In den zwanzig Jahren, seit die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften ihr systematisches Monitoring der Gentechnologie in Deutschland begonnen hat, mag „die Gentechnologie“ für viele Menschen zumindest einen Teil ihrer ehemaligen Reizworteigenschaften eingebüßt haben. Dies nicht etwa, weil die Technologien, die mit rekombinanter DNA arbeiten, ihre Brisanz verloren hätten, sondern bestimmt auch durch einen gewissen Gewöhnungseffekt und in der Öffentlichkeit durch die Überlagerung durch dringlichere Probleme wie die Klimakrise. Damals war soeben das Human Genome Project abgeschlossen worden (2003). Die erste vollständige menschliche Genomsequenz lag vor und man entwickelte Ideen zu einem „neuen Paradigma der Genomforschung“, wie es im einleitenden Essay des ersten Berichts hieß (Hucho et al. 2005, S. 25). Die zum Themenbereich des Monitorings jährlich veröffentlichten Printartikel in deutschen Qualitätsmedien hat von 1708 im Jahr 2001 auf 251 im Jahr 2020 abgenommen (S. 543). Dass dieser Schein einer abnehmenden Diskussionswürdigkeit trügt und es auch heute viele ethische und regulatorische Fragen gibt, die geklärt werden sollten, hat die Arbeitsgruppe in ihrem fünften Bericht, den sie nun vorgelegt hat, deutlich aufgezeigt. Der Bericht erschließt wieder den Sachstand der Gentechnologie, stellt die aktuellen Forschungs- und Anwendungsperspektiven in allen Bereichen einschließlich der Medizin dar, und er identifiziert die mit ihnen verbundenen gesellschaftlichen, rechtlichen und ethischen Herausforderungen. Erstaunlich ist, wenn man das Buch aufschlägt, dass das schon in den 1980er-Jahren aufgekommene Narrativ einer „zunehmend rasanten Wissenschafts- und Technikentwicklung im Bereich der Gentechnologien“, das hier gleich zu Beginn der Einleitung in den neuen Bericht der Arbeitsgruppe evoziert wird (S. 81), sich bis heute noch nicht abgenützt zu haben scheint.

Der Band enthält fast zwei Dutzend gewichtige, aufschlussreiche, inspirierende und gut dokumentierte Kapitel zu einzelnen Themenbereichen wie Gendiagnostik (Stefan Mundlos), Gentherapie (Boris Fehse), Gene Drives (Alma Kolleck und Arnold Sauter), Hirnorganoide (Jochen Taupitz) oder personalisierte Medizin (Eva C. Winkler und Barbara Prainsack), um nur einige zu nennen. Außerdem werden eine Reihe von Querschnittsthemen behandelt wie die Zukunft der Genkonzepte (Hans-Jörg Rheinberger und Staffan Müller-Wille) oder der Zusammenhang von Kollektivität, Partizipation und Solidarität in der Bioethik (Silke Schicktanz und Lorina Buhr). Diese werden ergänzt durch Beiträge, welche die Methodik des dem Gentechnologiebericht zugrundeliegenden Monitoringsystems erklären. Am Beginn des Bandes stehen zu allen Themenbereichen konkrete Handlungsempfehlungen für die Infrastrukturentwicklung am Forschungsstandort Deutschland, für die Regulierung und für die ethische Diskussion, sowie für die gezielte Förderung bestimmter Forschungsrichtungen.

Wie sich zeigt, ist das systematische Monitoring als eine quantitative Grundlage für den Bericht wichtig gewesen; um aber aus ihm Ratschläge für die Gesellschaft und die Politik zu entwickeln, braucht es ein reflektierendes Beobachten, welches eine komplexe Problemlage im Hinblick auf ethische, gesellschaftliche und rechtliche Bewertungskriterien analysiert und dabei interdisziplinär vorgeht. Aus dieser Sicht ist es sehr zu begrüßen, dass die Arbeitsgruppe ihren Auftrag des „Monitoring“ nicht nur in dem eingeschränkten technischen Sinn versteht, wie es der Begriff zunächst nahelegt: „Ein Monitor ist ein Gerät, das als Teil eines technischen Prozesses bestimmte Parameter registriert, überwacht und reguliert“ (S. 87). Das indikatorbasierte Monotoringsystem und die Problemfeldanalyse, welche das „Alleinstellungsmerkmal des Gentechnologieberichts“ darstellen sollen (S. 88), haben zweifellos bemerkenswerte Ergebnisse gebracht, die auch in Form von anschaulichen Tabellen und Grafiken ausgewiesen werden.

