Marco SolinaS
Via Platonica zum unbewussten
Platon und Freud
mit einer Vorbemerkung Von mario Vegetti
aus dem italienischen Von antonio staude
VERLAG TURIA + KANT
WIEN – BERLIN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
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ISBN 978-3-85132-675-8
Originaltitel:
Psiche: Platone e Freud. Desiderio, sogno, mania, eros
Erweiterte Neuausgabe
© Firenze University Press, Firenze 2008
© für die deutsche Ausgabe: Verlag Turia + Kant, 2012
Covergestaltung: Bettina Kubanek
Verlag Turia + Kant
A-1010 Wien, Schottengasse 3A/5/DG1
D-10827 Berlin, Crellestraße 14 / Remise
info@turia.at | www.turia.at
inhaltsVerzeichnis
VORBEMERKUNG von Mario Vegetti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
DANKSAGUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
EinlEiTUnG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
KapiTEl 1
DrEiTEilUnGEn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
1. Spaltung, Konflikt, Beilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
1. 1 Triebmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
1. 2 Die Belagerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
1. 3 Das Streben nach Harmonie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
2. Zorn und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
KapiTEl 2
WünSchE, TraUM UnD UnBEWUSSTES . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
1. Der unterdrückte Wunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
1. 1 Ein dunkles Wuchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
1. 2 Akropolis und Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
2. Der Wunsch in der Revolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
2.1 Die Bedingungen der Manifestation von Träumen . . . . . 79
2.2 Schreckliche Visionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
2.3 Aus den Ketten befreit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
3. Die Via Regia zum Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
3.1 Die Verdrängung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
3.2 Der Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
3.3 Das Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
4. Abwehrmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
5. Drohend bevorstehende Albträume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
5.1 Anti-repressive Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5.2 Das vielköpfige Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
KapiTEl 3
DiE MANIA, DaS VErDrÄnGTE UnD DiE KALLIPOLIS . . . . . . . . . . 111
1. Vom Traum zur Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
1.1 Symptomübersichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
2. Diagnostische und therapeutische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . 119
2.1 Freud und die bekannten sokratischen Lehren . . . . . . . 119
2.2 Das Verdrängte und die paideía . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
2.3 Die kallípolis und das Verdrängte . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
KapiTEl 4
DEr SUBliMiErTE EroS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
1. Hydraulik der Triebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
1.1 Kanäle der Libido . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
2. Eros und Libido . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
2.1 Platonische Libido. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
2.2 Narziss und der Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
2.3 Sublimierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
3. Freud und das Gastmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
3.1 Der regressive Charakter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
3.2 Der die lebendige Substanz erhaltende Eros . . . . . . . . . 150
3.3 Die Ausdehnung der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
3.4 Eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
4. Die Eigenständigkeit des Phaidros. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
4.1 Der Reiter und das geflügelte Zweigespann. . . . . . . . . . 161
4.2 Das Ross und der Eros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
KapiTEl 5
üBEr DiE MoraliTÄT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
1. Die Aufforderung des Thrasymachos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
2. Über das Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
2.1 Die Tyrannen des Melancholikers . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
3. Über die Ideale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
3.1 Auf der Suche nach Vollkommenheit . . . . . . . . . . . . . . 178
3.2 Durchbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
3.3 Metaphysik versus Metapsychologie . . . . . . . . . . . . . . . 184
BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE
NAMENSVERZEICHNIS .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
Vorbemerkung
von mario Vegetti
Es ist durchaus möglich, dass der »Fall« Platon und Freud,
also das Studium des Verhältnisses beider Autoren und ihrer
Schriften, zu einem der bedeutsamsten und in gewisser Hinsicht
verblüffendsten Beispiele der Präsenz antiken Denkens an einer
Schlüsselstelle für die Herausbildung unseres modernen Selbstverständnisses avancieren wird – und das nicht zuletzt dank der
erneuerten Aufarbeitung sämtlicher relevanter Materialien, die
der Verfasser mit diesem Buch leistet. Der erörterte Gegenstand
liegt an der Schnittstelle zwischen Rezeptionsgeschichte und Wirkungsgeschichte. Wie sich zeigen wird, muss der Grenzverlauf
zwischen beiden Perspektiven im Licht der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung verschoben werden.
Fassen wir einmal den bisherigen Stand der Dinge zusammen:
Würde sich die Frage nach dem Verhältnis von Platon und Freud
lediglich im Rahmen einer Rezeptionsgeschichte des antiken
Autors stellen, also mit Blick auf die ausdrücklichen Bezüge, die
bei letzterem zu den Schriften des ersteren vorkommen, käme
man nicht über die Feststellung eines freudschen Interesses an
der Theorie des Eros im Gastmahl hinaus, verbunden mit der
entschiedenen Behauptung, dass diese Theorie eine unmittelbare
Vorstufe für die psychoanalytischen Begriffe der Libido und der
Sublimierung bildet. So vielsagend sie sein mag, hätte diese in
der platonischen, ebenso wie in der psychoanalytischen Literatur
durchaus geläufige Feststellung den wichtigen Überlegungen, die
Gerasimos Santas in seinem 1988 erschienenen Buch ausgeführt
hat nur wenig hinzuzufügen.1
1
Auch maßgebliche neuere Beiträge, wie diejenigen von Traverso, Le Rider
und Oudai Celso, beschränken sich weitgehend auf Freuds explizite Rezeption antiker Autoren.
7
Das Bild verändert sich radikal, wenn man den Horizont auf
eine Untersuchung der Wirkungsgeschichte ausweitet, also auf die
theoretischen Wirkungen, welche die antiken Texte im Denken
des neuen Autors erzielen. Diese Wirkungen gilt es zu untersuchen und in einer begrifflichen und textuellen Vergleichsstudie
nachzuweisen.
[…]
8
DRAFT: Rezension: M. Solinas, Via Platonica zum Unbewussten, in
„Luzifer-Amor“, 26 Jg., H. 51 (2013), Moritz Senarclens de Grancy.
Marco Solinas: Via Platonica zum Unbewussten. Platon und Freud. Aus dem Italienischen von Antonio Staude. Wien–Berlin (Turia + Kann) 2012, 201 Seiten. 24 Euro.
