Interprofessionelles Lernen im Kontext der Gesundheitsberufe

Interprofessionelles Lernen (IPL) findet statt, „wenn Mitglieder oder Studierende von zwei oder mehr Berufen miteinander, voneinander und übereinander lernen, um die Zusammenarbeit und die Qualität der Pflege und Dienstleistungen zu verbessern“ (CAIPE 2016, S. 1; Übers. d. Verf.). Wesensbestimmend für IPL „ist die gemeinsame, interprofessionelle Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Erfahrungs- und Studiengangperspektiven an einem konkreten Gegenstand und nicht nur die zeitgleiche Anwesenheit in einer Veranstaltung“ (Hochschulrektorenkonferenz 2017, S. 2). Da in Deutschland die Sozialisation der Gesundheitsberufe (u. a. Pflege, Medizin, Physiotherapie, Ergotherapie) bisher weitgehend getrennt stattfindet, bleibt der Erfolg der effektiven Zusammenarbeit oft vom Engagement einzelner Personen oder Teams abhängig (Kaap-Fröhlich et al. 2022; Walkenhorst et al. 2015).

Die Forderung nach einer frühzeitigen Integration von interprofessionellen Lehr- und Lernformaten ist in den vergangenen Jahren auch in Deutschland zunehmend lauter geworden. So sah der Wissenschaftsrat bereits 2012 in seiner „Empfehlung zu hochschulischen Qualifikationen im Gesundheitswesen“ die Notwendigkeit „Elemente einer interprofessionellen Ausbildung so zu verzahnen, dass eine angemessene Vorbereitung der Absolventinnen und Absolventen auf eine Tätigkeit in der stark arbeitsteilig und kooperativ organisierten Gesundheitsversorgung gewährleistet werden kann“ (Wissenschaftsrat 2012, S. 79). In den Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Medizinstudiums wird die zunehmende Bedeutung von IPL ebenso noch einmal herausgestellt und ihre verstärkte Umsetzung verlangt (Wissenschaftsrat 2014). Neben dem Wissenschaftsrat fordert auch die Gesellschaft für medizinische Ausbildung, dass IPL-Strukturen auf- und ausgebaut werden müssen (Walkenhorst et al. 2015).

Den dargestellten Positionierungen liegt die Prämisse zugrunde, dass „gute“ interprofessionelle Zusammenarbeit – u. a. definiert durch eine gemeinsame Teamidentität, klare Rollenverständnisse und geteilte Verantwortung (Reeves et al. 2010) – zu einer guten bzw. besseren Patient*innenversorgung beiträgt, respektive beitragen kann. Gelingende Zusammenarbeit im interprofessionellen Team, zum Beispiel zwischen Pflegenden und Ärzt*innen, stellt damit das Fundament einer qualitativ hochwertigen Versorgung dar, wohingegen mangelhafte interprofessionelle Zusammenarbeit die Patient*innensicherheit und den angestrebten, hohen Versorgungsstandard gefährden (vgl. z. B. Knoll und Lendner 2008; Cullati et al. 2019). Defizite und Fehlentwicklungen in der interprofessionellen Zusammenarbeit können in ihrer Konsequenz dem medizinethischen Grundsatz des Nicht-Schadens („primum non nocere“) zuwiderlaufen und den Anspruch gefährden, dass die Förderung des Patient*innenwohls primärer ethischer Maßstab des professionellen Handelns ist (Deutscher Ethikrat 2016). Mit Hilfe von IPL sollen folglich u. a. die Patient*innensicherheit und -zufriedenheit gesteigert, Rollen- und Kompetenzverständnisse gefördert sowie die Arbeitszufriedenheit von Pflegenden und Ärzt*innen positiv beeinflusst werden. Inwiefern IPL tatsächlich in der Lage ist, die erwünschten Effekte zu erzielen, kann anhand der bislang schwachen vorhandenen Evidenzbasis jedoch nicht abschließend beurteilt werden (Reeves et al. 2013).

Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es einerseits, die aktuelle Situation interprofessioneller Ethiklehre in Deutschland, wie sie sich in der Fachliteratur darstellt, zu beschreiben und andererseits, deren Möglichkeiten und Grenzen vor dem Hintergrund eines konkreten Pilotprojektes darzustellen. Nachdem zuerst die Bedeutung von interprofessioneller Zusammenarbeit zwischen Ärzt*innen und Pflegefachpersonen mit Blick auf ethische Herausforderungen dargestellt wird, folgt sodann ein Kurzüberblick über in Deutschland implementierte Ansätze der Ethik-IPL in der grundständigen Ausbildung von Medizinstudierenden und Auszubildenden der Pflegeberufe. Darauf aufbauend werden die normativen Rahmenbedingungen für die Entwicklung und Durchführung von Ethik-IPL dargestellt, die in dem anschließend vorgestellten Projekt zur Anwendung kamen. Der Einblick in die bereits erfolgreich erprobte Ethik-IPL gibt Hinweise zu standortübergreifenden, praktischen Herausforderungen und liefert Anknüpfungspunkte für die Entwicklung eigener, innovativer Ansätze. Damit möchte der Aufsatz all denjenigen Lehrenden in der Medizin- und Pflegeethik einen Einstieg bieten, die planen, derartige Lehrprojekte zu konzipieren und umzusetzen.

Bedeutung interprofessioneller Zusammenarbeit vor dem Hintergrund ethischer Herausforderungen

Empirische Untersuchungen zur Wahrnehmung ethischer Herausforderungen und Konflikte im Versorgungsalltag zeigen die moralische Perspektivenvielfalt in der Praxis auf und betonen damit gleichzeitig auch die Relevanz, ethische Fragen und Probleme aus interprofessioneller Sicht zu betrachten. So zeigte Sauer (2015), dass Pflegende – verglichen mit Ärzt*innen – sich häufiger in ethischen Konflikten befinden und diese zugleich als belastender empfinden als ihre ärztlichen Kolleg*innen. Klinische Situationen werden aus Sicht der verschiedenen Professionen nicht selten divergierend eingeschätzt. Pflegende tendieren beispielsweise zu einer pessimistischeren Einschätzung der Prognose als Ärzt*innen (Detsky et al. 2017); folglich kommen sie eher zu dem Schluss, dass eine unangemessene (Über‑)Therapie stattfindet bzw. eine Therapiezieländerung erfolgen sollte (Piers et al. 2014).

Aus der Diskrepanz zwischen den Ansichten der Pflegenden und denen der Ärzt*innen können auch Konflikte im Team erwachsen. Die professionsspezifische Perspektive wird dabei durch die Verantwortung und Möglichkeiten der Einflussnahme geprägt: So fühlen sich Ärzt*innen tendenziell stärker dadurch belastet, dass sie diejenigen sind, die schwierige Entscheidung treffen müssen, wohingegen die Pflegenden es als Belastung empfinden, mit der Entscheidung, die getroffen wurde, zu leben und diese umzusetzen (Oberle und Hughes 2001).

Auf diese Weise können interprofessionelle ethische Konflikte durch die zum Teil sehr unterschiedliche Wahrnehmung und Einschätzung einer Situation durch Pflegende und Ärzt*innen oder durch eine problematische Teamkommunikation sogar erst entstehen (Foronda et al. 2016). Entsprechend ihrer verschiedenen Tätigkeitsschwerpunkte erleben Pflegende und Ärzt*innen unterschiedliche Konflikte (Walker et al. 1991), aber sie erleben auch dieselben Konflikte bzw. Situationen (z. B. Entscheidungsfindungsprozesse) durch ihren spezifischen Blickwinkel jeweils anders. Zudem legen sie z. T. unterschiedliche Maßstäbe (z. B. Überlebenszeit vs. Lebensqualität) an und kommen in ihrer Abwägung ethischer Prinzipien zu abweichenden Ergebnissen (vgl. z. B. Bucher et al. 2018). Die daraus resultierenden, divergierenden Auffassungen über die Ziele, die es zu verwirklichen gilt, oder die Werte, die im Handeln realisiert werden sollen, beinhalten Konfliktpotenzial für die interprofessionelle Zusammenarbeit, da sie ggf. unvereinbar sind und es erfordern, dass die eigenen Normen zurückgestellt werden. Daraus resultiert eine Diskrepanz zwischen dem eigenen professionsethischen Anspruch und der Realität im Alltag, die u. a. in „Moral Distress“ (Morley et al. 2019) und moralischer Desensibilisierung (Kersting 2020) münden kann und in der Folge zu einem vorzeitigen Berufsausstieg (DBfK 2021) führen kann.