Es ist schon erstaunlich, dass bei weitem die höchste Anzahl der internationalen Fachartikel in dem gentechnologischen Teilbereich Gentherapie veröffentlicht werden, und zwar durchgängig durch alle beobachteten 20 Jahre. Jedes Jahr gibt es zu Gentherapie eine ungefähr doppelte Zahl von Journal-Papers als in jedem der anderen Teilbereiche (Epigenetik, Gendiagnostik, Stammzellen, Agro-Biotechnologie, Synthetische Biologie und Organoide). Und insgesamt ist seit 2001 die Publikationsfrequenz in allen Bereichen der Gentechnologie etwa 5‑fach gestiegen. In der öffentlichen Wahrnehmung blieb die Gentherapie hingegen – gemessen an der Zahl erschienener Printartikel in Qualitätsmedien – weit hinter der Stammzellforschung zurück, welche seit dem Stammzell-Hype um 2001 ebenfalls stark abgesunken ist (2020 waren es noch 17 mal weniger Zeitungsartikel), aber dennoch ist die Gentherapie unter den untersuchten 7 Teilbereichen in der Öffentlichkeit immer noch das meistbehandelte Thema geblieben.

Den Hauptanteil des Bandes bilden zweifellos die 22 reflexiven, thematischen Kapitel, welche auch die Grundlage für die identifizierten Handlungsempfehlungen darstellen. Die somatische Gentherapie (um ein Thema herauszugreifen) hat nach vielen Rückfällen in den letzten Jahren einen starken Aufschwung erlebt; eine Reihe von Produkten sind inzwischen zugelassen. Angesichts erfolgreicher klinischer Studien sei in den nächsten Jahren mit weiteren Zulassungen zu rechnen, sowohl in der Krebsgentherapie als auch in der Behandlung monogener Erbkrankheiten. Angesichts der extrem hohen Preise, die die Pharmaindustrie für Gentherapeutika verlangt, sollten aber nun, wie die Arbeitsgruppe empfiehlt, Regeln eingeführt werden, die einen breiten Zugang zu evidenzbasierten Gentherapien ermöglichen, „deren Entwicklung über viele Jahre mit Steuergeldern gefördert wurde“ (S. 67). Bei den Keimbahninterventionen sieht die Arbeitsgruppe angesichts der Zulässigkeit von PID „kaum eine medizinische Indikation“ (S. 68).

Gen- und Genomdiagnostik werden zukünftig einen immer breiteren Raum einnehmen, nicht zuletzt durch GenomDE, der deutschlandweiten vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Plattform zur medizinischen Genomsequenzierung. Ein angemessener Umgang mit diesen genomischen Diagnosemethoden und den damit einhergehenden prädiktiven Möglichkeiten erfordert laut der Arbeitsgruppe eine Überarbeitung und Aktualisierung des auf die Untersuchung einzelner Gene zugeschnittenen Gendiagnostikgesetzes, sowie eine ethische und gesellschaftliche Diskussion. Immer häufiger werden Patient:innen über ihre Genomsequenzen verfügen.

Als einen dritten medizinrelevanten Bereich möchte ich die aus Stammzellen abgeleiteten Organoide hervorheben. Dabei handelt es sich um eine relativ neue Technologie, die gemäß der Empfehlung der Arbeitsgruppe in Deutschland gezielt gefördert werden sollte. Neuronale Organoide und Embryoide bieten die Möglichkeit eines Studiums komplexer Vorgänge in der Interaktion verschiedener Zelltypen in einem menschlichen Organverbund. Im Sinn einer personalisierten Medizin kann so die Wirksamkeit eines Medikaments direkt an aus patientenspezifischen Zellen abgeleiteten Organoiden getestet werden, während gegenwärtig die Transplantation von Organoidmaterial in den Menschen noch ausgeschlossen sei (S. 54). Entsprechend brisant sind die ethischen Fragen, die ihrer Klärung harren: Können neuronale Assembloide ein Bewusstsein entwickeln? Wie wäre es feststellbar und „welche ethisch-rechtlichen Schutzansprüche“ (S. 56) würden sich dann daraus ableiten? Wie müssen Embryoide ontologisch eingestuft werden? Wie hängt die Frage, ob ihnen Lebensschutz zukommen soll, von der Anwendung der Prinzipien des Embryonenschutzgesetzes und von der Menschenwürde ab?

Bei der Lektüre dieser Empfehlungen zur Organoidtechnologie haben sich mir auch Fragen anderer Art gestellt, nämlich die, ob dieser unhinterfragte Denkpfad in Richtung ethisch-rechtlicher Schutzansprüche von künstlich erzeugten Organoiden oder Embryoiden eigentlich in seiner Ausschließlichkeit noch überzeugt. Sind das wirklich die zentralen ethischen Fragen, die sich stellen? Oder stellen sie sich nur deshalb so, weil die Debatte um Stammzellenforschung und Embryonenschutz bisher diskursiv so formiert worden ist? Fußt die Frage nach einem „Bewusstsein“ von Hirnorganoiden nicht doch auf den Voraussetzungen einer funktionalistischen Ontologie des Bewusstseins (Hirn als Computer), die andere, etwa leibphänomenologische Ansätze zur Bewusstseinsphilosophie ausschließt? Wie auch immer diese Diskussion weitergeführt wird, die Empfehlung, eine zukünftig vielleicht mögliche Nutzung von Embryoiden zur Reproduktion von Menschen im Embryonenschutzgesetz explizit zu verbieten (S. 57), scheint zentral und überzeugend.

Der inhaltsreiche Band verdient eine aufmerksame, im Detail kritische Lektüre und die Aufnahme in den je spezifischen bioethischen Diskussionskontexte.