Freuds zahlreiche Bezugnahmen auf antike Autoren sind von der Forschung als
eine starke Traditionslinie der Psychoanalyse gewürdigt worden. Obwohl Freud
in Massenpsychologie und Ich-Analyse die psychoanalytische „Libido“ mit dem
platonischen „Eros“ gleichsetzt, zitiert er Platon – etwa im Vergleich zu Aristoteles
– selten unmittelbar. Marco Solinas’ Parallellektüre untersucht, wieviel tatsächlich
vom Corpus Platonicum in Freuds Texten steckt. Insbesondere in Platons Traumund Wunschtheorie aus dem achten und neunten Buch des Staates erkennt er eine
theoretische Grundlage von Freuds Denken. Damit eröffnet sich für Solinas hinter
Freuds wichtigster Entdeckung, der via regia zum Unbewussten, eine bislang nicht
ausreichend erforschte via platonica. Zahlreiche Parallelen und Analogien zeugen
von einer komplexen Wirkungsgeschichte platonischer Motive bei Freud. So etwa
die Bedeutung von Konflikten, die immer dort auftreten, wo Menschen aufeinandertreffen, in Staat und Familie. Platons metapsychologisches Gebäude radikalisiert die Psyche als den Bezugsort des inneren Menschen, wo sich Wahrnehmung
und Vernunft mit der Staatsverfassung verbinden. Auch der als unpolitisch verkannte Freud vergleicht die Seele mit dem modernen Staat. Bei diesen Metaphorisierungen geht es Platon wie Freud darum, die innerpsychische Funktion der
Selbstbeherrschung begreifbar zu machen; entdeckt wird dabei die Funktion des
Wächters, der die „Burg in der Seele“ (Platon) bewacht oder das „Tor“ der innerpsychischen „Festung“ (Freud) unter Kontrolle hält.
Auch das synthetisierende Streben des Freud’schen Ichs lässt sich auf Platon
zurückführen: Während Freud in der Neuen Folge der Vorlesungen davon spricht,
dass das Ich sich durch ein „merkwürdiges Streben nach Vereinheitlichung, nach
Synthese“ auszeichnet, tritt diese Tendenz bei Platon im Idealzustand der Mäßigung auf, in dem das Subjekt in Einklang (synphonía) mit sich selbst lebt. Die
Symmetrie beider Entwürfe der Psyche endet jedoch dort, wo Freud seinem ÜberIch ein Gewissen zuschreibt, das dem Ich „gegenübersteht“, das „betrachtet, lenkt
und droht“, während bei Platon Gewissen und Vernunft ineinander übergehen.
Die interessante Frage, ob auch Platon schon ein Unbewusstes kannte, untersucht Solinas am Unterdrücken und Fortbestehen der gesetzeswidrigen und verbannten Wünsche, von denen Platon ausgeht, ohne indes die Frage nach deren Ort
und Bedingung zu klären. Um die Vernunft nicht zu gefährden, müssen diese
Wünsche von der Akropolis als dem metaphorischen Entscheidungszentrum der
psyché ferngehalten werden, was durch ihre Versklavung geschieht, einem zwanghaften Zustand, der ähnlich wie in Freuds Verdrängungskonzept nur im Traum
aufgehoben wird. Tatsächlich geht es beiden Theorien um die unterdrückten bzw.
verdrängten, vom Denken und Handeln fernzuhaltenden Wünsche. Der gnostische Wert, den Träume für die Psychoanalyse haben, kommt ihnen auch in Platons
Staat zu, insofern hier jene Wünsche offenbar werden, die sonst dem Bewusstsein
unzugänglich bleiben. Allerdings kennt Platons Traum nicht die Unterscheidung
von manifesten und latenten Vorstellungen, wohingegen Freud durchaus Träume
kennt, die „wirklich bedeuten, was sie ankündigen“. Dass auch Ödipales bei Platon vorkommt, dessen Träumer wie derjenige Freuds seiner Mutter beiwohnen
1
DRAFT: Rezension: M. Solinas, Via Platonica zum Unbewussten, in
„Luzifer-Amor“, 26 Jg., H. 51 (2013), Moritz Senarclens de Grancy.
will, bekräftigt die wichtige Rolle der Sexualität beziehungsweise des Eros in
beiden Entwürfen.
In Solinas’ vergleichender Betrachtung wird deutlich, dass Platons Analogie
zur Sklaverei und Freuds „relative Befreiung“ der Triebe zwar vom Umgang mit
problematischen Wünschen handeln, der aber nur in der Psychoanalyse zu einem
einheitlichen Begriff für die Unzugänglichkeiten des Bewusstseins ausformuliert
wurde. Die Bedeutung der Freudschen Traumdeutung erschöpft sich, wie auch
Solinas bemerkt, nicht in einer Philosophie, sondern beansprucht, eine Zeichenlehre zu sein, die den Traum als ein Übertragungsphänomen auffasst und dieses
methodisch ausdeutet. Dieses Denken ist Platon fremd, weil es, wie mit Blick auf
die therapeutische Übertragungsbeziehung deutlich wird, das rationale Moment
schwächt. Während die sokratische therapeía an die Besonnenheit appelliert, versucht Psychoanalyse gerade, von „vorgefassten Reden“ zu befreien. Demgemäß
erweist sich Nichtwissen bei Platon auch als ein anderes als bei Freud: Das sokratisch-platonische Nichtwissen muss ethisch-moralische Erkenntnis erlangen, um
zu genesen, während es bei Freud darum geht, von falschem Wissen frei zu werden und den Verdrängungszusammenhang unbewusster Wünsche aufzudecken.
Platon hat Freuds Psychoanalyse somit nicht vorweggenommen. Jedoch geht
aus Solinas Untersuchung hervor, wie nachhaltig platonische Ideen Freuds Theorieentwicklung geprägt haben. Dass Freud sich nicht klarer zu Platons psychischpolitischer Charakterlehre bekannt hat, mag an seinem steten Bestreben gelegen
haben, Psychoanalyse als Naturwissenschaft zu etablieren. Auf diese Schieflage in
Freuds Werk hinzuweisen, ist auch ein Verdienst von Solinas’ Buch.
