Zusammenfassung
Wie Jürgen Habermas und Samuel P. Huntington bereits in den 1970er erkannt haben, verändert die partizipatorische Revolution (Max Kaase) die westlichen Demokratien nachhaltig. Der Beitrag argumentiert, dass mit der Ausweitung politischer Partizipation jedoch keine nachhaltige Demokratisierung einhergeht. Vielmehr durchlaufen die westlichen Demokratien einen Prozess der Erosion, dessen Symptom der Aufstieg des Populismus ist. Das populistische Versprechen einer olde tyme democracy ist Ausdruck der gegenwärtigen Demokratiemisere, der weder mit antipopulistischem Moralismus noch mit einem postdemokratisch ernüchterten Liberalismus beizukommen ist. In dieser Situation kann eine Aktualisierung von Richard Rortys politischem Denken hilfreich sein. Insbesondere Rortys realistischer Pessimismus und sein romantischer Utopismus, aber auch seine Kritik der akademischen Linken, sind aufschlussreich für die Gegenwartsdiagnostik. Sie zeigen, was den erschöpften Demokratien fehlt: Demokratische Machtpolitik und soziale Hoffnung.
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Der Begriff ‚partizipatorische Revolution‘ wurde von Kaase (1984) eingeführt, um die politische Mobilisierung der Bürgerschaft samt deren gestiegene Ansprüche auf Teilhabe seit den 1970er Jahren zu beschreiben.
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Erschwerend kommt hinzu, dass die Komplexitätsreduktion mittels der Unterscheidung zwischen linken und rechten politischen Programmen im Parteienwettbewerb nicht mehr erfolgt. Dies hat mit der strategischen Orientierung vieler Parteien auf die ,Mitte‘ zu tun, es ist aber auch dem Umstand geschuldet, dass das links vs. rechts-Schema durch andere Unterscheidungen überlagert wird (z. B. kosmopolitisch vs. internationalistisch).
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Die Sammlung von Demokratiekonzepten in der Democratic Theories Database (2014) beläuft sich auf 507 Demokratiebegriffe, siehe https://sydneydemocracynetwork.org/wp-content/uploads/2014/11/Democratic-Theories-Database.pdf. Zugegriffen: 14.04.2019.
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Rorty hat die Bekämpfung von Ausbeutung und Demütigung an anderer Stelle auch als die Aufgaben der Linken beschrieben (Rorty 1999d).
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Der Zusatz „wenn es praktisch realisiert wird“ ist wichtig, weil die Existenz formaldemokratischer Verfahren allein keine Gewähr hierfür bietet. Scheve und Stasavage (2017) zeigen dies anhand der Verteilung von Reichtum in demokratischen Regimen.
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Selk, V. (2021). Zwei Parolen für die Demokratie. Richard Rorty und die Krise demokratischer Politik. In: Petersen, F., Seeliger, M., Brunkhorst, H. (eds) Pragmatistische Sozialforschung. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62172-1_16
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