Im Hinblick auf Unterstützungsangebote – wie Klinische Ethikberatung – zeigen die beiden Berufsgruppen auch ein unterschiedliches Inanspruchnahmeverhalten (Leuter et al. 2018). So divergieren z. B. die Gründe einer Anforderung Klinischer Ethikberatung: Während Pflegende häufig Kommunikationsprobleme als Anlass nehmen, Unterstützung anzufordern, beantragen Ärzt*innen diese häufiger aufgrund von Fragen der Einwilligungsfähigkeit und Entscheidungsfindung mit/durch Stellvertreter*innen (Milliken et al. 2020). Darüber hinaus zeigen empirische Befunde, dass Pflegende zwar angeben, häufig ethische Konflikte bzw. sogar Dilemmata zu erleben, jedoch aufgrund von spezifischen Barrieren und Hierarchien in derartigen Fällen nur selten Ethikberatungen einfordern (Gaudine et al. 2011; Cederquist et al. 2021). Ärzt*innen hingegen nehmen Ethikberatung weniger in Anspruch, weil sie die Möglichkeiten dieses Modells pessimistischer einschätzen (Jansky et al. 2013) und/oder weil sie ihre eigene ethische Expertise als ausreichend zur Bewältigung der Situation erachten (Navin et al. 2020).

Vor diesem Hintergrund sollte Ethik-IPL nicht nur auf eine frühzeitige Vermittlung von Kompetenzen abzielen, die zu einer suffizienten Problemlösung beitragen und damit die negativen Konsequenzen für Angehörige der Gesundheitsberufe und Patient*innen bestmöglich reduzieren bzw. ihnen vorbeugen, sondern ebenfalls für die Bedürfnisse und Vorbehalte der jeweils anderen Profession sensibilisieren. Wenn die interprofessionelle Reflexion ethischer Herausforderungen bereits in der Phase der Berufsfindung erlernt wird, kann dies – im Sinne der Perspektivenvielfalt – zu einer späteren umfassenden Bearbeitung moralischer Konflikte beitragen, innerhalb derer sowohl professionelle Rollen und Hierarchien als auch die eigene Sichtweise kritisch berücksichtigt werden. Dies ist insbesondere bei Entscheidungen am Lebensende relevant (Riedel 2021).

Ethik-IPL in der grundständigen Ausbildung von Medizinstudierenden und Auszubildenden der Pflegeberufe