Moritz Senarclens de Grancy
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Originaltitel:
Psiche: Platone e Freud. Desiderio, sogno, mania, eros
Erweiterte Neuausgabe
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Covergestaltung: Bettina Kubanek
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VORBEMERKUNG von Mario Vegetti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
DANKSAGUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
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%3&*5&*-6/(&/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
1. Spaltung, Konflikt, Beilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
1. 1 Triebmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
1. 2 Die Belagerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
1. 3 Das Streben nach Harmonie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
2. Zorn und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
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1. Der unterdrückte Wunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
1. 1 Ein dunkles Wuchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
1. 2 Akropolis und Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
2. Der Wunsch in der Revolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
2.1 Die Bedingungen der Manifestation von Träumen . . . . . 79
2.2 Schreckliche Visionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
2.3 Aus den Ketten befreit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
3. Die Via Regia zum Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
3.1 Die Verdrängung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
3.2 Der Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
3.3 Das Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
4. Abwehrmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
5. Drohend bevorstehende Albträume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
5.1 Anti-repressive Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5.2 Das vielköpfige Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
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1. Vom Traum zur Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
1.1 Symptomübersichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
2. Diagnostische und therapeutische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . 119
2.1 Freud und die bekannten sokratischen Lehren . . . . . . . 119
2.2 Das Verdrängte und die paideía . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
2.3 Die kallípolis und das Verdrängte . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
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%&346#-*.*&35&&304. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
1. Hydraulik der Triebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
1.1 Kanäle der Libido . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
2. Eros und Libido . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
2.1 Platonische Libido. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
2.2 Narziss und der Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
2.3 Sublimierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
3. Freud und das Gastmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
3.1 Der regressive Charakter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
3.2 Der die lebendige Substanz erhaltende Eros . . . . . . . . . 150
3.3 Die Ausdehnung der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
3.4 Eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
4. Die Eigenständigkeit des Phaidros. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
4.1 Der Reiter und das geflügelte Zweigespann. . . . . . . . . . 161
4.2 Das Ross und der Eros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
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1. Die Aufforderung des Thrasymachos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
2. Über das Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
2.1 Die Tyrannen des Melancholikers . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
3. Über die Ideale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
3.1 Auf der Suche nach Vollkommenheit . . . . . . . . . . . . . . 178
3.2 Durchbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
3.3 Metaphysik versus Metapsychologie . . . . . . . . . . . . . . . 184
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NAMENSVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
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WPO.BSJP7FHFUUJ
Es ist durchaus möglich, dass der »Fall« Platon und Freud,
also das Studium des Verhältnisses beider Autoren und ihrer
Schriften, zu einem der bedeutsamsten und in gewisser Hinsicht
verblüffendsten Beispiele der Präsenz antiken Denkens an einer
Schlüsselstelle für die Herausbildung unseres modernen Selbstverständnisses avancieren wird – und das nicht zuletzt dank der
erneuerten Aufarbeitung sämtlicher relevanter Materialien, die
der Verfasser mit diesem Buch leistet. Der erörterte Gegenstand
liegt an der Schnittstelle zwischen Rezeptionsgeschichte und Wirkungsgeschichte. Wie sich zeigen wird, muss der Grenzverlauf
zwischen beiden Perspektiven im Licht der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung verschoben werden.
Fassen wir einmal den bisherigen Stand der Dinge zusammen:
Würde sich die Frage nach dem Verhältnis von Platon und Freud
lediglich im Rahmen einer Rezeptionsgeschichte des antiken
Autors stellen, also mit Blick auf die ausdrücklichen Bezüge, die
bei letzterem zu den Schriften des ersteren vorkommen, käme
man nicht über die Feststellung eines freudschen Interesses an
der Theorie des Eros im Gastmahl hinaus, verbunden mit der
entschiedenen Behauptung, dass diese Theorie eine unmittelbare
Vorstufe für die psychoanalytischen Begriffe der Libido und der
Sublimierung bildet. So vielsagend sie sein mag, hätte diese in
der platonischen, ebenso wie in der psychoanalytischen Literatur
durchaus geläufige Feststellung den wichtigen Überlegungen, die
Gerasimos Santas in seinem 1988 erschienenen Buch ausgeführt
hat nur wenig hinzuzufügen.1
1
Auch maßgebliche neuere Beiträge, wie diejenigen von Traverso, Le Rider
und Oudai Celso, beschränken sich weitgehend auf Freuds explizite Rezeption antiker Autoren.
7
Das Bild verändert sich radikal, wenn man den Horizont auf
eine Untersuchung der Wirkungsgeschichte ausweitet, also auf die
theoretischen Wirkungen, welche die antiken Texte im Denken
des neuen Autors erzielen. Diese Wirkungen gilt es zu untersuchen und in einer begrifflichen und textuellen Vergleichsstudie
nachzuweisen. Freilich muss eine solche Studie über die ausdrücklichen Zitate und Aussagen hinausgehen, die den Gegenstand
der Rezeptionsgeschichte bilden. In diesem zweiten Fall besteht
naturgemäß ein Risiko der Arbitrarität, das mit der Schwierigkeit einhergeht, nicht nur die Textpassagen, sondern auch die
kulturellen Zusammenhänge aufzuspüren, durch die der moderne
Autor seine Kenntnis des antiken Autors erworben hat, was akademische Prägungen, zufällige bzw. indirekte Lektüren, oder im
jeweiligen intellektuellen Umfeld zirkulierende Informationen mit
einschließen kann. Das besagte Risiko lässt sich nicht ganz vermeiden, aber wenigstens eindämmen, indem die Bemühungen um
das Aufstellen direkter Vergleiche von Textstellen und Begriffen,
sowie um eine Gegenüberstellung einzelner theoretischer Bereiche
und komplexer Theoriemodelle vermehrt werden.
Bei einer Gegenüberstellung von Platon und Freud lohnt es
sich jedenfalls, dieses Risiko einzugehen. Bereits angesehene
Gelehrte wie Werner Jaeger und Eric Dodds hatten in der Dreiteilung des Seelenapparates, die Platon im Vierten und Achten
Buch des Staates entwirft (und später in abweichender Form im
Phaidros wie auch im Timaios wiederaufnimmt) einen bedeutsamen, und vermutlich den alleinigen Vorläufer der freudschen
»Topik« erkannt. Die drei »Seelenprinzipien« nach Platon (Vernunft, aggressiver Selbstbehauptungstrieb und Polarisierung
der körperlichen Wünsche), die zueinander in Konflikt stehen,
aber zu einer befriedeten hierarchischen Anordnung fähig sind,
erschienen diesen Gelehrten als Vorläufer der freudschen Einteilung in Über-Ich, Ich und Es, allerdings nicht im Sinne einer in
allen Punkten nachvollziehbaren Entsprechung.
