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Das große Spiel der Epoché. Die transzendentalphänomenologische Einstellung zwischen natürlichem Weltverhalten und theoretischer Wissenschaft

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Zusammenfassung

Husserls Ansatz der Transzendentalphänomenologie wird gemeinhin als Versuch einer rationalen Letztbegründung von Erkenntnis überhaupt gedeutet. Sein Verständnis der konstitutiven Rolle des reinen Bewußtseins gegenüber dem Weltphänomen als solchem sowie seine Betonung des teleologischen Aspektes der transzendentalen Vernunft scheint sein Denken von vornherein in radikalen Gegensatz zu all jenen phänomenologischen Entwürfen zu bringen, die – wie etwa Heidegger oder Fink – die Beziehung von Subjekt und Welt sowie die Philosophie als ganze wesentlich vom Spiel her zu verstehen suchen. Andererseits hat die phänomenologische Epoché durch die in ihr liegende Neutralisierung der Existenzsetzung von transzendenter Wirklichkeit bisweilen in dem Ruf gestanden, sich in die freischwebende Sphäre der „reinen Denkbarkeiten” und Fiktionen zurückziehen zu wollen. Ausgehend von gewissen kritischen Bemerkungen Husserls zu den Analysen der praktischen Verwendungs- und Verstehenszusammenhänge in Sein und Zeit soll in diesem Artikel gezeigt werden, daß der Spielbegriff bei Husserl so vielschichtig ist wie die intentionale Struktur des Bewußtseins selbst. Zwischen der existenzneutralen Betrachtung „freischwebender” eidetischer Strukturen einerseits und der Betonung des absoluten teleologischen Zwecksinnes der transzendentalen Bewußtseinsaktivität andererseits versucht Husserl, die Motivation des Durchbruchs der rein theoretischen Haltung als solcher vor dem Hintergrund spielerischer Freiheit und Spontaneität zu verstehen. Im Gegensatz zu Heidegger wird die „spielerische Neugierde” der theoretischen Haltung, die auch der Epoché zugrunde liegt, als ein positives Grundphänomen verstanden, das auf die Freiheit des transzendentalen Subjekts von dinglichen Zweckzusammenhängen und damit auf seine überweltliche Würde als transzendentale Person verweist.

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Notes

  1. Vgl. etwa die abschätzige Bewertung der „Literatenphilosophie“ in Hua XXIX, 362. Vgl. auch ebd., 228, 288f.

  2. Vgl. Fink (1957).

  3. Vgl. Heidegger (1954/61990), 170–175.

  4. Vgl. Fink (1960), 218–242; Fink (1979), 352–453, insbesondere 406.

  5. Vgl. Fink (1960), 220f., 239; Fink (1979), 356f., 408 sowie Heidegger (1954/61990), 171f.

  6. Vgl. Caillois (1958/1967), 37f.; Huizinga (1944), 15–17, 32f.; Brezzi (1992), 16, 26f.; Henriot (1983), 107.

  7. Vgl. Huizinga (1944), 18f.

  8. In einer eigentümlichen Vorwegnahme dessen, was Heidegger im § 31 von Sein und Zeit ausführt (vgl. Heidegger 1953/171993, 143f.), bestimmt Husserl die einzigartige Stellung des Menschen gegenüber dem Tier gerade anhand ihres jeweiligen Grundverhältnisses zu den Modalitäten: „Das Tier ist an die Wirklichkeit gebunden, das ist, es folgt blind, passiv der Motivationskraft der auf es einstürmenden Affektionen, der Sinnesaffektion, der Neigungen, der Begierden, der passiv sich auswirkenden realisierenden Tendenzen. Der Mensch ist frei, für ihn geht die Möglichkeit den Wirklichkeiten vorher. Er beherrscht die Wirklichkeit durch Beherrschung der Möglichkeiten“ (Hua XXVII, 98; Hervorh. v. d. Vf.).

  9. Vgl. Adorno (1990), 44, 115, 156.

  10. „So kann man denn wirklich, wenn man paradoxe Reden liebt, sagen [...], daß die ‚Fiktion’ das Lebenselement der Phänomenologie, wie aller eidetischen Wissenschaft, ausmacht, daß Fiktion die Quelle ist, aus der die Erkenntnis der ‚ewigen Wahrheiten’ ihre Nahrung zieht“ (Hua III/1, 148; Hervorh. von Husserl). Vgl. auch ebd., 16, 21, 145ff., 172, 326 sowie Hua II, 68f.

  11. Vgl. Adorno (1990), 202–204.

  12. „Das Vorschwebende mag ein bloßes Fiktum sein, das Vorschweben selbst, das fingierende Bewußtsein ist nicht selbst fingiertes, und zu seinem Wesen gehört, wie zu jedem Erlebnis, die Möglichkeit wahrnehmender und das absolute Dasein erfassender Reflexion“ (Hua III/1, 97).

