Hintergrund und Fragestellungen

Der Umgang mit jugendlichen StraftäternFootnote 1 in der Schweiz stand aufgrund von Einzelfällen wiederholt im Fokus von Öffentlichkeit und Politik. So z. B. im Fall von „Carlos“, einem jugendlichen Intensivtäter, für welchen die Jugendanwaltschaft 2013 eine maßgeschneiderte Maßnahme anordnete (Jositsch et al. 2013). Nachdem die KostenFootnote 2 für diese Maßnahme publik geworden waren, entstand eine Debatte über den Aufwand der Resozialisation von Intensivtätern. Auf Druck der Öffentlichkeit wurde die bis dahin erfolgreiche Maßnahme abgebrochen und der Jugendliche inhaftiert – rechtswidrig, wie das Bundesgericht später feststellte. Untersuchungen ergaben, dass der Jugendliche teilweise erniedrigenden Haftbedingungen ausgesetzt war. Zuvor wurde der damals 16-Jährige in einer psychiatrischen Einrichtung nach einem Suizidversuch 13 Tage lang mechanisch fixiert und zwangsweise mediziert, was in einem späteren Gutachten als Misshandlung eingestuft wurde. Aufgrund mehrerer Delikte im Strafvollzug, u. a. versuchte schwere Körperverletzung von Beamten, wurde der inzwischen 24-Jährige 2019 zu einer stationär-therapeutischen Maßnahme und einer Freiheitsstrafe von knapp fünf Jahren verurteilt.

Der Fall ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich, dennoch macht er einige Eigenheiten des schweizerischen Jugendstrafvollzugs deutlich. Erstens verweist der Fall auf den Grundsatz des Schweizer Jugendstrafgesetzes (JStG), Strafen mit erzieherischen oder therapeutischen Maßnahmen zu verbinden, um Entwicklungsdefizite zu beheben, psychische Erkrankungen zu behandeln und die Resozialisation zu fördern. Dazu können Aufsicht, persönliche Betreuung, ambulante oder stationäre Behandlungen angeordnet werden. Der Freiheitsentzug in einem Gefängnis kann dabei zugunsten einer Unterbringung, z. B. in einer jugendforensischen Einrichtung, aufgehoben werden (Manzoni et al. 2018). Zweitens macht der Fall deutlich, wie stark die Wahrnehmung von Jugendkriminalität und bisweilen auch die Strafverfolgung durch die mediale Berichterstattung beeinflusst wird. Forderungen nach höheren Strafen finden in der Schweizer Bevölkerung jeweils breite Zustimmung (Baier 2019b). Regelmäßig kommt es zu politischen Vorstößen zur Verschärfung des Strafrechts.Footnote 3 Die Anzahl der Verurteilungen von Minderjährigen aufgrund von Gewaltstraftaten hat sich zwischen 2010 und 2015 allerdings halbiert (−51 %), wobei seit 2015 wieder ein leichter Anstieg (+14 % bis 2018) zu verzeichnen ist.Footnote 4 Die Rückfallrate verurteilter Jugendlicher im Erwachsenenalter lag 2017 bei 26 % – relativ tief im internationalen Vergleich.Footnote 5 Drittens zeigt der Fall die Chancen maßgeschneiderter Behandlungen und die Risiken, wenn diese ausbleiben. Jugendliche Straftäter sind in ihrer Biografie besonders häufig psychosozialen Belastungen wie emotionaler Vernachlässigung, häuslicher Gewalt oder Trennung der Eltern ausgesetzt (Aebi 2019). Die Prävalenz psychischer Störungen unter inhaftierten Jugendlichen ist in der Schweiz (wie auch international) sehr hoch (90 %), und das Rückfallrisiko solcher Jugendlicher für Gewaltdelikte ist höher als bei psychisch unauffälligen Jugendlichen (Bessler et al. 2019). Nicht behandelte Entwicklungsdefizite oder psychische Störungen können sich unter Haftbedingungen intensivieren und den Strafvollzug an seine Grenzen bringen, was wiederum ethisch fragwürdige Praktiken wie Erniedrigung, Zwang oder Misshandlung begünstigt.