In Weiterführung dieser Ansätze konnte ein Artikel von
Massimo Stella aus dem Jahr 1998 überraschende Übereinstimmungen zwischen den politischen Problemen der ersten Bücher
des Staates und der grundlegenden freudschen Schrift über Das
Unbehagen in der Kultur aufzeigen. Der Problemkreis des Ver-
8
hältnisses von Justiz und Macht, von hierarchischer Gesellschaft
und sozialer Nötigung bildete in beiden Darstellungen den Mittelpunkt und diente nicht nur dem dreiteiligen Seelenmodell im
Vierten Buch des Staates als Hintergrund, sondern auch der systematischen Struktur der freudschen Metapsychologie. Damit war
eine erhebliche Präsenz platonischer Texte in Freuds Auffassung
des Seelenapparates und seiner konfliktträchtigen Ausrichtung,
sowie in der politisch-polemologischen Sprache, in der dieser
beschrieben und verstanden wird, erwiesen. Bis hierher war man
nicht über vornehmlich auf »Indizien« gestützte Untersuchungen
hinausgekommen, die ihrerseits auf genauen Textvergleichen
hinsichtlich der Auswirkungen der platonischen Lehren auf die
Herausbildung des freudschen Denkens beruhten.
Diese Schwelle hat Marco Solinas nun mit seiner Untersuchung überschritten, deren zentrales Thema das Verhältnis zwischen der im Achten und Neunten Buch des Staates erörterten
Traum- und Wunschtheorie (mit den notwendigen Verweisen
auf weitere platonische Werke wie Phaidros und Gastmahl) und
der Konstruktion des freudschen Denkens ist. Auf überzeugende
Weise zeigt der Autor nicht nur, dass sich Freuds große Entdekkung aus der Traumdeutung, nämlich der »Königsweg zum Unbewussten«, in den genannten Dialogen in weiten Teilen vorweggenommen findet, sondern auch, dass Freud davon Kenntnis gehabt
haben muss. Inwiefern diese Tatsache ein entscheidendes Novum
bedeutet, wird in der Einleitung ausführlich dargelegt. Schließlich
fanden sich Platons Thesen in wissenschaftlichen Arbeiten erläutert, die Freud zugänglich waren und aus denen er zitierte; etwa
die Werke von Büchsenschütz (1868) und Radestock (1879),
sowie die grundlegende Abhandlung von Brentano (1874); zudem
war der Wortlaut der Schlüsselstelle des Neunten Buches als ausgedehntes Zitat in Ciceros De divinatione enthalten, einem Werk,
auf das Freud ausführlich eingegangen ist.
Worin besteht also das platonische Erbe, das Freud bekannt
war und das er so fruchtbringend eingesetzt hat? Den Hintergrund bildet die Theorie der konfliktträchtigen Spaltung der Subjektivität, die in einer befriedeten Hierarchie neu zusammengesetzt werden kann. Es ist dasselbe Thema, das in einem anderen
Sprachzusammenhang als »Bürgerkrieg des Selbst« bezeichnet
9
wurde. Im Zentrum von Solinas’ Untersuchung steht jedoch das
Herzstück des Neunten Buches aus Platons großem Dialog, jenes
Drama der Wünsche, das die Grundlagen einer Anthropologie,
einer Politik und einer Ethik bildet, im weiteren Sinne als Formen
therapeutischer Praxis für die Subjektivität und für die Gemeinschaft verstanden, an die sie gleichsam eineindeutig gefesselt ist.
Hier trifft man bei Platon und Freud auf die überraschendsten
Ähnlichkeiten, die freilich – wie Solinas betont – augenscheinliche
theoretische und begriffliche Unterschiede aufweisen. Das Drama
der Wünsche entfaltet sich zwischen Unterdrückung, Verdrängung, Abwehrstrategien und möglicher Sublimierung. Letztere
lässt sich durch jene Vorrichtung zur hydraulischen Kanalisierung
der Triebenergien erreichen, die einen weiteren, entscheidenden
Berührungspunkt der beiden Entwürfe des psychischen Apparates
ausmacht. Hier zeigt sich einmal mehr Platons Thematisierung
des Traumes als Wiederauftreten der unterdrückten Wünsche,
woraus bei Freud die Via Regia zum Unbewussten hervorgeht.
Vor diesem Hintergrund schlussfolgert Solinas in eindrucksvoller Deutlichkeit: »Die Übereinstimmung von Via Regia und
Via Platonica legt somit die Nervenstränge der gesamten abendländischen Identität frei. Denn diese Überlagerung bezeugt wie
die theoretischen Grundlagen der psychoanalytischen Revolution
bereits seit der Antike vorgeformt wurden. Nicht allein die Vorwegnahme des Königswegs, die ihm zugrunde liegende Untersuchung der Formen der Unterdrückung des Wunsches und der
korrelierten psychopathologischen Abweichungen, sondern auch
die positiven Steuerungs- und Kontrollstrategien des Wunsches,
auf denen die Möglichkeiten zur Erreichung eines gesunden psychischen Gleichgewichts beruhen, weisen in der Tat weitgehende
Übereinstimmungen auf: Wünsche, Libido und Eros, eingeteilt in
ein beinahe identisches Triebmodell, gestalten sich als wesentlich
plastische Triebkräfte; sie lassen sich kanalisieren und sublimieren«.
Warum sollte Freud die tiefe Schuld, in der er Platon gegenüber bezüglich der Verknüpfung von Traum und Wunsch
stand, verschwiegen und so auch dessen »Erstgeburtsrecht« der
Via Regia verborgen haben? So formuliert suggeriert die Frage
bereits eine Antwort: Freuds Verschwiegenheit lässt sich – ähn-
10
lich wie bei vielen anderen antiken und modernen Autoren – auf
den mehr oder weniger unbewussten Wunsch zurückführen, die
Ursprünglichkeit eigener Erkenntnisse nicht geschmälert zu sehen.
Eine wohlwollendere, aber ebenso wenig nachprüfbare Annahme,
könnte hingegen von einer beinahe unterschwelligen Verarbeitung
der platonischen Lehren ausgehen, die eine weitreichende Übereinstimmung zur Folge hat, bei der jedoch die fremde Urheberschaft unbeachtet bleibt.
Nachdem festgestellt wurde, was Freuds Theorie an platonischem Gedankengut enthält, dürfen gewiss auch die grundlegenden Abweichungen nicht unbeachtet bleiben, die letzteren von
ersterem unterscheiden.