In Deutschland wird IPL in der grundständigen Ausbildung von Medizin und Pflege in wachsendem Umfang in ausgewählten Fächern bzw. Disziplinen – fakultativ aber auch obligat – eingesetzt. Entsprechende Modellprojekte finden sich z. B. in der Anatomie (Herrmann et al. 2015), der Anästhesie und Notfallmedizin (Partecke et al. 2016) und der Palliativmedizin (Just et al. 2010), wobei unterschiedliche Lehrformate (etwa Seminare oder eine Ausbildungsstation) zum Einsatz kommen. Demgegenüber lässt sich mit Blick auf publizierte Arbeiten im deutschsprachigen Raum feststellen, dass die Ethik im Gesundheitswesen, respektive Medizin- und Pflegeethik, bislang im IPL-Kontext nur vereinzelt eine Rolle spielt (Neitzke 2005); aktuelle(re) Publikationen dazu fehlen gänzlich. Ob bzw. inwiefern medizin- und pflegeethische Aspekte auch in anderen IPL-Projekten adressiert werden, auch wenn diese nicht explizit unter dem Begriff der Ethik publiziert werden, lässt sich nicht ohne Weiteres beantworten. Häufig inkludieren bei näherer Betrachtung vor allem Projekte, die einen Schwerpunkt auf Kommunikation legen (vgl. z. B. Wershofen et al. 2016; Bastami et al. 2012), implizit auch ethische Aspekte. So beschreiben z. B. Nikendei et al. (2016, S. 10) in ihrer Studie zu interprofessionellem Visitentraining, dass Pflegende „[a]ufgrund ihres wesentlich persönlicheren Verhältnisses zu den Patienten (…) als wichtiges Bindeglied zwischen Forderungen und Wünschen der Patienten und den ärztlichen Entscheidungen“ dienen. Hier wird exemplarisch deutlich, dass ethische Prinzipien bzw. Normen und Werte (hier: Patient*innenautonomie) sowie ein in mehrfacher Hinsicht ethisch relevantes Vorverständnis (z. B. auch mit Blick auf die benannte „Advocacy“-Funktion der Pflegenden) in das IPL hineingetragen werden kann.

In der internationalen Literatur findet sich demgegenüber ein etwas umfangreicherer Wissenskorpus zu IPL-Konzepten in der Ethik für Gesundheitsprofessionen (Naidoo et al. 2020), jedoch unterscheiden sich die adressierten Zielgruppen (z. B. Gesundheits- und Sozialpflegestudierende (Machin et al. 2019), Medizinlabortechnik‑, Dentalhygiene- und Pflegestudierende (Cino et al. 2018)) vom deutschen Kontext. Nur vereinzelt wurden international Arbeiten zum IPL-Ethikunterricht von Pflege- und Medizinstudierenden publiziert (Edward und Preece 1999). Die Ausgangsbedingungen für IPL in Deutschland – vor allem mit Blick auf die Qualifikationswege in den Pflegeberufen – unterscheiden sich stark von den internationalen Standards, so dass Konzepte und Ergebnisse der IPL-Ethiklehre in anderen Ländern nicht ohne Weiteres auf die hiesige Situation übertragen werden können.

Rahmen für IPL in der grundständigen Ausbildung von Medizin und Pflege

Der normative Rahmen zur Konzeption und Durchführung von interprofessionellen Lehrveranstaltungen zu ethischen Fragen im Gesundheitswesen wird wesentlich durch den internationalen „Framework for Action on Interprofessional Education and Collaborative Practice“ (WHO 2010) und die professionsethischen Kodizes sowie die rechtlichen und regulatorischen Maßgaben (u. a. zu Inhalten, Lernzielen und Umfang) der (Bundes‑)Länder abgesteckt. Darüber hinaus geben auch die in weiteren nationalen Rahmen formulierten Schlüsselkompetenzen – wie z. B. aus den USA (IPEC 2011) oder Kanada (CIHC 2010) – Orientierung. Dabei sind mindestens die folgenden zwei Aspekte zu berücksichtigen:

Erstens liegen die maßgeblichen professionsethischen Kodizes bislang nicht in professionsübergreifender Form vor, sondern die je eigenen Normen und Werte werden professionsspezifisch formuliert.Footnote 1 Auch die Tatsache, ob und inwiefern die professionsethischen Kodizes sich zu interprofessioneller Zusammenarbeit äußern, differiert. So fordert der Ethikkodex des International Council of Nurses (ICN) Pflegende dazu auf, sich aktiv „für eine gute und respektvolle Zusammenarbeit […] mit den Mitarbeitenden anderer Bereiche“ (ICN 2012, S. 3) einzusetzen. Die Deklaration von Genf – als international anerkannte Norm für Ärzt*innen – hingegen formuliert lediglich eine sehr allgemeine Forderung nach „Achtung und Dankbarkeit“ (Weltärztebund 2017) gegenüber Kolleg*innen.

