Zusammenfassung
Der Beitrag untersucht mögliche Kriterien für die normative Bewertung der künstlichen Ernährung bei nichteinwilligungsfähigen Patienten. Der in der aktuellen Diskussion immer wieder unternommene Versuch, den verpflichtenden Charakter bestimmter Formen der Ernährung aufgrund ihrer Zuordnung zu den Kategorien „Basisbetreuung“ oder „Remedia ordinaria“ zu begründen, erweist sich als naturalistischer Fehlschluss. Die Rechtfertigung der künstlichen Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr setzt vielmehr—wie die jeder anderen medizinischen Maßnahme—voraus, dass ihre Durchführung medizinisch begründet und vom Patienten gewollt ist. Dies trifft grundsätzlich auch auf den nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten zu; bei diesem kommt es auf den früher erklärten oder mutmaßlichen Willen an.
Abstract
Definition of the problem: The attempt constantly made in the current debate to justify the binding character of certain forms of nutrition classified as “basic care” or “ordinary means” proves to be a naturalistic fallacy.
Arguments and Conclusion: This article examines possible criteria for the normative evaluation of artificial feeding in incompetent patients. The justification of artificial feeding and hydration—just as every other medical measure—requires its implementation to be medically founded and accepted by the patient. On principle this also applies to the incompetent patients; decisive in this case is their previously declared or presumed will.
Notes
Mit künstlicher Ernährung wird in diesem Artikel die künstliche Zufuhr von Nahrung und Flüssigkeit bezeichnet; diese kann enteral [z. B. über eine Magen-, perkutane endoskopische Gastrostomie- (PEG-) oder perkutane endoskopische Jejunostomie- (PEJ-)Sonde] oder über parenterale (transvenöse) Zufuhr erfolgen.
In einer Ärztebefragung in Rheinland-Pfalz bezeichnete knapp die Hälfte der Befragten das Abstellen der künstlichen Beatmung als aktive Sterbehilfe [29]; eine bundesweite Befragung von Vormundschaftsrichtern ergab, dass etwa ein Drittel der Richter die Beendigung der künstlichen Beatmung, der künstlichen Ernährung sowie der künstlichen Flüssigkeitszufuhr für aktive Sterbehilfe hält [27].
Der Pschyrembel definiert Indikation als „Grund zur Anw. eines best. diagnostischen od. therapeutischen Verfahrens in einem Erkrankungsfall, der seine Anw. hinreichend rechtfertigt, wobei grundsätzlich Aufklärungspflicht gegenüber dem Pat. besteht“ (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl., de Gruyter, Berlin, S. 788). Diese Definition übersieht, dass nicht die Aufklärung allein, sondern die Einwilligung des Patienten nach Aufklärung die Durchführung des Verfahrens rechtfertigt.
Sinnlos im engeren Sinne ist eine Maßnahme, wenn sie keinerlei therapeutischen Nutzen hat, sinnlos im weiteren Sinne, wenn der therapeutische Nutzen fraglich bzw. die Beeinträchtigung der Lebensqualität für den Patienten zu groß ist [17].
Ethisch ist das Selbstbestimmungsrecht u. a. begründet im Respekt vor der Autonomie des Patienten. Die juristische Verankerung findet sich in dem verfassungsrechtlich verbürgten Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz, GG), dem eng damit verknüpften allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie der durch Art. 1 Abs. 1 GG verbürgten Menschenwürde [18].
Hahne: Protokoll der Sitzung des Nationalen Ethikrates v. 11.6.2003, abrufbar unter http://www.ethikrat.org/texte/pdf/Forum_Patient_2003–06–11_Protokoll.pdf, Stand 4.6.2004; vgl. auch das Interview in der FAZ v. 18.7.2003.
Die Grundsätze der BÄK zur ärztlichen Sterbebegleitung definieren Sterbende als Kranke oder Verletzte mit irreversiblem Versagen einer oder mehrerer Funktionen, bei denen der Eintritt des Todes in kurzer Zeit zu erwarten ist [7].
Die Sterbephase im engeren Sinn entspricht der oben genannten Definition von Sterbenden; die Sterbephase im weiteren Sinn liegt vor, wenn die Grunderkrankung einen irreversiblen und tödlichen Verlauf angenommen hat, der Patient aber noch nicht in kurzer Zeit verstirbt [28].
Entsprechend dem aktuellen Wissensstand der Medizin ist ein apallisches Syndrom bei traumatischer Ursache nach einem Jahr, bei hypoxischer Ursache nach drei Monaten als irreversibel zu betrachten. Bei Patienten mit einem hypoxischen Hirnschaden erlauben bestimmte klinische, apparative und laborchemische Untersuchungsergebnisse zwischen dem zweiten und fünften Tag mit hinlänglicher Sicherheit Aussagen zur Irreversibilität des Hirnschadens [20].
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Interessenkonflikt:
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Simon, A. Ethische Aspekte der künstlichen Ernährung bei nichteinwilligungsfähigen Patienten. Ethik Med 16, 217–228 (2004). https://doi.org/10.1007/s00481-004-0313-2
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