In Solinas’ Analyse liegen die beiden Hauptunterschiede in der
therapeutischen Strategie und in der ethischen Haltung. Da die
Psyche, verglichen mit dem sozialen Umfeld, aufgrund ihrer Konstitution leicht zugänglich erscheint, ist die Therapie für Platon
vorwiegend politisch-pädagogischen Ursprungs: Die politische
Gemeinschaft vermag in der individuellen Seele die »gerechte«,
verbesserte und befriedete Hierarchie zwischen den in Konflikt
stehenden Elementen wiederherzustellen; so kann sie das Drama
der Wünsche aufhalten (jedoch stets nur vorübergehend, angesichts des angeborenen Widerstands gegen die anthropologische
Konstitution des Subjekts, dem nach der außergewöhnlichen
Metapher aus dem Neunten Buch gleichzeitig ein Mensch, ein
Löwe und ein vielköpfiges Tier innewohnen). Geschieht dies
nicht, zerstört dieses Drama letztlich die politische Gemeinschaft
und sein unabwendbares Ziel ist die finstere Gestalt des Tyrannen, der sowohl dem erotischen Delirium als auch der Paranoia
der Macht verfallen ist. Wie der Solinas wohl vertraute Autor
Axel Honneth beobachtet hat, produziert dagegen bei Freud das
Vorherrschen der ödipalen Struktur tendenziell eine Isolierung
des Subjekts in seinem familiären Umfeld, und die therapeutische
Strategie nimmt dann die Form der analytischen Praxis unter
vier Augen an (wobei die freudsche Metapsychologie, wie schon
erwähnt, weitgehend auf Figuren und Ausdrucksweisen politischpolemologischer Herkunft zurückgreift).
Im Bereich der Ethik wird der Unterschied zwischen dem
Eudämonismus Platons (der ihn auf komplizierte Weise mit der
11
gesamten antiken Moral verbindet) und den kantianischen Voraussetzungen der freudschen Instanz des Über-Ichs umrissen,
wobei das Verhältnis von Moral und Glück in der Theorie des
Ich-Ideals wenigstens teilweise wieder aufzuleben scheint.
Solinas’ Buch unterstreicht also einerseits die ungebrochene
theoretische Wirkkraft von Platons Philosophie innerhalb eines
ganzen Feldes des abendländischen Denkens, und andererseits
deckt sie die »klassischen« Wurzeln im Denken Freuds auf, dessen
Eigenständigkeit hier nicht in Frage gestellt, sondern im Flussbett
einer großen philosophischen Tradition neu verortet werden soll.
Der gewählte Ansatz entspricht gleichsam einer Reihe von Spiegelungen, durch welche das Verständnis beider Autoren erweitert
und angemessen problematisiert wird.
Besser noch entspricht er einem ertragreichen hermeneutischen Zirkel, der auch zum besseren Verständnis des Bildes von
Platon beiträgt. Mit Hilfe des freudschen »Spiegels« wird dieses
der erhebenden, letztlich aber banalen Darstellung entzogen, auf
die es von einer langen und bis heute fortwirkenden Tradition
reduziert wurde, um es stattdessen für sein ursprüngliches Spannungsfeld einer Anthropologie, Psychologie und Politik des Wunsches zurückzugewinnen.2 Eben dieser Spiegel unterstreicht die
anhaltende theoretische Relevanz der im Vierten Buch des Staates
entwickelten seelischen Dreiteilung, und zwar ungeachtet aller
neueren Deutungsansätze, die sie innerhalb der Entwicklung des
platonischen Denkens als vorläufig und nebensächlich ansehen,
und stattdessen das eingängigere Bild der Seele als einheitliche
Entität bevorzugen, das im Phaidon entwickelt wird, und im
Zehnten Buch des Staates nochmals in recht enigmatischer Weise
anklingt.3
2
3
12
Siehe mein Aufsatz zu diesem Thema: M. Vegetti, Anthropologies of Pleonexia in Plato, in Plato Ethicus, hrsg. von M. Migliori, Academia Verlag,
Sankt Augustin 2004, S. 315-326.
Zum aktuellen Diskussionsstand über die Problematik der Seele bei Platon sei auf folgende Aufsatzsammlung verwiesen: Interiorità e anima. La
psyché in Platone, hrg. von M. Migliori, L. Napolitano, A. Fermani, Vita
e Pensiero, Milano 2007.
Darüber hinaus trägt die Feststellung eines Zusammenhangs
zwischen freudschem Denken und platonischer Tradition zum
besseren Verständnis der Eigenständigkeit des psychoanalytischen
Horizonts gegenüber dem in weiten Teilen der Psychologie sowie
der Psychobiologie des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Aristotelismus bei. Aufgrund dieser beiden Ergebnisse erweist sich Solinas’ Arbeit mit Sicherheit nicht nur für Kenner der Psychoanalyse
als bedeutend, sondern auch für den allgemeiner interessierten
Leser, der die faszinierenden Bindeglieder kennenlernen will, die
antike Traditionen entweder ganz explizit, oder im Verborgenen,
mit dem Wissen der Gegenwart verbinden.
Mailand, im September 2011
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Die Fragestellung dieser Studie begleitet mich in meinen Forschungen nunmehr seit über einem Jahrzehnt und wurde in diesem Zeitraum bis zuletzt durch stets neue Lektüren und Denkanstöße hinterfragt und erweitert. Die vorliegende Ausgabe erscheint
gegenüber der italienischen Ausgabe von 2008 in einigen wesentlichen Punkten verändert, beginnend mit der ausgedehnten Einleitung, in der ich den Ansatz meiner bislang unveröffentlichten Forschungen der letzten drei Jahren darlege und ferner die weiteren
Neuerungen erläutere. Unter den Personen, die mir bei der Arbeit
an diesem Werk ihre Hilfe und Unterstützung entgegengebracht
haben gilt mein besonderer Dank Walter Leszl, der das Vorhaben von Anfang förderte und mir nicht nur als Betreuer meiner
Abschlussarbeit und als Doktorvater, sondern auch bei meinem
Einstieg in Forschung und Lehre weiter beratend zur Seite stand;
Mario Vegetti, dem ich nicht nur zahlreiche wertvolle Hinweise
verdanke, sondern auch die Aufnahme eines Artikels in den von
ihm herausgegebenen ausführlichen Kommentarband zu Platons
Staat, und der mich hier nun mit einer ergänzten Vorbemerkung
beehrt; Christof Rapp, der mich dazu aufforderte, einen Artikel
zu Platon und Freud für das »Philosophische Jahrbuch« einzureichen, bei dessen Redaktion ich mich für die Genehmigung eines
teilweisen Nachdrucks bedanken möchte; Gherardo Ugolini, der
mich seinerseits aufforderte, einen thematisch affinen Beitrag für
ein von ihm herausgegebenes Buch zu verfassen. Darüber hinaus
danke ich, sei es für ihre Hinweise, sei es für ihren Zuspruch,
Adriano Bugliani, Marta Caneva, Jacqueline Carroy, Sergio
Caruso, Klaus Corcilius, Fulvia De Luise, Volker Gerhardt, Maurizio Gribaudi, Rolf Haubl, Jan-Christoph Heilinger, Axel Honneth, Rahel Jaeggi, Valentina Leonhard, Giovanni Mari, Elena
Pulcini, Anja Röcke, Antonello Schiacchitano, Giuseppe Tumino,
Silvia Vegetti Finzi, Sergio Vitale, und schließlich Anna Pellegrino
und Fiorenza Serra. Ebenso gilt mein Dank Antonio Staude für
die umsichtige Anfertigung der Übersetzung, dem Verlag Firenze
15
University Press für die Erteilung der Lizenz für die deutschsprachige Ausgabe, sowie Ingo Vavra für seine begeisterte Aufnahme
des Manuskripts im Verlag Turia + Kant.