Die Versorgung von jugendlichen Straftätern mit psychischer Beeinträchtigung zu verbessern, ist ein zentrales Anliegen der forensischen Kinder- und Jugendpsychiatrie (FKJP) (Souverein et al. 2019). Die Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK) eröffneten zu diesem Zweck 2011 den Bereich Jugendforensik, der Abteilung und Ambulanz umfasst. Die Abteilung ist die einzige stationäre Jugendforensik in der Schweiz mit insgesamt zehn Behandlungsplätzen für Jugendliche beider Geschlechter zwischen 10 und 25 Jahren und betreut Jugendliche nach einem multimodalen Versorgungskonzept.Footnote 6 Die Ambulanz ist auf Abklärung, Begutachtung und ambulante Behandlung von straffälligen oder sozial auffälligen Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen spezialisiert.

Aus ethischer Perspektive steht die FKJP in einem komplexen Spannungsfeld medizinischer, rechtlicher und sozialer Anforderungen: Als psychiatrische Disziplin ist sie dem individuellen Patienten verpflichtet, u. a. also Patientenwohl und -wille. Minderjährige, psychisch auffällige Straftäter sind besonders vulnerabel, was zusätzliche therapeutische Sorgfalt und Rücksichtnahme erfordert. Zudem besteht eine Verantwortung für Ausbildung und Erziehung, sofern Regelschule und Eltern diese nicht wahrnehmen können. Daneben sind auch die Rechte und Lebensverhältnisse der Angehörigen angemessen zu berücksichtigen. Als forensische Disziplin ist die FKJP zu Zweckdienlichkeit und Wahrheit gegenüber dem Gericht verpflichtet, insbesondere zur Erhebung und Offenlegung von patientenbezogenen Informationen. Als gesellschaftliche Institution steht die FKJP im Dienst von Politik und Gesellschaft, den Vollzug von Freiheitsstrafen sicherzustellen, die Öffentlichkeit vor weiteren Delikten zu schützen und den Täter zur Resozialisierung zu befähigen.

In diesem Artikel soll zunächst deskriptiv untersucht werden, welche ethischen Probleme sich angesichts der normativen Komplexität im Maßnahmenvollzug der FKJP stellen.Footnote 7 Dazu werden die Ergebnisse einer systematischen Literaturrecherche zu ethischen Problemen in der FKJP und einer Beobachtungsstudie zu ethischen Problemen in der Abteilung Jugendforensik UPK vorgestellt. Aus normativ-ethischer Perspektive stellt sich Behandelnden und Betrachtern die Frage, wie im klinischen Alltag mit diesen Problemen angemessen umzugehen ist. Institutionell besteht eine Antwort in der zunehmenden Etablierung von Strukturen der ethischen Unterstützung an psychiatrischen Kliniken (Ackermann et al. 2016; Wollenburg et al. 2020).Footnote 8 In diesem Artikel wird als Ergänzung zu fallbezogenen Ethikberatungen ein präventiver Ansatz vorgeschlagen. Präventive Ansätze in der klinischen Ethik sind in der US-amerikanischen Literatur unter dem Namen „Preventive Ethics“ bekannt. Ihr Ziel ist, die Qualität in der Patientenversorgung zu verbessern, indem ethische Probleme auf einer systemischen Ebene proaktiv und präventiv bearbeitet werden – im Unterschied zu fallbasierten und reaktiven Formen der Ethikberatung. Dazu werden Risikofaktoren, Indikatoren und Auslöser für ethische Probleme ermittelt und Interventionen entwickelt, die solche Probleme frühzeitig aufzudecken, zu adressieren und zu verhüten helfen (Foglia et al. 2012; Pavlish et al. 2013). Auf der Basis unserer Studienergebnisse wird ein Instrument zur Früherkennung und -intervention von ethischen Problemen (FIEP) vorgestellt. FIEP soll Behandelnden in der Jugendforensik helfen, ethische Probleme frühzeitig zu erkennen und geeignete Interventionen zu planen.Footnote 9

