Grazer Philosophische Studien

Volume 50, 1995

Meinong und die Gegenstandstheorie

Maria E. Reicher
Pages 217-232

Gibt es unvollständige Gegenstände?

In Über Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit entwickelt Meinong seine Theorie der unvollständigen Gegenstände. Der Begriff der Unvollständigkeit wird eingeführt mittels expliziter Bezugnahme auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Ein Gegenstand ist unvollständig genau dann, wenn für ihn der Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht gilt. M. a. W.: x ist unvollständig, wenn nicht für jede Eigenschaft P gilt, daß x P hat oder daß x P nicht hat. Alle existierenden und bestehenden Gegenstände sind vollständig; Gegenstände wie das Dreieck in abstracto oder der Gegenstand etwas Blaues sollen dagegen unvollständig sein. Meinong unterscheidet zwei Arten der Negation: (Ne) Es ist nicht der Fall, daß x p hat. (Externe Negation) (Ni) X hat nicht-P (Interne Negation) Meinong selbst stellt fest, daß in bezug auf die externe Negation der Satz vom ausgeschlossenen Dritten uneingeschränkt gültig ist. Um zu verstehen, was es heißt, daß ein Gegenstand unvollständig ist, erscheint es daher unumgänglich, Klarheit darüber zu gewinnen, was eigentlich mit der internen Negation zum Ausdruck gebracht wird. Es wird eine Interpretation der internen Negation vorgeschlagen, und es soll gezeigt werden, daß es gemäß dieser Interpretation überhaupt keine Gegenstände gibt, die unvollständig im Sinne Meinongs sind.