Paris, im März 2012
&*/-&*56/(
Erst am Ende der Traumdeutung beruft sich Freud auf der vorletzten Seite der ersten Auflage zum ersten und einzigen Mal auf
Platon wenn er schreibt, es wäre angebracht »des Wortes von
Plato zu gedenken, dass der Tugendhafte sich begnügt, von dem
zu träumen, was der Böse im Leben thut«.1 Er tut dies mit Blick
auf die »ethische Bedeutung der unterdrückten Wünsche«, die
sich im Traum enthüllen, indem er an den Fall eines nicht näher
bezeichneten römischen Kaisers erinnert, der einen seiner Untertanen aufgrund eines geträumten Majestätsverbrechens hinrichten
ließ. Dieses späte und unerwartete Zitat, das als abschwächendes
Echo der die Eigenschaften des Tyrannen und die Wirkungsweise
des Traumes erörternden Passage aus dem Neunten Buch des
Staates dient, beinhaltet eine zweigeteilte hermeneutische Problemstellung, die zur Rekonstruktion sowohl der theoretischen
als auch der historiographischen Aspekte der Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse von höchster Wichtigkeit ist.
Ein theoretisches Problem deshalb, weil der berühmte
»Königsweg zum Unbewussten«, wie er in der Traumdeutung
umrissen wird, seinem zentralen Gehalt nach eine Neuauflage
von Platons Weg im Staat darstellt, durch den dieser mittels der
Traumanalyse das Wesen einer spezifischen Form unterdrückter
Wünsche zu bestimmen weiß. Die Analyse der Träume und der
entsprechenden Modalitäten der Steuerung, Kontrolle und Unter-
1
S. Freud, Die Traumdeutung, Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1900,
S. 370: »Und selbst, wenn ein Traum, der anders lautete, diese majestätsverbrecherische Bedeutung hätte, wäre es noch am Platze, des Wortes von
Plato zu gedenken, dass der Tugendhafte sich begnügt, von dem zu träumen, was der Böse im Leben thut. Ich meine also, am besten gibt man die
Träume frei. Ob den unbewussten Wünschen Realität zuzuerkennen ist,
kann ich nicht sagen«; die Passage ist auch in die späteren Auflagen eingegangen, vgl. S. Freud, Die Traumdeutung, Gesammelte Werke, Bd. 2/3, S.
625.
17
drückung des Wunsches bietet den Schlüssel zu jener Sphäre der
Seele, die sich für gewöhnlich der Aufmerksamkeit des sogenannten Bewusstseins entzieht. Diesen Bereich verortet Platon außerhalb der Pforten der Akropolis der Seele und siedelt darin diejenigen unterdrückten Wünsche an, die sich im Traum kundtun.
Die freudsche Via Regia ist die Via Platonica. Die Traumanalyse
eröffnet darüber hinaus auch den Weg zur Rekonstruktion von
Prozessen, die zu den psychopathologischen Entartungen führen,
denen der tyrannische Mensch ausgesetzt ist. Sobald die Wünsche
aus den Ketten befreit sind, die ihr Auftreten und ihre Befriedigung auf das Traumleben übertragen, führen die vorgängig unterdrückten Wünsche zu einem im engeren Sinne manischen und
melancholischen Zustand. Auch die von Freud entworfene systematische Verbindung zwischen Wunsch, Traum und Wahn wird
hier vorweggenommen. Darüber hinaus wird, angesichts einer
Seele, die aufgrund ihrer Beschaffenheit Wunden und Konflikten
ausgesetzt ist, der von Platon angezeigte Weg zur Erreichung eines
gesunden seelischen Gleichgewichts auf der metapsychologischen
Ebene mittels des Gegensatzes von Unterdrückung und Fesselung
der Wünsche und ihrer Erziehung und Umstimmung bestimmt.
Auch der grundlegende Kontrast von Verdrängung und Sublimierung wird so in seinen wesentlichen Zügen vorweggenommen.
Ein historiographisches Problem deshalb, weil die theoretischen Grundlagen dieser bedeutsamen Vorwegnahmen im
Neunten Buch des Staates umrissen werden, aus welchem auch
das von Freud zitierte Wort Platons stammt. Ausgelöst wird diese
Assoziation durch den von Friedrich Scholz2 erwähnten Bericht
2
18
Vgl. F. Scholz, Schlaf und Traum: eine populär-wissenschaftliche Darstellung, Mayer, Leipzig 1887, S. 36; S. Freud, Die Traumdeutung, erste
Auflage, zit., S. 46: »Scholz (S. 36): »Im Traum ist Wahrheit, trotz aller Maskierung in Hoheit oder Erniedrigung erkennen wir unser eigenes
Selbst wieder... Der ehrliche Mann kann auch im Traume kein entehrendes
Verbrechen begehen, oder wenn es doch der Fall ist, so entsetz er sich
darüber, als über etwas seiner Natur Fremdes. Der römische Kaiser, der
einen seiner Unterthanen hinrichten ließ, weil diesem geträumt hatte, er
habe dem Kaiser den Kopf abschlagen lassen, hatte darum so Unrecht
nicht, wenn er dies damit rechtfertigte, daß, wer so träume, auch ähnliche
Gedanken im Wachen haben müsse. Von etwas, das in unserem Innern
über einen nicht näher bezeichneten römischen Kaiser und den
Traum eines seiner Untertanen, die jener berühmten, und Freud
wahrscheinlich bekannten Episode des griechischen Tyrannen
Dionys des Älteren von Syrakus nachempfunden ist.3 Dieser hatte
seinen Offizier Marsyas hinrichten lassen, weil er ihm in seinem
eigenen Traum die Kehle durchgeschnitten hatte, und zwar mit
der Begründung, dass er eine Mordtat, die ihm im Traum erschienen ist, notwendigerweise im Wachzustand ersonnen haben muss.
