Zusammenfassung
Der Beitrag empirischer Forschung zur Bearbeitung medizinethischer Fragestellungen ist Gegenstand eines aktuellen interdisziplinären Diskurses. Während die Anzahl empirischer Studien, die in medizinethisch relevanten Fachzeitschriften publiziert wurden, in den letzten Jahren zugenommen hat, liegen nach Kenntnis der Autoren kaum methodenreflexive Veröffentlichungen zu konkreten empirischen Forschungsprojekten in der Medizinethik vor. Die Untersuchung der Wechselbeziehungen von Ethik und Empirie anhand ausgewählter interdisziplinärer empirisch medizinethischer Forschungsprojekte erscheint aus mehreren Gründen von Interesse. Zum einen kann auf diese Weise der mögliche Beitrag empirischer Forschung zur Bearbeitung medizinethischer Fragestellungen exemplarisch analysiert werden. Zum anderen lassen sich auf diese Weise methodische wie auch forschungspraktische Herausforderungen bei der Planung, Durchführung und Auswertung empirischer Untersuchungen in der Medizinethik beschreiben und mögliche Lösungswege aufzeigen. In diesem Beitrag werden methodische Herausforderungen bei der Anwendung sozialempirischer Methoden im Rahmen eines interdisziplinären medizinethischen Forschungsprojekts zur ärztlichen Handlungspraxis am Lebensende dargestellt und analysiert. Auf diese Weise soll der mögliche Beitrag empirischer Forschung in der Medizinethik und die mit der Durchführung interdisziplinärer medizinethischer Untersuchungen verbundenen Herausforderungen konkretisiert und illustriert werden.
Abstract
Definition of the problem The contribution of empirical research to medical ethics is part of the current interdisciplinary debate on methods in medical ethics. In contrast to the numerous empirical studies which have been published in medical ethics journals there is scarcity of literature which reflects on methodical challenges of empirical research projects in medical ethics. Arguments The analysis of the relationship between ethics and empirical facts in the context of defined research projects is interesting for several reasons. On one hand such work provides an opportunity to analyse the potential contribution of the research to the medical ethical discourse. On the other hand methodical as well as practical challenges with respect to the planning and conducting of interdisciplinary research can be demonstrated by using a specific piece of interdisciplinary research in medical ethics. In this paper the methodical challenges of applying empirical methods in an interdiscplinary research project on physicians’ practice at the end of life will be presented and discussed. Conclusion The paper gives examples for the potential contribution of empirical research to the medical ethics discourse and provides illustrations for the challenges of such research.
Notes
Die Begriffe „empirisch“ beziehungsweise „Empirie“ beziehen sich in diesem Beitrag auf methodisch kontrolliert erhobenen Erfahrungen. Weiterhin beziehen sich „empirische Methoden“ und synonym verwendete Begriffe, wenn nicht anders vermerkt, auf den Gegenstandsbereich sozialempirischer Forschung.
Der Begriff mixed-method wird in diesem Beitrag in Bezug auf die Verwendung quantitativer wie auch qualitativer sozialempirischer Methoden im Rahmen eines Forschungsprojekts verwendet.
In dem genannten Forschungsprojekt werden die ärztlichen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (Vollerhebung,) mit Hilfe eines quantitativen Messinstruments zur ihrer Handlungspraxis am Lebensende befragt. Die Untersuchungsmethode orientiert sich an dem von Seale beschriebenen Vorgehen [26]. Neben der Durchführung der Umfrage werden ausgewählte ärztliche Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin mit Hilfe eines semistrukturierten Leitfadens zu ihrer Wahrnehmung und Bewertung ärztlicher Handlungen in der letzten Lebensphase befragt.
Das vom EURELD consortium initiierte Forschungsprojekt bestand aus der in diesem Beitrag vorgestellten EURELD-Studie zur ärztlichen Handlungspraxis und einer zweiten, in diesem Beitrag nicht ausgeführten Untersuchung, in der Ärzte zu ihren Einstellungen gegenüber ethisch relevanten Fragen am Lebensende befragt wurden.
Im vorliegenden Artikel wird aus Gründen der gebotenen Kürze und Lesbarkeit zur Bezeichnung gemischtgeschlechtlicher Gruppen die männliche Form verwendet. Gemeint sind stets beide Geschlechter, hier z.B. Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler.
Als „medical end-of-life decision“ wurden folgende ärztliche Handlungen, die mit einer als wahrscheinlich oder sicher anzunehmenden Lebensverkürzung einhergehen, definiert: die Begrenzung medizinischer Maßnahmen, die Applikation von Substanzen zur Leidensminderung, die Tötung auf Verlangen und die ärztlich assistierte Selbsttötung [6].
Die Terminologie entspricht den Formulierungen des EURELD-Messinstruments, das im deutschsprachigen Landesteil der an der Studie teilnehmenden Schweiz verwendet wurde.
Das methodische Vorgehen qualitativer Analyse nach den Prinzipien der grounded theory wurde von Barney Glaser und Anselm Strauss erstmals beschrieben [16]. In der Folge entwickelten die beiden Begründer dieser Methode der qualitativen Sozialforschung unterschiedliche Varianten dieser Methode (vgl. [28]).
Neben qualitativen Forschungsansätzen, die ihren disziplinären Ursprung in der Soziologie haben (z.B. grounded theory), wurden in anderen Disziplinen ebenfalls qualitative Methoden zum Zweck der empirischen Forschung entwickelt. Beispiele hierfür sind phänomenologisch orientierte Methoden oder ethnografische Studien, die ihren disziplinären Ursprung in der Philosophie respektive Anthropologie haben ([29], S. 146–191).
Die in diesem Beitrag genannten Beispiele sind Zwischenergebnisse des laufenden Forschungsprozesses. Eine detaillierte Darstellung der im Rahmen des Forschungsprojektes entwickelten Konzepte erfolgt gesondert.
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Danksagung
Diese Arbeit wurde mit Mitteln der FoRUM Forschungsförderung (Förderkennzeichen: F496-2005) der Medizinischen Fakultät, Ruhr-Universität Bochum unterstützt.
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Schildmann, J., Vollmann, J. Empirische Forschung in der Medizinethik: Methodenreflexion und forschungspraktische Herausforderungen am Beispiel eines mixed-method Projekts zur ärztlichen Handlungspraxis am Lebensende. Ethik Med 21, 259–269 (2009). https://doi.org/10.1007/s00481-009-0023-x
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