 87–118 und 199–230 originelle und erhellende Überlegungen. Auf den ersten dieser Abschnitte wird sich die folgende Diskussion konzentrieren.

Boshammer argumentiert dafür, dass Verzeihen wesentlich aus zwei Elementen besteht, nämlich einem emotionalen Haltungswechsel und der Ausübung einer bestimmten normativen Autorität (vgl. 118).

Eine Standardposition in der Diskussion ums Verzeihen besagt, dass Verzeihen nichts anderes sei als die bewusste Abstandnahme von emotionalen Vorwürfen, Groll, Zorn oder Empörung. Boshammer hält diese Position für unvollständig. Zwar gehöre eine solche Änderung der Emotionen notwendigerweise zum Verzeihen, doch brauche es mehr, um zu verzeihen (87–100).

Der zweite notwendige Bestandteil des Verzeihens ist, so Boshammer, die Ausübung einer bestimmten normativen Autorität. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass Personen die Fähigkeit haben, in einem gewissen Rahmen frei dafür zu sorgen, dass sie oder andere etwas tun dürfen oder Pflichten haben. Ein klassisches Beispiel dafür sind Versprechen. Wenn ich einem Herausgeber verspreche, diese Rezension zu schreiben, sorge ich dafür, dass ich gegenüber dem Herausgeber die Pflicht habe, sie zu schreiben. Das Geben eines Versprechens ist somit die Ausübung einer bestimmten normativen Autorität. Der Herausgeber hat dann seinerseits die normative Autorität, mich von meinem Versprechen zu entbinden. Er kann dafür sorgen, dass ich es unterlassen darf, die Rezension zu schreiben.

Boshammer schlägt vor, dass wir Verzeihen so ähnlich verstehen sollten wie das Entbinden von Versprechen. Sie nimmt an, dass diejenigen, die schuldhaft anderen Unrecht tun, ihren Opfern gegenüber verpflichtet sind, sich selbst Vorwürfe zu machen und ein schlechtes Gewissen zu haben (vgl. 105) – selbstverständlich passend zur Schwere des Vergehens. Die Opfer bekommen damit eine normative Autorität über die Täterinnen und Täter, ähnlich wie diejenigen, denen wir ein Versprechen geben, normative Autorität über uns haben. So, wie der Herausgeber mich von meiner Pflicht entbinden kann, die Rezension zu schreiben, können Opfer die Übeltäterinnen und -täter von ihrer Pflicht entbinden, an ihrem schlechten Gewissen zu leiden. Verzeihen ist, so Boshammer, notwendigerweise eine Ausübung dieser normativen Autorität: „Wenn wir verzeihen, ermöglichen wir jemandem, sein schlechtes Gewissen uns gegenüber zu entlasten, indem wir ihm erlauben, die Selbstvorwürfe, die er uns schuldet, hinter sich zu lassen“ (108, im Original kursiv).

Der gesamte erste Teil des Buches kann als ein eindrucksvoll illustrierter und gut nachvollziehbarer Schluss auf die beste Erklärung dafür verstanden werden, dass Verzeihen die Summe von emotionalem Haltungswechsel und Ausübung einer bestimmten normativen Autorität ist. Insbesondere die These, dass die Ausübung normativer Autorität wesentlich fürs Verzeihen ist, ist innovativ und verdient genaue Diskussion. Die folgenden Überlegungen sollen helfen, diese Diskussion anzustoßen.

2 Wem wir nicht verzeihen können

Als erstes möchte ich darauf aufmerksam machen, dass Boshammers Theorie impliziert, dass man bestimmten Personen nicht verzeihen kann, obwohl viele im Alltag glauben, dass sie ihnen verzeihen – nämlich Verstorbenen, Menschen mit fortgeschrittener Demenz und solchen, die lange genug an ihrem schlechten Gewissen gelitten haben.

Boshammer diskutiert den Fall ihres Nachbarn, der als Schüler unter der Brutalität eines Lehrers litt (vgl. 178). Heute ist der Lehrer längst tot. „Dennoch“, so schreibt Boshammer, „kommt es für meinen Nachbarn nicht infrage, ihm zu verzeihen“ (ebd.). Auf den ersten Blick ist dieser Fall wenig auffällig: Der Nachbar weigert sich, seinem bereits verstorbenen Lehrer zu verzeihen. Das setzt voraus, dass es grundsätzlich möglich ist, dem Lehrer zu verzeihen. Und tatsächlich reden im Alltag viele davon, Verstorbenen zu verzeihen (so eine schnelle Internetsuche nach „verstorbenen verzeihen“). Stellen wir uns vor, der Nachbar entschließt sich, nach all den Jahren seinem ehemaligen Lehrer doch zu verzeihen. Boshammers Theorie zufolge müsste er dann zwei Dinge tun. Er muss seine emotionale Haltung ändern und zum Beispiel aufhören, dem Lehrer zu grollen oder zornig auf ihn zu sein. Außerdem muss der Nachbar seine normative Autorität ausüben, indem er dafür sorgt, dass der Lehrer ihm gegenüber nicht mehr verpflichtet ist, sich schuldig zu fühlen. Aber hier liegt das Problem: Der Lehrer ist tot. Er kann sich nicht mehr schuldig fühlen.