Zweitens erfasste die Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege vom 10.11.2003 (KrPflAPrV) die Lernziele im Hinblick auf Interprofessionalität nur in Teilaspekten und adressierte sie eher implizit.Footnote 2 Das 2020 in Kraft getretene Pflegeberufegesetz (PflBG) formuliert hingegen explizit das Ausbildungsziel „interdisziplinär mit anderen Berufsgruppen fachlich zu kommunizieren und effektiv zusammenzuarbeiten und dabei individuelle, multidisziplinäre und berufsübergreifende Lösungen bei Krankheitsbefunden und Pflegebedürftigkeit zu entwickeln sowie teamorientiert umzusetzen“ (PflBG § 5 Abs. 3). Die allgemeinen Lernziele mit ethischem Bezug aus der KrPflAPrVFootnote 3 wurden bis 2020 im „Rahmenplan für den Ausbildungsberuf Gesundheits- und Krankenpflegerin/Gesundheits- und Krankenpfleger“ jeweils bundeslandspezifisch ausgeführt und durch Lehrinhalte spezifiziert. Auch diesbezüglich haben sich die Voraussetzungen durch den mittlerweile bundesweit einheitlichen Rahmenlehrplan für die generalistische Pflegeausbildung verändert (Bundesinstitut für Berufsbildung 2020).

Für die Medizinstudierenden liefert die „Approbationsordnung für Ärzte“ (ÄApprO) den rechtlichen Rahmen. Sie formuliert sowohl den Anspruch der Vermittlung ethischer Grundlagen im MedizinstudiumFootnote 4 als auch die Forderung, „die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit anderen Ärzten und mit Angehörigen anderer Berufe des Gesundheitswesend [zu, d. Verf.] fördern“ (§ 1 Abs. 1 ÄApprO). Darüber hinaus liefert der Nationale Kompetenzbasierte Lernzielkatalog Medizin (NKLM) eine Orientierung zur konkreten inhaltlichen Ausgestaltung (vgl. Kap. VIII.3f.f. und VIII.6. NKLM).

Nicht zuletzt unterscheidet sich der zeitliche Umfang, der für ethische Inhalte in der grundständigen Ausbildung der zwei Professionen vorgesehen ist, stark: Der Rahmenplan für den Ausbildungsberuf Gesundheits- und Krankenpfleger*in in Mecklenburg-Vorpommern sah zum Beispiel insgesamt 12 h Lehre zu ethischen Fragen vor. Die neuen, nationalen „Rahmenpläne der Fachkommission nach § 53 PflBG. o. O. 2020“ verzichten zugunsten individueller Gestaltungsspielräume auf eine Angabe dezidierter Stundenumfänge. Für den Querschnittsbereich „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“, in dem die Inhalte innerhalb des Medizinstudiums strukturell verortet sind, zeigt sich in der Praxis deutschlandweit eine große Bandbreite an inhaltlicher und zeitlicher Ausgestaltung (Schildmann et al. 2017), die von 1 bis 6 Semesterwochenstunden SWS (im Mittel 2,18 SWS) reicht. Neben dem professionsethischen und juristischen Rahmen geben zudem einschlägige Empfehlungen konkrete Orientierungshinweise hinsichtlich zu erreichender Ethik-Kompetenzziele in der Pflege (Riedel et al. 2017) und medizinethischer Lernziele für Studierende der Humanmedizin (Biller-Andorno et al. 2003).

Das Pilotprojekt zum IPL in Medizinethik an der Universitätsmedizin Greifswald

Das IPL-Pilotprojekt an der Universitätsmedizin Greifswald war Bestandteil des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Diskursprojektes „Be Prepared! Maximaltherapie im Diskurs“ (FKZ 01GP1768). Gegenstand des übergeordneten Diskursprojektes war die Entscheidungsfindung in der Intensivmedizin. Im Mittelpunkt standen Aufklärung und Austausch zu ethischen, rechtlichen und sozialen Folgen medizinisch-technischer Behandlungsmöglichkeiten und ihrem Einsatz im Rahmen intensivmedizinischer Therapie. Ein besonderer Schwerpunkt lag auf dem Umgang mit nicht-einwilligungsfähigen Patient*innen und den Entscheidungsfindungsprozessen für oder gegen intensivmedizinische Maximaltherapie in multiprofessionellen Teams.