  13. Treffenderweise hat Karl-Heinz Lembeck daher in Anlehnung an eine Formulierung Robert Musils den Ursprung der transzendentalen Einstellung im „Möglichkeitssinn“ lokalisiert, der sich auf den aller Wirklichkeit vorausgehenden und sie umfassenden Horizont der Potentialität bezieht (Lembeck [1999], 3–21, hier 13).

  14. Vaihinger (1911).

  15. Vaihinger (1911), IX–XI.

  16. „Das mit Notwendigkeit Gedachte ist noch nicht wirklich: denn jene Notwendigkeit ist nur ein Gebot der Zweckmäßigkeit“ (Vaihinger [1911], 193; vgl. auch ebd., 11, 137, 143).

  17. Vgl. Vaihinger (1911), 325ff., 399–412.

  18. „Philosophie gewissermaßen als eine wundersame neue Art der Kunst ansehen, als eine ‚Begriffsdichtung’, die einem ‚metaphysischen Bedürfnis’ des Menschen [...] jeweils Genüge tut [...], das heißt, der Menschheit zumuten, daß sie sich in einer Fiktion, Illusion einer ‚Philosophie-als-Ob’ genügen wollte und je genügen könnte“ (Hua XXIX, 406f.).

  19. Insofern ist Adornos Kritik einer hermetischen, letztlich nur „mit sich selbst spielenden“ Phänomenologie unzutreffend oder zumindest stark verkürzt (vgl. Adorno [1990], 115). Zwar „spielt“ die Phänomenologie gemäß ihrer eigenen methodologischen Grundregeln, aber keineswegs nur für sich selbst bzw. ausschließlich im engen Spielraum reiner Selbstbezüglichkeit.

  20. Vgl. Ardley (1967), 226–244.

  21. „Philosophie als Zweck hat nicht einen Plural. Alle Philosophen erstreben die Philosophie, die ihrem Sinne nach eine einzige ist“ (Hua XXIX, 406; Hervorh. von Husserl).

  22. Vgl. Luft (2002), 291. Diese Auffassung bedeutet eine gewisse Abmilderung gegenüber der von Husserl 1923 formulierten Position, derzufolge die absolut rationale Person hinsichtlich ihrer Rationalität causa sui sei (vgl. Hua XXVII, 36).

  23. Vgl. Heidegger (1988), 71.

  24. Vgl. Heidegger (1994), 267.

  25. Vgl. Heidegger (1994), 81, 83.

  26. Vgl. Breeur (1994), 3–48, hier 11f., 14.

  27. Vgl. Heidegger (1994), 126.

  28. Vgl. Heidegger (1994), 60, 96.

  29. Vgl. Heidegger (1985/21994), 89; Heidegger (1988), 103.

  30. Husserl selbst hat später die abstrakte, formale Fassung der transzendentalen Subjektivität um den Begriff der „Monade“, d. h. die transzendentale Fassung des Subjekts in seiner vollen Konkretion, ergänzt (vgl. etwa Hua I, 102ff. oder auch seine Randbemerkungen zu S. 55 und S. 363 von Sein und Zeit [in Breeur (1994), 43]), doch scheint Heidegger diese wesentliche Erweiterung des Husserlschen Subjektsbegriffs nicht gekannt oder zumindest nicht erkennbar rezipiert zu haben; bezieht sich seine Kritik doch bezeichnenderweise immer auf die Bestimmung der „Region des Bewußtseins“ in den Logischen Untersuchungen und den Ideen I (vgl. Heidegger [1994], 49–56 sowie Heidegger [1979/21988], 129–139).

  31. Vgl. Heidegger (1988), 7.

  32. Vgl. Heidegger (1994), 268.

  33. Vgl. Heidegger (1994), 96f.

  34. Vgl. Heidegger (1953/171993), 12; Heidegger (1975/21989), 396–399.

  35. Vgl. Luther (1938), 371–373 sowie Luther (1912), 72f.

  36. Heidegger (1988), 46.

  37. Vgl. Heidegger (1953/171993), 172.

  38. Vgl. Heidegger (1987), 109f.

  39. „Das Verständnis der Phänomenologie liegt einzig im Ergreifen ihrer Möglichkeit“ (Heidegger [1953/171993], 38).

  40. Vgl. Heidegger (1979/21988), 152; Heidegger (1953/171993), 252–265.

  41. Vgl. Heidegger (1975/21989), 29.

  42. Vgl. Heidegger (1975/21989), 454ff.

  43. Vgl. Heidegger (1996), 315f.

  44. Vgl. Heidegger (1996), 311–313.

  45. Heidegger (1996), 323.

  46. Vgl. Heidegger (1996), 317–322.

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Roesner, M. Das große Spiel der Epoché. Die transzendentalphänomenologische Einstellung zwischen natürlichem Weltverhalten und theoretischer Wissenschaft. Husserl Stud 24, 31–52 (2008). https://doi.org/10.1007/s10743-008-9034-6

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