Plausiblerweise kann eine Person nur dann die Pflicht haben, ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn sie lebt. Zwar ist es diskussionswürdig, dass Verstorbene Rechte haben – etwa, dass wir sie würdig bestatten. Doch ist es (außerhalb eines religiösen Kontexts) unplausibel, dass Verstorbene Pflichten haben, und zwar insbesondere die Pflicht, sich selbst Vorwürfe zu machen. Wenn das stimmt, hat der verstorbene Lehrer nicht die Pflicht, ein schlechtes Gewissen zu haben. Wenn aber der Lehrer nicht die Pflicht hat, ein schlechtes Gewissen zu haben, dann kann der Nachbar, ihn auch nicht von dieser Pflicht entbinden. Es gibt hier nichts, worüber der Nachbar normative Autorität ausüben könnte. Boshammers zentrale These ist jedoch, dass eine solche Ausübung normativer Autorität notwendig für das Verzeihen ist. Also folgt aus Boshammers Theorie, dass man dem ehemaligen Lehrer unmöglich verzeihen kann. Das wirkt jedoch unplausibel. Es scheint zunächst so, als könnte man den Toten verzeihen. Und das ist ein Problem für Boshammers Theorie.

Aus ganz ähnlichen Gründen impliziert Boshammers Theorie, dass man Personen, die an fortgeschrittener Demenz leiden, nicht verzeihen kann. Stellen wir uns vor, der ehemalige Lehrer des Nachbarn lebt noch, leidet aber an fortgeschrittener Demenz und kann sich nicht mehr daran erinnern, dass er seinen Schüler gequält hat. Dann ist er nicht mehr in der Lage, ein schlechtes Gewissen wegen dieser Vergehen zu haben. Plausiblerweise ist er dann seinem ehemaligen Schüler gegenüber nicht mehr verpflichtet, ein schlechtes Gewissen zu haben. Und dann gilt auch hier: Der Nachbar kann ihn nicht mehr von seiner Pflicht entbinden, weil es keine Pflicht gibt. Laut Boshammers Theorie besteht Verzeihen notwendigerweise darin, Personen von solchen Pflichten zu entbinden. Und so impliziert die Theorie, dass es unmöglich ist, dem Lehrer zu verzeihen. Doch das, so der Einwand, ist unplausibel. [1]

Aber ist es wirklich möglich, Verstorbenen oder Menschen mit fortgeschrittener Demenz zu verzeihen? Ich bin mir nicht sicher. Zwar reden manche im Alltag so, als wäre es möglich. Doch vielleicht sollte man diese Redeweise nicht wörtlich nehmen und die Sprechenden so verstehen, dass sie einen emotionalen Haltungswechsel meinen, aber kein vollständiges Verzeihen. Denn es hat etwas Vergebliches, jemandem zu verzeihen, der nicht einmal in der Lage ist, seine eigene Schuld einzusehen. Und so könnte man zugunsten Boshammers antworten, dass die Implikation der Theorie alles andere als absurd ist: Es ist unmöglich, Toten und Menschen mit fortgeschrittener Demenz zu verzeihen, und diese Theorie erklärt, warum dies so ist. Mir reicht es hier, deutlich zu machen, dass Boshammers Theorie in Kombination mit überzeugenden Zusatzannahmen impliziert, dass Verstorbenen und Menschen mit fortgeschrittener Demenz nicht verziehen werden kann. Ob das eine reductio ihrer Theorie ist, muss an anderer Stelle geklärt werden.

Damit komme ich zu den Übeltäterinnen und -tätern, die lange genug an ihrem schlechten Gewissen gelitten haben. Boshammer diskutiert den Fall einer Frau, die „ihren Ex-Partner auch nach fünfzehn Jahren noch mit Verachtung straft, weil er sie und die Kinder damals verlassen hat“ (147). Zur Erinnerung sei gesagt, dass Boshammer annimmt, dass Täterinnen und Täter ihren Opfern gegenüber verpflichtet sind, sich selbst Vorwürfe zu machen (105). Stellen wir uns vor, dass der Ex-Partner in den vergangenen 15 Jahren mehr an seinen Selbstvorwürfen gelitten hat, als er aufgrund seines Fehlverhaltens gegenüber seiner Ex-Partnerin verpflichtet war zu leiden, und dass er aufrichtig, zum richtigen Zeitpunkt und in angemessener Weise seine Ex-Partnerin um Verzeihung gebeten hat. Er ist ihr gegenüber aus diesen Gründen jetzt nicht mehr verpflichtet, ein schlechtes Gewissen zu haben, denn er hat alles geleistet, was er zu leisten verpflichtet war.