Das Greifswalder IPL-Projekt wurde an der Schnittmenge der professionsethischen und rechtlichen Vorgaben für Auszubildende der Gesundheits- und Krankenpflege in Mecklenburg-Vorpommern und Studierende der Humanmedizin entwickelt. Die inhaltlichen Schwerpunkte, ausgewählt nach den für den Diskurs besonders relevanten Themen, umfassten u. a. Grundbegriffe und -konzepte der Medizinethik (z. B. Patient*innenautonomie), professionsethische Kodizes, Möglichkeiten und Grenzen von Vorausverfügungen und Therapieentscheidungen in multiprofessionellen Teams. Die Veranstaltung fand in gemischten Gruppen aus Medizinstudierenden im 2. Studienjahr und Auszubildenden der Gesundheits- und Krankenpflege im 3. Ausbildungsjahr statt. Diese Zusammensetzung der Gruppen wurde gezielt gewählt, um typische Wissens- und Kompetenzunterschiede umzukehren: Das Lernen aus der praktischen Erfahrung der Pflegenden stellte somit ein zentrales Seminarziel dar, welches in anderen IPL-Projekten für Medizin und Pflege bereits als hilfreich – vor allem im Zusammenhang mit der Bearbeitung komplexer Fallvignetten – herausgestellt werden konnte (Zirn et al. 2016). Bislang konnte der Kurs zweimal durchgeführt werden (Wintersemester 2018/19 und 2019/20); insgesamt n = 21 Medizinstudierende und n = 44 Auszubildende der Gesundheits- und Krankenpflege besuchten ihn. Für die Auszubildenden ersetzte das Seminar den Ethikunterricht in der Beruflichen Schule. Es fand eine enge Zusammenarbeit mit den zuständigen Lehrpersonen statt und während der ersten Durchführung war durchgehend eine Lehrerin der Beruflichen Schule anwesend. Für die Medizinstudierenden wurde der Kurs als Wahlpflichtfach im vorklinischen Abschnitt konzipiert. Der zeitliche Umfang betrug – resultierend aus den Anforderungen an Wahlfächer und dem obligatorischen Umfang der Ethiklehre innerhalb der Ausbildung – sieben Termine mit jeweils zwei 90minütigen Blöcken. Die Umsetzung als Nachmittags‑/Abendveranstaltung im Blockformat war aus praktischen Erfordernissen heraus notwendig, da nur so die Möglichkeit bestand, innerhalb der festen Seminarpläne der Studierenden und den Schulblöcken bzw. Praxiseinsätzen (im Dreischichtsystem) der Auszubildenden ein Zeitfenster auszumachen. Die vier für die Veranstaltung verantwortlichen Lehrpersonen hatten berufliche und akademische Hintergründe in Medizinethik und Recht, Gesundheits- und Krankenpflege, Pflegewissenschaft, Medizin und Philosophie sowie Gesundheitswissenschaft.