Methodik

Systematische Literaturrecherche

Für die systematische Literaturrecherche wurde in den Datenbanken PubMed, PubPsych, PsycINFO mit PSYNDEXplus, Web of Science und BELIT ein vergleichbarer Suchalgorithmus verwendet.Footnote 10 Als Suchstrategie wurde festgelegt, die von den Autoren festgelegten Schlüsselbegriffe in einer Freitextsuche zu verwenden und die Treffer anschließend anhand der Zusammenfassung zu validieren. Dazu musste eine Zusammenfassung vorliegen, die sich explizit auf den Maßnahmenvollzug in der FKJP und auf moralische oder ethische Themen, Normen, Prinzipien, Theorien o. Ä. bezieht.Footnote 11 Die Recherche orientierte sich an den methodischen Grundsätzen des PRISMA-Statements (Moher et al. 2009). Die in den Publikationen genannten Themen wurden von zwei Forschenden gesichtet, paraphrasiert und anschließend nach Prinzipien geordnet, orientiert am Vier-Prinzipien-Ansatz von Beauchamp und Childress (2013).Footnote 12 Für Dokumentation und Auswertung wurden Clarivate EndNote X9, Microsoft Excel 365 und IBM SPSS Statistics 26 verwendet.

Beobachtungsstudie mit qualitativer Inhaltsanalyse

Für die Beobachtungsstudie wurden im Zeitraum von April bis September 2016 vier verschiedene Gesprächsformate der Jugendforensik besucht: interne und externe Standortbestimmungen (n = 13 bzw. n = 2), Übergaben (n = 20) und Oberarztvisiten (n = 4).Footnote 13 Drei Forschende erstellten in nicht-teilnehmender Beobachtung 39 Textdokumente (Reiter-Theil 2004; Thierbach und Petschick 2014). Der Auftrag lautete, ethisch relevante Kommunikation in einem Beobachtungsprotokoll festzuhalten. Dieses wurde in der Nachbearbeitung ggf. anhand der Falldokumentation und/oder einer Besprechung im Forschungsteam ergänzt und finalisiert. Zur Analyse der Textdokumente wurde die qualitative Inhaltsanalyse mittels inhaltlicher Strukturierung nach Mayring (2010) verwendet (Mayring 2010, S. 92–99).Footnote 14 Analysiert wurde (1.) der ethische Inhalt des Kommunikationstextes, d. h. ethische Themen oder Probleme, auf welche der Text explizit oder implizit verweist („Inhalt“), (2.) die pragmatische Form des Kommunikationstextes, d. h. wie der ethische Inhalt thematisiert wird („Kommunikationsform“), und (3.) die Struktur der Handlungssubjekte, auf die der ethische Inhalt explizit oder implizit verweist („Handlungsstruktur“). Für die Analyse wurde MAXQDA 2020 von VERBI verwendet.

Alle Probanden wurden über den Zweck der Studie aufgeklärt und haben freiwillig in die Teilnahme eingewilligt. Alle Daten wurden vollständig anonymisiert und verschlüsselt. Für diese Studie wurden keine Daten erhoben, die unter das Schweizerische Humanforschungsgesetz (HFG, Art. 2) fallen, insbesondere keine gesundheitsspezifischen Personendaten. Eine Prüfung der Studie durch die zuständige Ethikkommission Nordwest- und Zentralschweiz (EKNZ) war daher nicht erforderlich.

Entwicklung eines Instruments zur Früherkennung und -intervention von ethischen Problemen

Instrumente zur Früherkennung und -intervention von ethischen Problemen wurden bisher für die Bereiche der Intensiv- und Notfallmedizin entwickelt (Anderson-Shaw et al. 2007; Morgenstern 2005; Pavlish et al. 2015b; Scheffold et al. 2012). Für die Entwicklung solcher Instrumente gibt es bisher kein standardisiertes Vorgehen. Hier wurde folgendermaßen vorgegangen, um das Instrument auf der Grundlage von vier Kernelementen zu entwickeln: (1.) Ethische RisikofaktorenFootnote 15: Durchführung einer Literaturrecherche zu ethischen Risikofaktoren in der Patientenversorgung; Priorisierung, Adaption und Ergänzung der Risikofaktoren für die FKJP; Erstellen eines Katalogs der Risikofaktoren; (2.) Ethische IndikatorenFootnote 16: Durchführung einer systematischen Literaturrecherche und einer Beobachtungsstudie zu ethischen Themen in der FKJP (s. oben); Synthetisieren der ethischen Indikatoren; Erstellen eines Katalogs der Indikatoren; (3.) Interventionsplanung: Adaptierung des Stufenmodells der Leitlinie zu Entscheidungen am Krankenbett METAP für die FKJP (Albisser Schleger et al. 2019);Footnote 17 (4.) Entscheidungsfindung: Entwicklung eines Verfahrens zur ethischen Entscheidungsfindung auf der Basis langjähriger Erfahrung der Autoren in der Ethikberatung. Alle Kernelemente wurden von den Autoren und der Leitung der Abteilung Jugendforensik geprüft, konsentiert und anschließend in einem Arbeitsbogen zusammengestellt.