Wenn der Mann aber nicht mehr verpflichtet ist, ein schlechtes Gewissen zu haben, dann kann seine Ex-Frau ihn auch nicht mehr von einer solchen Pflicht entbinden: Wo es keine Pflicht gibt, kann man nicht von einer Pflicht entbunden werden. Boshammers Theorie zufolge gehört das Entbinden von einer solchen Pflicht aber notwendigerweise zum Verzeihen. Wo also ein solches Entbinden nicht möglich ist, da ist auch Verzeihen nicht möglich. Und so folgt aus Boshammers Theorie, dass es unmöglich ist, dem Mann zu verzeihen, weil dieser lang genug gelitten und um Verzeihung gebeten hat.

Der Einwand lautet also: Boshammers Theorie impliziert, dass Personen, die lang genug an ihren Vergehen gelitten haben, nicht mehr verziehen werden kann – es ist begrifflich unmöglich. Das ist aber unplausibel. Es scheint vielmehr so zu sein, dass diejenigen, die lang genug an ihrem schlechtem Gewissen gelitten haben, es besonders verdienen, dass man ihnen verzeiht.

Die hier vorgestellten Überlegungen konzentrieren sich auf Boshammers These, dass Verzeihen notwendigerweise die Ausübung einer normativen Autorität beinhaltet. Sie legen nahe, dass diese These ein zu enges Verständnis von Verzeihen liefert: Sie impliziert, dass man bestimmten Personen nicht verzeihen kann, obwohl dies möglich zu sein scheint.

3 Wer nicht verzeihen kann

Im vorangegangenen Abschnitt habe ich mich vor allem auf die Übeltäterinnen und -täter konzentriert und gefragt, wem man, Boshammers Theorie zufolge, verzeihen kann. In diesem Abschnitt konzentriere ich mich auf die Verzeihenden. Die Frage lautet: Wer kann, Boshammers Theorie zufolge, verzeihen?

Wie bereits mehrfach gesagt, setzt Boshammers Theorie voraus, dass diejenigen, die anderen Unrecht tun, ihren Opfern gegenüber verpflichtet sind, sich selbst Vorwürfe zu machen. Selbstvorwürfe sind, so eine weit verbreitete Position, der auch Boshammer zugeneigt zu sein scheint, notwendigerweise verbunden mit Emotionen wie Schuld oder Reue. [2] Also scheint Boshammer darauf festgelegt zu sein, dass Täterinnen und Täter ihren Opfern gegenüber verpflichtet sind, an Schuld oder Reue zu leiden. Aus zwei Gründen kann man gegenüber dieser Position skeptisch sein.

Der erste Grund beruht auf der allgemeinen Überzeugung, dass wir niemals verpflichtet sein können, Emotionen zu haben, weil wir nicht die richtige Art von Kontrolle über unsere Emotionen haben. Wir können, so die Überlegung, nur die Pflicht haben zu x-en, wenn unsere Willenskraft dazu führen kann, dass wir x-en. So können wir zum Beispiel verpflichtet sein, die Absicht auszubilden, den Müll herauszubringen. Es ist uns aber unmöglich, durch einen Willensakt eine Emotion auszubilden. Wir können uns nicht in der gleichen Weise entscheiden, Reue oder Schuld zu empfinden, wie wir uns entscheiden können, den Müll herauszubringen. Und daher, so der Schluss, können wir niemals verpflichtet sein, Reue oder Schuld zu empfinden.

Der zweite Grund, aus dem man skeptisch gegenüber der Annahme sein kann, dass Übeltäterinnen und -täter gegenüber ihren Opfern verpflichtet sind, an Reue und Schuld zu leiden, beruht auf der Überzeugung, dass kein Mensch jemals die moralische Pflicht hat zu leiden, nur weil er oder sie irgendetwas getan hat. Vertreterinnen und Vertreter dieser Position können zustimmen, dass es manchmal moralisch akzeptabel ist, dass eine Person leidet (etwa, wenn wir sie zur Selbstverteidigung verletzen müssen), oder dass Personen manchmal die Pflicht haben zu leiden, wenn dies zu besseren Konsequenzen führt (etwa zur Abschreckung potentieller Übeltäterinnen). Aber zu behaupten, Menschen hätten anderen gegenüber auch dann die moralische Pflicht zu leiden, wenn dies zu nichts Gutem führt, beruhe auf einer barbarischen Vorstellung von Moral. [3]

Wenn eine dieser Überlegungen richtig liegt, ist es niemals der Fall, dass Übeltäterinnen und -täter ihren Opfern gegenüber verpflichtet sind, an Reue und

Schuld zu leiden, nur weil sie ihnen Unrecht getan haben. Boshammers Theorie des Verzeihens scheint aber vorauszusetzen, dass die Übeltäterinnen und -täter diese Pflicht haben. Dann würde folgen, dass Opfer von Unrecht ihren Übeltäterinnen und -tätern niemals verzeihen können. Das wäre eine problematische Implikation.