Plutarch erzählt die Episode in seinem Leben des Dion, das auch
Angaben über Platons Aufenthalte in Syrakus enthält, und wo
eine Vielzahl von Elementen aus der platonischen Erörterung
des Tyrannen im Staat eingeflossen ist.4 Kurzum, die Verbindung
zwischen dem Wort Platons und der Episode vom geträumten
Majestätsverbrechen lässt sich dadurch erklären, dass sich Freud,
wenn auch möglicherweise nur dunkel, an Plutarchs Schilderung
des Tyrannen aus Syrakus erinnern konnte.5 Jedenfalls hat Platon
3
4
5
keinen Raum haben kann, sagen wir deshalb auch bezeichnenderweise: Es
fällt mir auch im Traum nicht ein««.
Vgl. bspw. A. Lemoine, Du sommeil au point du vue physiologique et psychologique, Baillière, Paris 1855, wo die Episode auf Seite 236 vollständig
wiedergegeben wird; auch dieses Werk findet sich bereits in der ersten Auflage der Traumdeutung zitiert.
Vgl. Plutarch, Große Griechen und Römer, Bd. IV, eingel. u. übers. von
K. Ziegler, Artemis, Zürich 1957, S. 14-15 (Vitae parallelae, Dio. 9,3.7-8,
961-962): »Denn so misstrauisch und argwöhnisch gegen alle Menschen
und aus Furcht so sehr auf seiner Hut war der ältere Dionysios, dass er
[…] einen gewissen Marsyas, der von ihm befördert und in eine Offizierstelle gesetzt worden war und der dann geträumt hatte, dass er ihn töte,
hinrichten ließ mit der Begründung, dass aus seinen Gedanken und Überlegungen im Wachen dieses Gesicht in seinen Traum gedrungen sei. Eine
so verängstigte, aus Furchtsamkeit von so vielen Übeln geplagte Seele hatte
der Mann, der sich über Platon erzürnte, weil er ihn nicht für den tapfersten aller Menschen erklärt hatte.« Zum besonderen Charakter dieser
Episode, bei welcher »der Träumende selbst eine andere Person ermordet«
vgl. G. Weber, Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike,
Franz Steiner, Stuttgart 2000, S. 317-318.
Ein detaillierter Bericht über Dionys den Älteren, Dionys den Jüngeren,
und Dion, sowie über die Reisen von Platon nach Syrakus findet sich
bspw. in Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, hrg. von J.
Oeri, Sperman, Berlin-Stuttgart 1898, Bd. I, S. 198-213, 357-359, über
19
im Neunten Buch des Staates explizit dargelegt, dass der Tyrann
diejenigen Wünsche tatsächlich in die Tat umsetzt, die sonst
gemeinhin dem Traum angehören:
[So] werden die alten Ansichten, die er von Kind auf über Tugend und
Laster hatte, jene Ansichten, die der gewöhnlichen Anschauung über
Rechtlichkeit entsprachen, überwältigt werden von den neuerdings erst
aus der Knechtschaft befreiten, die im Bunde stehen mit Eros und dessen
Leibwache bilden. Diese konnten früher nur im Traum sich freimachen,
wenn er schlief, als er noch unter dem Druck der Gesetze und seines Vaters
innerlich demokratisch lebte. Seit er aber unter die tyrannische Herrschaft
des Eros geraten ist, wie er es vorher nur ab und zu im Traum war, wird
er vor keinem schrecklichen Mord, vor keiner Speise und keiner Tat mehr
zurückschrecken. Vielmehr lebt der Eros in ihm nach Tyrannenart in voller Ungebundenheit und Gesetzlosigkeit, und da er selbst Alleinherrscher
ist, wird er den, der ihn besitzt, wie einen Staat zu jedem Wagnis treiben.
Hiervon hält er sich selbst und den lärmenden Schwarm seiner Umgebung
am Leben [...] (574d-575a).6
Eine Auffassung, die ihrerseits auf einer strengen Traumanalyse beruht, deren Kernpunkte in einer entscheidenden Passage zu
Anfang des Neunten Buches dargelegt werden:
6
20
dieses Werk des Basler Humanisten schreibt Freud am 30.1.1899: »Zu
meiner Erholung lese ich Burckhardts Griechische Kulturgeschichte, die
mir unerwartete Parallelen liefert. Meine Vorliebe für das Prähistorische
in allen menschlichen Formen ist im Gleichen geblieben.«, und später, am
6.2.1899, schreibt Freud wiederum: »Ich bin tief in Burckhardt’s Griechicher Kulturgeschichte.«, vgl. S. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 18871904, hrg. von J. M. Masson, bearb. d. dt. Fassung von M. Schröter, Transkription von G. Fichtner, 2. Aufl., Fischer, Frankfurt/M 1999, S. 374,
377.
Der Staat (Politeia) wird grundsätzlich nach der Übertragung von O. Apelt
zitiert: Platon, Sämtliche Dialoge. Bd. V, Meiner, Hamburg 1961 (Durchges. Fassung der 1. Ausgabe Meiner, Leipzig 1923). Berücksichtigt werden
außerdem: F. Schleiermacher (1828), in Platon, Sämtliche Werke, Politeia,
Bd. V, Frankfurt/M, Leipzig 1991; W. Andreae, Platons Staatschriften.
Der Staat, Bd. VI, Jena 1925; K. Vretska, Platon, Der Staat, Reclam, Stuttgart 19822; R. Rufener, Platon, Der Staat/Politeia, Griechisch-Deutsch,
Einführung, Erläuterungen, Inhaltsübersicht von Th. A. Szlezák, Artemis
& Winkler, Düsseldorf 2000; A. Horneffer, Platon, Der Staat, Kröner,
Stuttgart 1973.
Von den nicht-notwendigen Lüsten und Wünschen scheinen mir einige
wider Gesetz und Ordnung zu sein; sie sind zwar vermutlich einem jeden
angeboren; werden sie aber von den Gesetzen und besseren Trieben zusammen mit der Vernunft gehörig in Zucht gehalten, so verschwinden sie bei
einigen Menschen entweder völlig oder bleiben nur in geringer Zahl und
schwach an Kraft zurück, bei anderen dagegen entwickeln sie sich zu umso
größerer Kraft und Fülle. – Und was sind das für welche, die du dabei im
Sinn hast? – Diejenigen, die sich im Schlaf regen, wenn der eine Seelenteil,
der vernünftige, gesittete Herrscher über jenen andern ruht; der tierische
und wilde dagegen mit Speise oder Trank gefüllt, weiß sich vor Unbändigkeit nicht zu lassen, schüttelt den Schlaf ab und sucht loszustürmen und
seinen Trieben zu frönen. […]. In solchem Zustand scheut er bekanntlich
vor nichts zurück, als sei jegliches Schamgefühl und jegliche Einsicht ihm
völlig abhandengekommen. Denn er bedenkt sich keinen Augenblick, der
eigenen Mutter, wie er wähnt, beizuwohnen oder irgendwelchem anderen Wesen, sei es Mensch, Gott oder Tier, und jede Blutschuld auf sich
zu laden und jeder Speise zuzusprechen. Mit einem Wort, es gibt keine
Unvernünftigkeit und keine Unverschämtheit, auf die er sich nicht einlässt
(571a-d).