Ergebnisse

Ergebnisse der Literaturrecherche zu ethischen Themen in der FKJP

Bei der Suche am 05.08.2020 wurden insgesamt 509 Publikationen gefunden, ohne Duplikate 340. Aufgrund fehlender Informationen wurden 11 Publikationen ausgeschlossen. 315 Publikationen wurden mangels Relevanz ausgeschlossen, 14 Publikationen wurden als valide eingeschätzt.Footnote 18 Unter den validen Publikationen befinden sich 11 narrative Übersichtstudien, entweder über ethische Themen in der FKJP allgemein (McPherson 2012; Morrison 1986; Ratner 2002; Sikorski und Kuo 2004; Soulier 2010; Zerby und Thomas 2006) oder mit Schwerpunkt zur forensischen Begutachtung (Barth 2003; O’Shaughnessy und Andrade 2008; Quinn 1995; Sadoff und Baird 2011; Schetky 1992). Dazu kommen eine strukturierte Übersichtsstudie zu ethischen Themen (Kaltiala-Heino und Eronen 2015) sowie zwei theoretisch-normative Abhandlungen zur Nachprüfung von forensischen Gutachten (Austin et al. 2011) und zu professionellen Rollenkonflikten (Strous 2009) in der FKJP.

Am häufigsten genannt wird das Thema Professioneller Rollenkonflikt (in 93 % aller Publikationen), gefolgt von Diagnostik und Begutachtung (79 %), Vertraulichkeit (57 %), Schutz von Interessen (50 %), Aufklärung und Einwilligung, Urteils- und Schuldfähigkeit (je 43 %), Behandlungsqualität, Diskriminierung und Stigmatisierung sowie Professionelles Fehlverhalten (je 36 %).Footnote 19

Ergebnisse der Beobachtungsstudie

Das erstellte Kategoriensystem umfasst sechs Hauptkategorien zum Inhalt und jeweils fünf zu Kommunikationsform und Handlungsstruktur ethischer Themen in der Abteilung Jugendforensik. Die sechs inhaltlichen Hauptkategorien sind: Autonomie, Hilfeleisten und Nichtschaden, Gerechtigkeit, Moralkompetenz, Professionalität und Diagnostik und Einschätzung. Die 24 Unterkategorien wurden unterschiedlich häufig gescort: Sehr oft (in ≥ 67 % aller Besprechungen mindestens einmal, in absteigender Reihenfolge) wurden ethische Inhalte zu den Kategorien Moralisches Verhalten, Behandlungsqualität und Regeln und Sanktionen thematisiert, oft (34–66 %) zu den Kategorien Schaden und Nutzen, Freiheit- und Privatsphäre, Lebensführung, Therapeutische Beziehung, Moralisches Denken, Angst und Überforderung und Risikoeinschätzung. Gelegentlich (11–33 %) wurden u. a. Inhalte zu den Kategorien Aufklärung und Einwilligung, Entweichung, Zwangsmaßnahmen oder Ressourcenallokation thematisiert, selten (1–10 %) hingegen u. a. Vertraulichkeit, Menschenwürde, Resozialisierung, Urteils- und Schuldfähigkeit oder Professionelle Pflichten. Ethische Probleme werden nur in Einzelfällen explizit als „ethische“ Probleme benannt (≤1 % aller Codings). In Tab. 1 sind die inhaltlichen Hauptkategorien und Unterkategorien, deren Häufigkeit sowie entsprechende, am häufigsten thematisierten ethischen Probleme (nach Häufigkeit geordnet) dargestellt.Footnote 20