Methodisch zeichnete sich die interprofessionelle Lehrveranstaltung durch einen besonders starken Praxisbezug und Problemorientierung aus. Beide bilden sich vor allem in dem Ansatz des Case Based Learning (Gommel et al. 2005), einer wiederkehrenden Arbeit mit Fällen aus der Praxis, ab. Dies spiegelt die eingangs dargelegten theoretischen Erwägungen, dass moralische Konflikte häufig aus kommunikativen Problemen zwischen den Professionen erwachsen (z. B. Fehl- oder Misskommunikation). Die dazu verwendeten Fallvignetten wurden anhand von nicht-teilnehmenden Beobachtungen auf einer operativen Intensivstation eigens für den Diskurs entwickelt (Seidlein et al. 2020). Die empirisch erhobenen Fälle wurden dabei je nach didaktischem Ziel unterschiedlich aufgearbeitet: So bestand bei einer Fallarbeit das Ziel darin, eine gemeinsame Lösung (Behandlungsplan) für den Patienten zu entwickeln, während bei einer anderen Fallarbeit der Schwerpunkt in der Konfrontation und dem Austausch unterschiedlicher Perspektiven und Argumente bestand. Bei letztgenanntem kommt auch die Konfrontation mit Vorurteilen und Stereotypen gegenüber der anderen Profession als gezieltes Element zur Förderung der kritischen Selbstreflexion innerhalb der Fälle zum Einsatz. Dadurch, dass den Teilnehmer*innen unterschiedliche Informationen zu den Fällen vorlagen, die nur in der Gesamtschau und dem Zusammenfügen der Informationen durch einen gelingenden, interprofessionellen Austausch ein komplettes Bild ergeben, sollten die Bereitschaft zum Perspektivenwechsel und die Einübung strukturierter interprofessioneller Kommunikation gefördert werden.

Die Prüfungsleistung stellte die Analyse eines komplexen Falles unter ethischen, rechtlichen und interprofessionellen Gesichtspunkten in gemischten Arbeitsgruppen (Vertreter*innen von Pflege und Medizin) dar. Die Ergebnisse dieser Arbeit mündeten in wissenschaftlichen Postern und wurden sowohl im Kontext der Lehrveranstaltung als auch im Rahmen einer projektbezogenen Bürger*innenkonferenz präsentiert. Die Leistungsüberprüfung erfolgte anhand eines standardisierten Bewertungsbogens sowohl auf der Ebene der Gruppe (Posterinhalt, Sprache auf dem Poster, Attraktivität und Kreativität der Postergestaltung) als auch auf individueller Ebene (Präsentationskompetenz).

Da in der Literaturrecherche kein deutsches, spezifisch für die Ethik-IPL entwickeltes Evaluationsinstrument ausfindig gemacht werden konnte, wurde ein aus drei Elementen bestehendes Evaluationskonzept für die Veranstaltung entwickelt (vgl. dazu auch Seidlein et al. 2021). Dieses umfasste 1. die Messung der Einstellung zu interprofessioneller Zusammenarbeit mit Hilfe des „Greifswalder Fragebogens zur Messung interprofessioneller Einstellungen“, Version 2.1 (Lange et al. 2020), 2. die Erfassung des selbst wahrgenommenen Kompetenzzuwachses mittels des „Berliner Evaluationsinstruments für studentische Kompetenzen“ (Braun et al. 2008) und 3. die Abfrage der individuell wahrgenommenen Gesamtqualität der Veranstaltung anhand des „Fragebogens zur Evaluation von Seminaren“ (Staufenbiel 2000). Als besonders überraschend und zugleich wertvoll haben sich in diesem Zusammenhang Rückmeldungen der Teilnehmer*innen erwiesen, die zeigen, dass das Lernen mit und über die andere Profession auch in den gemeinsamen Wartezeiten vor und nach der Veranstaltung stattfindet. Der informelle Erfahrungsaustausch als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen bzw. Problemlagen und die gemeinsame Suche nach Bewertungsmaßstäben eröffnete spannende und zugleich als besonders lehrreich empfundene Diskursräume. Das Potenzial dieser informellen Lernräume sollte folglich besser genutzt werden – z. B. in Form strategischer Pausenplanung anhand der zuvor thematisierten Inhalte. Für die Lehrenden unerwartet war zudem eine sich in den Evaluationsergebnissen zeigende Tendenz, dass die interprofessionelle Begegnung offenbar nicht immer zu einem positiven bzw. positiveren Bild der anderen Berufsgruppe führt und dazu beiträgt, Stereotypen zu beseitigen, sondern dass das Image der anderen Profession im Anschluss an IPL auch negativer erscheinen kann als vorher.

