Das Netz ist nie neutral

Sind Algorithmen einfach nur Algorithmen? Die digitale Elite glaubt das und beweist damit eine erstaunliche Phantasielosigkeit.

Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski
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Haben wir die Computertechnik noch im Griff? Speichergeräte im Datenzentrum von IBM in Dallas. (Bild: Ben Torres / Bloomberg)

Haben wir die Computertechnik noch im Griff? Speichergeräte im Datenzentrum von IBM in Dallas. (Bild: Ben Torres / Bloomberg)

In den Diskussionen um den Einfluss der Digitalisierung auf die Wahlkämpfe der Gegenwart wiederholen Tech-Autoritäten derzeit mantraartig die immergleiche These: Die Technik kann sowohl Gift als auch heilende Medizin sein. Lediglich am Nutzer liege es, was er mit ihr anstelle, nicht am Ding an sich.

Mark Zuckerberg erklärte in der Debatte um die Verbreitung von Fake-News, es sei schlicht «verrückt» anzunehmen, seine Firma Facebook habe die US-Wahl beeinflusst, sie stelle nur eine «neutrale Plattform» dar. Auch der CEO der britischen Datenfirma Cambridge Analytica (CA), Alexander Nix, betont die Vorurteilslosigkeit der Technik – zuletzt in seinem Vortrag «From Mad Men to Math Men».

Zwar erläuterte er, wie seine Firma für Donald Trump Wählerprofile ausspionierte, analysierte und mit verführerischen Botschaften bespielte, doch kritischen Fragen entgegnete er: «Nicht der Revolver tötet, sondern die Hand, die den Abzug betätigt.» Ähnliche rhetorische Geschütze fuhr Stanford-Professor Michal Kosinski auf: Als Wissenschafter habe er nur gezeigt, dass es «die Bombe gibt» – womit er jene Big-Data-basierten Analysemethoden meint, die CA nun prominent vermarktet.

Erhabene Kräfte

Die These des zweischneidigen Charakters der Technik wird dabei häufig von einem naturnahen Bilderkosmos begleitet. Für Zuckerberg ist Facebook ein «lernender Organismus», Teil «evolutionärer» Prozesse; Kosinski erscheint die Digitalisierung als «so unaufhaltsam wie Hurricanes».

Angesichts solch erhabener Kräfte seien ihre Folgen – etwa das «Ende der Privatheit» – natürliche Vorgänge, die man akzeptieren müsse, ohnehin sei es «egoistisch, die eigenen Daten nicht zu teilen».

Es ist bekannt, dass es die Waffen-und-Wiesen-Metaphoriker aus dem Silicon Valley mit der Privatheit – ausser natürlich ihrer eigenen – nicht so genau nehmen. Doch spätestens dann, wenn sie menschengemachte Techniken wie übermenschliche Naturgewalten beschwören und dabei erklären, «Algorithmen seien neutral wie ein Messer» (Kosinski), sollte dies irritieren. Jenseits des Schleiers natürlicher Neutralität drängt sich die Frage auf: Sind Mittel nur Mittel, Algorithmen nur Algorithmen?

«Jedes Gerät ist bereits seine Verwendung.»

Der weitgehend vergessene Technikphilosoph Günther Anders schrieb 1958 in seinem Aufsatz «Die Antiquiertheit der Privatheit», nichts sei irreführender als die Behauptung, «Geräte seien ‹moralisch neutral›: stünden also zu beliebigem Gebrauch frei zur Verfügung». Zwar liesse sich die Technik theoretisch als isoliertes Mittel begreifen, real sei sie jedoch immer in Kontexte und Zwecke eingebunden. Zugespitzt: «Jedes Gerät ist bereits seine Verwendung.» Es legt ein Verhalten nahe, implementiert eine Nutzung oder schreibt, wie im Falle des Algorithmus – eine Programmtechnik aus «Logik + Kontrolle» (Robert Kowalski) –, Handlungs- und Entscheidungsfolgen vor.

Eingebettete Meinungen

Wie aktuell Anders' Kritik ist, unterstreicht eine These von Cathy O'Neil: Algorithmen, so die Mathematikerin, seien «in Code eingebettete Meinungen». Sie repräsentierten die Werte ihrer Programmierer, operierten per se nicht neutral, würden daher häufig Vorurteile reproduzieren – schliesslich werden die «Problemlöser» selbst zum Problem. So mutiere etwa die Facebook-Chronik zur personalisierten Werbeoberfläche und «gefährlichen Echokammer», die ein Mehr des Gleichen erzeuge, sich dem Austausch entziehe und dadurch der Demokratie schade. Obgleich nach O'Neil ohne Algorithmen kein Staat mehr zu machen wäre, entwickelten sie sich im unkritischen Einsatz nicht selten zu undurchsichtigen Black Boxes; oder, wie die Amerikanerin pointiert: zu «Mathevernichtungswaffen».

Die Betonung theoretischer Neutralität ergibt hier in der Tat nur wenig Sinn. Jüngst trat sie verstärkt in Kombination mit einer strategischen Geschäftstüchtigkeit auf: als suggestives Argument, das Akteure im Windschatten der Parteilosigkeit ganz eigene Interessen verfolgen liess. Nix' freimütiges Statement, dass CA «offen dafür ist, den Grossteil aller politischen Parteien» zu unterstützen, wirkt hier wie eine krude Pointe: Denn jüngst wurde bekannt, dass sich der amerikanische Milliardär Robert Mercer, dem 90 Prozent von CA gehören, über deren manipulative Wahlwerbetechnik ausser für Trump auch für die Leave-EU-Kampagne der Brexiteers engagiert haben soll.