Tab. 1 Thematisierte ethische Themen und Probleme in der Jugendforensik

Die ethischen Inhalte wurden jeweils einer Kategorie zur Kommunikationsform und zur Handlungsstruktur zugeordnet. Bei der Kommunikationsform unterscheidet das Kategoriensystem zwischen Bericht, Bewertung, Diskussion, Abklärung und Anweisung. Am häufigsten wurden ethische Inhalte berichtet (64 % aller Codings), gefolgt von einer Bewertung (18 %), Diskussion (10 %), Anweisung (6 %) und Abklärung (1 %).Footnote 21 Am häufigsten diskutiert wurden Inhalte zu den Kategorien Behandlungsqualität (24 % aller Codings in der Kategorie Diskussion), Diagnostik und Begutachtung, Moralisches Verhalten (je 12 %), Regeln und Sanktionen und Risikoeinschätzung (je 9 %). Der Großteil ethisch relevanter Probleme findet sich in Berichten und Bewertungen, die nicht zu einer Diskussion, Abklärung oder Anweisung führen (82 % aller Codings). Nur in einem Zehntel aller Fälle werden ethische Probleme diskutiert, noch seltener werden sie Gegenstand weiterer Abklärung oder von Handlungsanweisungen. Bei der Handlungsstruktur wird unterschieden zwischen den Kategorien Individuum, Patient-Bezugsperson, Bezugsumfeld, Institution und Gesellschaft. Am häufigsten bezogen sich ethische Inhalte auf die Beziehung zwischen Patienten und Bezugspersonen (59 % aller Codings), gefolgt von einer Bezugnahme auf das Individuum (30 %), die Institution (6 %), das Bezugsumfeld (5 %) und die Gesellschaft (1 %).

Im Folgenden werden Ergebnisse zu den vier am häufigsten gescorten Unterkategorien vorgestellt.

Freiheits- und Privatsphäre

Die Kategorie Freiheits- und Privatsphäre stellt gut zwei Drittel der Befunde in der Hauptkategorie Autonomie. Sie umfasst Aussagen, die sich auf den Schutz bzw. das Aufheben des persönlichen Freiheitsspielraums oder der Privatsphäre der Jugendlichen beziehen. Diese sind insofern ethisch relevant, als den Jugendlichen der Schutz ihrer Freiheits- und Privatsphäre in Form eines Grund- und Menschenrechts zusteht, auch wenn dieses aufgrund ihrer Straffälligkeit und Behandlungsbedürftigkeit eingeschränkt ist. Eher selten geht es dabei um die Frage, ob diese Einschränkungen, d. h. die behördlichen Maßnahmen, grundsätzlich angemessen sind, sondern wie innerhalb des rechtlich-institutionellen Rahmens, der bereits eine Freiheitseinschränkung mit sich bringt, Freiheits- und Privatsphäre bestmöglich gewahrt werden können. Aus ethischer Sicht steht dabei das Freiheitsrecht des Jugendlichen anderen moralischen Verpflichtungen entgegen: Wünsche nach größerer Bewegungsfreiheit kollidieren mit Sicherheitsbedenken; persönliche Aktivitäten können das Freiheitsrecht der Mitpatienten beeinträchtigen, das Zusammenleben gefährden, die Gesundheit schädigen oder gegen Abteilungsregeln verstoßen; die Privatsphäre kann aufgrund von Sicherheitsbedenken oder aus Fürsorge eingeschränkt werden. Zwei Drittel der Befunde zur Freiheits- und Privatsphäre gehen auf Übergaben bei Schichtwechsel zurück. In der Hälfte der Fälle werden diese Inhalte bloß berichtet, nur selten diskutiert. In der Oberarztvisite werden Zimmerstatus und Ausgang für jeden Jugendlichen in Form eines Stufensystems festgelegt – entsprechend gehen fast alle Handlungsanweisungen auf diese Besprechungsform zurück.