Fazit für die Fortentwicklung

Das hier geschilderte Projekt fand mit Auszubildenden der Gesundheits- und Krankenpflege statt; Studierende der Pflege wurden daher bisher nicht berücksichtigt. Differierende rechtliche und organisatorische Rahmenbedingungen Pflegestudierender bieten jedoch andere Chancen für eine praktische Umsetzung von IPL (Ewers et al. 2021) als die Zusammenführung von Studierenden und Auszubildenden. Darüber hinaus hat die Zusammensetzung der Gruppe potenziell auch Einfluss auf die professionellen Rollenerwartungen und die individuell wahrgenommenen Machtverhältnisse im Unterrichtskontext. Einerseits können sich bereits erlebte, hierarchische Statusstrukturen aus dem klinischen Alltag als weniger wirkmächtig erweisen, wenn sie innerhalb der IPL nicht reproduziert werden; umgekehrt könnte die IPL dazu beitragen, diese in der Praxis aufzubrechen. Andererseits kann sich die traditionelle Wahrnehmung der jeweils anderen Profession aufgrund der unterschiedlichen Verortung innerhalb des Bildungssystems (Bildungseinrichtung Berufsschule vs. Universität, akademisierte versus nicht-akademisierte Gesundheitsprofession) ebenso dadurch wandeln. Dies wiederum kann einen erheblichen Einfluss auf die Kommunikation innerhalb der Lehrveranstaltung haben.

Eine dauerhafte, obligatorische Integration von „Ethik im Gesundheitswesen“ in beide Curricula als „interprofessionelles Querschnittsthema“ (Nock 2020) ist vor dem Hintergrund der dargestellten Desiderate und Erfahrungen wünschenswert. Über einen längeren Zeitraum hinweg, nicht als Blockveranstaltung in konzentrierter Form, könnte ein solcher Kurs seine Möglichkeiten zukünftig noch besser ausschöpfen, da das Erlernte mit praktischen Erfahrungen zusammengebracht und die informellen Lernräume noch stärker eingebunden werden könnten. Aufgrund der Drittmittelförderung und personeller Veränderungen konnte die dargestellte IPL-Lehre an der Universitätsmedizin Greifswald jedoch bisher nur im Rahmen eines zeitlich begrenzten Modellprojektes umgesetzt werden. Mit dem neu gegründeten „Institut für Pflegewissenschaft und Interprofessionelles Lernen“ an der Universitätsmedizin Greifswald eröffnen sich neue Perspektiven, um die für ethische Frage- und Problemstellungen im klinischen Alltag relevante interprofessionelle Kommunikationskompetenz in unterschiedlichen curricularen Formaten – eingebettet in ein Gesamtkonzept – weiterzuverfolgen und auch methodisch neue Akzente (z. B. Simulationsformate) zu integrieren. Eine zukünftig zu klärende, drängende Frage mit Blick auf die professionelle Identität von angehenden Pflegenden und Ärzt*innen bleibt dabei, welche ethischen Wissensinhalte und Kompetenzen professionsspezifisch, d. h. in monoprofessionellen Formaten erlernt werden bzw. erhalten bleiben sollten und welche sich in besonderer Weise für das interprofessionelle Lernen eignen. Die Erfahrungen des Pilotprojektes weisen darauf hin, dass die Kenntnis der konkreten professionsethischen Grundlagen der jeweils anderen Profession für das gegenseitige Verständnis und die Nachvollziehbarkeit der Argumentation in konkreten Fällen hilfreich sein kann. Allein anhand der inhaltlichen Zuordnung eines Themas in die Pflege oder respektive die Medizin kann eine solche Entscheidung demnach nicht getroffen werden. Diese anekdotische Evidenz systematisch empirisch zu untersuchen, bleibt ein methodologisch anspruchsvolles Desiderat. Hierzu bedarf es jedoch in Zukunft vor allem auch der Entwicklung von Evaluationsinstrumenten, die eine zuverlässige Erfassung der ethischen Kompetenzentwicklung und professionellen Identitätsentwicklung ermöglichen.