Der Vorgang lässt nicht nur die Proklamation neutraler Technik zweifelhaft werden, sondern rief auch die britische Datenschutzbehörde auf den Plan, die nun überprüft, ob das Wirken von CA überhaupt legal ist. Vielleicht ist die Verwechslung von real existierender und theoretischer Technik also nur ein rhetorischer Trick, der es ermöglichen sollte, den «Revolver» anzupreisen, ohne für den Schuss verantwortlich gemacht zu werden.

Diskursive Totalisierung

Auf der anderen Seite scheint man heute allzu sehr an vermeintlich verlässliche Indikatoren wie die Objektivität und die Transparenz der Daten zu glauben, wohl auch, um sich inmitten immer neuer Unübersichtlichkeiten nicht gänzlich ohnmächtig zu fühlen. Der von dateneuphorischen Tech-Aposteln bis hin zu komplexitätsmüden Politikern referierte Appell, man müsse die Digitalisierung nur gestalten, markiert jedenfalls einen erstaunlichen Common Sense – eine Haltung, die die berechnende Autorität der Technik und die Alternativlosigkeit zu ihr generalisiert. Der Mathematiker und Medienphilosoph Dieter Mersch spricht hinsichtlich dieser «Feier des ‹Techno-Logischen›» von einer «diskursiven Totalisierung», deren praktische Konsequenz Eric Schmidt mit den Worten beschreibt: «Das Internet wird verschwinden, es wird einfach Teil unseres Daseins sein – die ganze Zeit.»

Bereits Günther Anders kritisierte, dass die Technik absolut gesetzt, vorschnell zu einem allumfassenden Prinzip erhoben würde: Die Probleme, die jedes noch so smarte Ding aufwirft, würden demnach immer erst nachträglich formuliert, und damit würde der wesentliche Versuch versäumt, das Denken und Fühlen den «Grössenmassen unserer eigenen Produkte anzumessen» – die Aufgabe also, das «prometheische Gefälle» zu überwinden, das den antiquierten Menschen von der Maschine trennt.

So gelte es, der Machbarkeitsethik der Technologen eine «moralische Phantasie» gegenüberzustellen, die den Möglichkeitshorizonten der Technik – und dem beweglichen Heer ihrer Metaphern – nicht erliegt, sondern in der Lage sei, sich auch ihre destruktiven Folgen vorzustellen. Es genügt nach Anders nicht, die Welt zu verändern, wir haben diese Veränderung auch zu interpretieren, damit sich die Welt nicht ohne uns verändert – «in eine Welt ohne uns».

Anders' Forderung, das Denken, besonders aber das Fühlen, der Technik anzupassen, ist heute bedeutsamer als jemals zuvor: Denn dass jeder Klick im Internet nachvollziehbar ist, weiss man; man fühlt – zumindest hierzulande – nur nicht, was das bedeutet. Die Formel «Ich habe ja nichts zu verbergen», die sich im Rahmen von allerlei Abhöraffären äusserte, veranschaulicht dabei nicht nur den freiwilligen, mit diversen Gadgets entlohnten Verzicht auf Souveränität oder den Mangel an «moralischer Phantasie»; in der fast stolzen Ignoranz spiegelt sich vor allem das tiefgreifende Einfühlungsproblem in der entmaterialisierten Zone des Digitalen: Ohne körperliches Erfahren wird die «unüberprüfbare Möglichkeit des Überprüftseins» allzu leicht als selbstverständlich empfunden. Genau darin erkannte Anders eine Form «der Unfreiheit», nannte sie «sanft», «bequem» – und «verhängnisvoll».

Hauskatzen der Roboter

Ironischerweise dürfte sich das Einfühlungsproblem erst durch die Technik selbst verflüchtigen – wenn sich die invasive Technisierung derart natürlich ins Fleisch der Gesellschaft eingeschrieben hat, dass sie buchstäblich unter die Haut geht. Während eine schwedische IT-Firma ihren Angestellten seit kurzem anbietet, sich Chips – zum Türenöffnen – implantieren zu lassen, forscht Elon Musks Firma Neuralink am «direkten Interface zur Hirnrinde». Laut Musk ist die menschliche schon bald der künstlichen Intelligenz (KI) unterlegen, so dass sich nur über deren Gleichschaltung vermeiden liesse, dass wir «zu Hauskatzen» der KI würden.

Der Philosoph Slavoj Žižek kommentiert: «Wir werden nicht länger Mensch sein. Was aber passiert, wenn die Distanz zwischen Gehirn und Realität verschwindet? Und wer kontrolliert eigentlich diesen digitalen Raum?» Vielleicht wird uns also erst subkutan bewusst – wenn man von Bewusstsein dann überhaupt noch sprechen kann –, dass das Gerede von der Neutralität der Technik bestenfalls naiv war.

Anna-Verena Nosthoff ist Philosophin und politische Theoretikerin, Felix Maschewski ist Literatur- und Wirtschaftswissenschafter. Im Rahmen ihrer akademischen Forschung beschäftigen sie sich mit der Kultur der Digitalität und ihren politischen und ökonomischen Konsequenzen.