Behandlungsqualität

Qualität und Erfolg einer geplanten oder bereits durchgeführten BehandlungFootnote 22 wird in über zwei Dritteln aller Besprechungen thematisiert. Ethisch relevant ist dabei insbesondere die zugrundeliegende Behandlungspflicht und der Schutz vor unnötigen Risiken oder Überbehandlung. Diese Pflichten beschränken sich nicht auf medizinische und pflegerische Interventionen, sondern betreffen auch pädagogische oder Therapieangebote. Ethisch problematisch können weiterhin Behandlungswünsche sein, die keine Erfolgsaussichten und/oder hohe Risiken haben. Auch Behandlungen oder Therapien, die nicht innerhalb der Institution durchführbar sind, können aufgrund von Sicherheitsbedenken zu ethischen Konflikten führen. Auf institutioneller Ebene kann sich ein weiteres Spannungsfeld zwischen den Behandlungszielen der Jugendforensik und den Forderungen anderer Institutionen (z. B. Jugendanwaltschaft, Betreuer, Eltern) ergeben. Die Intensität, mit welcher die Behandlungsqualität thematisiert wird, ist hoch: Von allen ethischen Inhalten wird die Behandlungsqualität am zweithäufigsten in einer Bewertung, am häufigsten in einer Diskussion angesprochen und ist am häufigsten Gegenstand einer Handlungsanweisung. Drei Viertel dieser Inhalte werden in internen Standortbestimmungen oder Oberarztvisiten thematisiert.

Regeln und Sanktionen

Die Kategorie Regeln und Sanktionen stellt knapp zwei Drittel der Treffer in der Hauptkategorie Gerechtigkeit. Sie umfasst Aussagen, die auf ethisch relevante Handlungsregeln oder Sanktionen verweisen, d. h. die moralische Verpflichtungen zum Ausdruck bringen. In dieser Studie sind das oft Abteilungsregeln, welche das Zusammenleben oder die persönlichen Freiheiten ordnen. Auch Handlungen, die diese Regeln beachten oder gegen diese verstoßen, sind ethisch relevant, insofern sie den zugrundeliegenden moralischen Verpflichtungen nachkommen oder nicht, ebenso das Auferlegen oder Aufheben von Sanktionen. Regeln und Sanktionen können auch unabhängig von ihrem Gehalt ethisch problematisch werden, wenn sie unspezifisch, unbegründet, unverhältnismäßig oder wirkungslos sind – sie widersprechen dann dem Prinzip der Gerechtigkeit. In dieser Hinsicht werden am häufigsten Verhältnismäßigkeit, Wirksamkeit und SpezifizitätFootnote 23 von Regeln oder Sanktionen thematisiert. Drei Viertel der Befunde zu Regeln und Sanktionen gehen auf Übergaben zurück. Drei Viertel der Inhalte werden bloß berichtet, nur selten bewertet oder diskutiert.

Moralisches Verhalten

Über ein Viertel aller ethisch relevanten Kommunikation fällt unter die Kategorie Moralisches Verhalten. Sie umfasst Aussagen, die sich auf ein Verhalten beziehen, das den Entwicklungsstand einer bestimmten Moralkompetenz anzeigt.Footnote 24 Fast immer wird ein Entwicklungsdefizit hinsichtlich eines – meist impliziten – Standards der moralischen Entwicklung konstatiert. Ethisch relevant sind mangelnde Moralkompetenzen, weil sie für gewöhnlich moralisch fragwürdiges Verhalten zur Folge haben. Entsprechend stellen sich auch grundsätzliche moralpädagogische Fragen: Welche Verantwortung haben Behandelnde bezüglich der Moralentwicklung der Jugendlichen? Welche Standards von Moralerziehung und -bildung sollen zugrunde gelegt werden? Wie steht es um die ethische Angemessenheit der Moralerziehung selbst, etwa hinsichtlich prozeduraler Kriterien wie Transparenz, Konsistenz, Fairness oder Verhältnismäßigkeit? Über moralisches Verhalten wird in zwei Dritteln der Fälle bloß berichtet, ein Viertel wird zusätzlich bewertet – vergleichsweise selten wird in den beobachteten Formaten darüber diskutiert.Footnote 25Abklärungen oder Anweisungen kommen hier nicht vor.