Mir scheinen zwar beide hier vorgestellten Überlegungen recht überzeugend zu sein, doch muss ich mich nicht festlegen. Stellen wir uns stattdessen eine Philosophin Petra vor, die aus einem der oben genannten Gründe glaubt, dass Menschen niemals die Pflicht haben, an Schuld oder Reue zu leiden. Sie ist der Meinung, dass Übeltäterinnen und -täter die Pflicht haben, für ihre Vergehen (auch symbolische) Kompensation zu leisten, um Verzeihung zu bitten, sich zu bessern und eventuell zu versprechen, dass sie nicht wieder so handeln werden. Petra glaubt auch, dass es manchmal passend (im Sinne von fitting) ist, wenn Opfer den Täterinnen und Tätern emotionale Vorwürfe machen und wenn sie Schuld oder Reue empfinden. [4] Petra glaubt aber nicht, dass Täterinnen und Täter ihren Opfern gegenüber verpflichtet sind, an Schuld oder Reue zu leiden.

Stellen wir uns nun vor, Petras Nachbarin bittet Petra ernsthaft um Verzeihung dafür, dass sie zwei Nächte lang durchgefeiert und Petra wach gehalten hat. Petra würde ihr gerne verzeihen. Boshammers Theorie besagt, dass Petra dafür ihre negativen Emotionen überwinden und ihre Nachbarin von der Pflicht entbinden muss, an Schuld oder Reue zu leiden. Aber Petra ist der festen Überzeugung, dass die Nachbarin diese Pflicht nicht hat. Daher sieht sie sich auch nicht in der Lage, sie von dieser Pflicht zu entbinden. Und so scheint Boshammers Theorie zu implizieren, dass Petra ihrer Nachbarin nicht verzeihen kann, ganz gleich, was sie auch tut. Es scheint aber sehr wohl möglich, dass Petra ihrer Nachbarin verzeihen kann, auch wenn sie nicht der Meinung ist, dass die Nachbarin leiden soll.

Man könnte zugunsten von Boshammers Theorie vielleicht antworten, dass Petra falsche philosophische Überzeugungen hat. Tatsächlich, so diese Verteidigung, hat ihre Nachbarin sehr wohl die Pflicht, an Schuld oder Reue zu leiden. Außerdem übe Petra unbewusst ihre normative Autorität aus und entbinde die Nachbarin von der Pflicht zu leiden, obwohl Petra glaubt, dass sie diese Autorität gar nicht hat. Damit wäre der Einwand ausgeräumt.

Aber ist es möglich, normative Autorität auszuüben, auch wenn man glaubt, dass man diese Autorität nicht haben kann? Braucht die Ausübung einer normativen Autorität, wie etwa das Geben von Versprechen oder das Einwilligen in eine Operation, nicht vielmehr ein gewisses Verständnis von dem, was man tut, wenn man sie ausübt? Wenn dem so ist, dann funktioniert die Antwort zugunsten Boshammers nicht, und Petras Fall ist ein echtes Problem für ihre Theorie.

Die Überlegungen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Boshammers Theorie zufolge kann man nur dann Anderen verzeihen, wenn sie ihren Opfern gegenüber verpflichtet sind, an Schuld und Reue zu leiden. Es gibt aber gute Gründe, daran zu zweifeln, dass Menschen jemals eine solche Pflicht haben. Außerdem stellt sich die Frage, wie wir Boshammer zufolge Menschen verstehen sollen, die der festen Überzeugung sind, dass Menschen niemals die Pflicht haben, an Schuld oder Reue zu leiden.

4 Schluss

Boshammers Die zweite Chance: Warum wir (nicht alles) verzeihen sollten ist ein Buch für ganz unterschiedliche Leserinnen und Leser. Wer ohne viel Vorkenntnisse liest, bekommt eine beispielhafte Einführung in ein aktuell heiß diskutiertes und auch alltäglich spannendes philosophisches Thema. Wer sich besser auskennt, wird mit innovativen Argumenten und Thesen konfrontiert, die eine fruchtbare Diskussion über das Wesen und die Ethik des Verzeihens deutlich voranbringen werden. Die hier vorgestellten Überlegungen sollen dabei helfen. [5]

Published Online: 2021-12-09
Published in Print: 2021-12-09

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International License.

Downloaded on 25.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/dzph-2021-0070/html
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