Das Instrument zur Früherkennung und -intervention von ethischen Problemen (FIEP)

Ethische Risikofaktoren in der Patientenversorgung werden in acht Publikationen untersucht (Anderson-Shaw et al. 2007; Epstein 2012; Heyl 2008; Morgenstern 2005; Pavlish et al. 2015a, 2011, 2015b; Robinson et al. 2017). Insgesamt werden 67 Risikofaktoren identifiziert, von welchen 41 auch für die FKJP relevant sind. Diese können vier Kategorien zugeordnet werden: patientenbezogene Faktoren, teambezogene Faktoren, angehörigenbezogene Faktoren und systemische Faktoren. Pavlish et al. (2015b) haben zudem die Prävalenz der Faktoren im klinischen Alltag untersucht. Für das hier entwickelte Instrument FIEP wurden die vier häufigsten, für die FKJP relevanten Faktoren in jeder Kategorie ausgewählt und für den Kontext der FKJP angepasst. Zudem wurde jeweils ein für die FKJP spezifischer Risikofaktor ergänzt. Auf der Basis der Studienergebnisse wurden spezifische Indikatoren für ethische Probleme in der FKJP ermittelt. Zu jeder Inhaltskategorie wurde ein qualitativer Indikator formuliert.

Das Stufenmodell zur ethischen Problemlösung der Leitlinie METAP enthält vier Interventionsstufen: eigene Orientierung, Beratung mit (geschultem) Steuergruppenmitglied, ethische Fallbesprechung im Behandlungsteam und professionelle Ethikberatung (Albisser Schleger et al. 2019). Für FIEP wurden Stufe 1 und 4 übernommen; Stufe 2 und 3 wurden durch eine Beratung im Kernteam bzw. im erweiterten Kernteam ersetzt.Footnote 26 Mit PIHAL wurde ein Verfahren entwickelt, welches Behandelnde bei der Bewältigung ethisch komplexer Entscheidungssituationen unterstützt. „PIHAL“ steht als Akronym für die fünf Schritte des Verfahrens: Problem identifizieren, Informationen zusammentragen, Handlungsoptionen festlegen, Angemessenheit prüfen, Lösung finden.Footnote 27

Diskussion

Ethische Themen im Maßnahmenvollzug der FKJP sind bisher kaum untersucht. Empirische oder Studien, die empirische und normative Methoden verbinden, fehlen gänzlich. Die bestehenden Publikationen nennen ethische Themen nur im Überblick oder sekundär zu ethischen Aspekten der forensischen Begutachtung. Jene Aspekte sind gemäß unserer Studie für die Praxis des Maßnahmenvollzugs nur am Rande relevant. Umgekehrt sind die in der Praxis beobachteten Themen in der Literatur nur unzureichend abgebildet.Footnote 28 Diese Diskrepanz ist einerseits darauf zurückzuführen, dass in der US-amerikanischen Literatur unter „forensic psychiatry“ hauptsächlich Gerichtspsychiatrie, „legal psychiatry“, verstanden wird (Niveau und Welle 2018). Andererseits ist sie ein Hinweis auf das frühe Stadium der Ethik-Forschung im Bereich des forensischen Maßnahmenvollzugs – hier sind mehr deskriptiv- und normativ-ethische Untersuchungen nötig.

Diese Beobachtungsstudie zeigt ein breites Spektrum ethischer Themen mit spezifischen Problemstellungen. Fasst man diese in einer disziplinären Ordnung zusammen, so sind dies:

  1. 1.

    Kinder- und Jugendpsychiatrie-ethische Fragen, z. B. Fragen im Zusammenhang mit Moralkompetenz und -erziehung, Fragen zum angemessenen Umgang mit Regeln und Sanktionen, zur Freiheits und Privatsphäre oder zur Lebensplanung der Jugendlichen.Footnote 29

  2. 2.

    Psychiatrie-ethische Fragen, z. B. Fragen zur Angemessenheit therapeutischer Interventionen oder von Zwangsmaßnahmen, Fragen zur therapeutischen Beziehung, zur Qualität von Diagnosestellung, Aufklärung oder Einwilligungseinholung, zur Wahrung der Vertraulichkeit, zur angemessenen Ressourcenallokation oder zur Urteils- oder Schuldfähigkeit der jugendlichen Patienten.

  3. 3.

    Forensisch-ethische Fragen, z. B. Fragen zur Angemessenheit der Risikoeinschätzung, zum Umgang mit Entweichungen, zu den Chancen auf Resozialisierung oder zum Konflikt zwischen forensischen und therapeutischen Pflichten.

Das Auftreten von ethischen Fragen in der FKJP halten wir für unausweichlich und nicht grundsätzlich für ethisch problematisch. Ethische Probleme können jedoch gravierende Folgen für Patienten oder Behandelnde haben, wenn man sie nicht angeht (Pavlish et al. 2013). Nicht alle Probleme erfordern die Bearbeitung in einer Ethikberatung, ethische Probleme sollten so niederschwellig wie möglich gelöst werden. Dies erfordert jedoch ethisch kompetente Mitarbeitende, eine ethisch reflektierte Praxis und geeignete Prozesse zur ethischen Entscheidungsfindung. Ethische Probleme sollen frühzeitig identifiziert, artikuliert, kommuniziert und bearbeitet werden. Unsere Resultate legen nahe, dass dies in den beobachteten Gesprächen nur teilweise gelingt. Hier können niederschwellige und präventive Formen der ethischen Unterstützung ansetzen. Aus organisationsethischer Sicht ergibt sich für uns die Empfehlung, für die ethische Reflexion des Fachpersonal ausreichend Zeit, Raum und Gelegenheit zu schaffen. Selbst in der als Modellstation teilweise privilegierten Abteilung waren die organisatorischen Ressourcen dafür eher knapp und jedenfalls ausbaufähig.

Das hier entwickelte Instrument FIEP stellt eine praxisnahe Möglichkeit der ethischen Unterstützung dar. Im Bereich der klinischen Ethik ist es das erste, welches die vier Kernelemente von Früherkennung und -intervention – Risikofaktoren, Indikatoren, Interventionsplanung und Entscheidungsfindung – zusammenführt. Die Indikatoren beruhen auf den Ergebnissen der Beobachtungstudie und sind daher für die Jugendforensik hoch spezifisch. Die Interventionsplanung beginnt bei niederschwelligen, praxisnahen Formen der ethischen Reflexion. Es enthält keine inhaltlich-ethischen Handlungsempfehlungen, im Gegensatz zu ethischen Richtlinien oder professionellen Ethik-Codizes, sondern empfiehlt einen Prozess: ein formales Verfahren zur ethischen Entscheidungsfindung, das der Nutzer selbständig anwenden kann. Führt dies nicht zu einer angemessenen Lösung, ist die nächste Interventionsstufe vorzubereiten. Eine nachhaltige Implementierung des Instruments erfordert neben einer geeigneten Schulung der Mitarbeitenden die Akzeptanz und Präsenz des Instruments, die Unterstützung durch die Leitung, ein (wachsendes) ethisches Klima, ein Bewusstsein für den Bedarf an ethischer Unterstützung und engagierte Mitarbeitende (Meyer-Zehnder et al. 2017).

Eine Limitation dieser Studie liegt darin, dass Gespräche und nicht die eigentliche Maßnahmenvollzugspraxis beobachtet wurden. Zur Beobachtung wurden allerdings relevante Gesprächsformate gewählt, in welchen wesentliche Inhalte der Behandlungspraxis und insbesondere auch ethische Themen diskutiert werden. Diese Gespräche sind in die Vollzugspraxis eingebunden und damit integrativer Teil dieser Praxis. Bei einer direkten Beobachtung der Jugendlichen hätte mit erheblichen Verzerrungseffekten gerechnet werden müssen. Zur Validierung von FIEP läuft 2020–2021 eine Pilotstudie.

Schlussfolgerungen

Der Maßnahmenvollzug der FKJP steht in einem komplexen Spannungsfeld normativer Anforderungen, was sich in einem breiten Spektrum ethischer Themen und spezifischen ethischen Problemen niederschlägt. In dieser Studie zeigen sich am häufigsten Fragen der Moralkompetenz und -erziehung, zur Behandlungsqualität, zum Umgang mit Regeln und Sanktionen und zur Freiheits- und Privatsphäre. Im Zusammenhang der FKJP wurden diese Themen bisher kaum untersucht. Zum kompetenten Umgang mit ethischen Herausforderungen wird ein präventives und prozedurales Modell vorgeschlagen. Das hier entwickelte Instrument zur Früherkennung und -intervention ethischer Probleme (FIEP) unterstützt Behandelnde dabei, ethische Probleme frühzeitig zu erkennen und effizient zu bearbeiten.