Grundsätzlich erlaubt die Traumanalyse, Vorhandensein und
Wesen der besonderen Wünsche zu erkennen, die unterdrückt
werden und sich im Wachzustand der Aufmerksamkeit des
Bewusstseins entziehen. Sie tauchen ausschließlich in onirischer
Form auf, und zwar dann, wenn sich die Seelenteile, in die sie
verbannt wurden, ausdrücken können. Diese profitieren dabei
vom Schwächerwerden der Kontrollinstanzen und legen so ihre
schrecklichen Züge frei, einschließlich des sogenannten ödipalen
Traums. Die Analogie zur berühmten freudschen Theorie, wonach
im Traum unterdrückte und verdrängte Wünsche auftreten und
der Traum somit den Königsweg zur Erkenntnis des Unbewussten
darstellt liegt auf der Hand; von der gewiss nicht unbedeutenden
Tatsache abgesehen, dass hier praktisch alle Träume in diesem
Sinne gedeutet werden, also nach den folgenden Ausführungen
aus der ersten Ausgabe der Traumdeutung:
Wenn wir uns mit einem Minimum von völlig gesichertem Erkenntniszuwachs begnügen wollen, so werden wir sagen, der Traum beweist uns,
dass das Unterdrückte auch beim normalen Menschen fortbesteht und
psychischer Leistungen fähig bleibt. Der Traum ist selbst eine der Äußerungen dieses Unterdrückten; nach der Theorie ist er es in allen Fällen,
nach der greifbaren Erfahrung wenigstens in einer großen Anzahl, welche
die auffälligen Charaktere des Traumlebens gerade am deutlichsten zur
21
Schau trägt. Das seelisch Unterdrückte, welches im Wachleben durch die
gegensätzliche Erledigung der Widersprüche am Ausdruck gehindert und
von der inneren Wahrnehmung abgeschnitten wurde, findet im Nachtleben
und unter der Herrschaft der Kompromissbildungen Mittel und Wege, sich
dem Bewusstsein aufzudrängen.
»Flectere si nequeo Superos, Acheronta movebo.« 7
Auf diese Passage lässt Freud in der zweiten Auflage des
Werkes von 1909 eine Definition folgen, die später noch größere
Berühmtheit erlangen sollte:
Die Traumdeutung aber ist die Via Regia zur Kenntnis des Unbewussten
im Seelenleben.8
Diese Passagen bieten bereits ein erstes Zeugnis dafür, dass
es sich bei der Via Regia um eine Via Platonica handelt. Darüber hinaus geht aus der Lektüre des Staates, und insbesondere
aus der Darstellung des degenerativen, zum Wahn des Tyrannen
führenden Prozesses hervor, wie Platon stets auf die in negativer
Hinsicht entscheidende Rolle der Wunschunterdrückung im Rahmen innerpsychischer Konflikte zurückkommt. Im Achten Buch
wird beispielsweise der vom oligarchischen zum demokratischen
Menschen führende Prozess folgendermaßen beschrieben:
Und wenn nun die oligarchische Seite in ihm wiederum Gegenhilfe erhält,
vielleicht vonseiten des Vaters oder der anderen Angehörigen, die ihn mahnen und tadeln, da kommt es dann vermutlich zu einem Wechselspiel der
Parteiungen, und er gerät in Streit mit sich selbst. – Unvermeidlich. – Und
das eine Mal unterliegt vermutlich die demokratische Sinnesrichtung
der oligarchischen, einige der dahingehörigen Wünsche werden abgetötet, andere werden ausgetrieben, wenn sich in der Seele des Jünglings ein
gewisses Schamgefühl regt, und so findet er sich wieder zurecht. – Ja, das
kommt wohl vor. – Dann aber keimen wieder andere, den ausgetriebenen
7
8
22
S. Freud, Traumdeutung, zit., S. 613 [erste Auflage, zit., S. 362]. Das
lateinische Motto zu seiner Traumdeutung hat Freud aus Vergils Aeneis
(VII, V. 312) entlehnt. Es handelt sich um die Worte der Juno angesichts
des verheerenden Ausgangs des trojanischen Krieges. Dt.: »Beug’ ich die
Himmlischen nicht, so beschwör’ ich Acherons Mächte.« Vergil, Aeneis,
Lateinisch-Deutsch, eingel. u. übertr. von A. Vezin, Aschendorff, Münster
2006, S. 347.
S. Freud, Traumdeutung, zit., S. 613.
verwandte Wünsche auf, mehren sich und erstarken, weil sein Vater von
der Erziehung nichts versteht. – Ja, so pflegt es wohl zu gehen. – Sie ziehen
ihn also wieder zu den alten Bekannten hin und erzeugen im heimlichen
Umgang mit diesen eine reiche Nachkommenschaft. – Gewiss. – Und
schließlich bemächtigen sie sich, wie ich glaube, der Burg in der Seele des
Jünglings, wenn sie merken, dass ihr die richtigen Verteidiger fehlen, nämlich gute Kenntnisse, edle Bestrebungen und vernunftgemäße Grundsätze,
die ja doch die besten Hüter und Wächter sind in der Gedankenwelt gottgeliebter Männer (559e-560 a).
Die Vorherrschaft des Eros im Tyrannen, der sich im Wachzustand ebenso verhält wie im Traum, steht also für die letzte Phase
eines degenerativen Prozesses, in welchem die das Subjekt verletzenden Wünsche ursprünglich »unterdrückt« und »verbannt«
werden, und nicht, wie bei der Darstellung des Oligarchen erläutert, »umgestimmt« und »beruhigt« (554d). Diese Verbannung
erlaubt es ihnen, in einem durch die onirische Manifestation
bezeugten, dunklen innerpsychischen Bereich zu gedeihen und
bisweilen zur Eroberung der Akropolis der Seele zu gelangen, die
inzwischen nicht mehr von Hütern und Wächtern bewacht wird.
Im Anschluss an die Eroberung bewirken sie schließlich einen
buchstäblich psychopathologischen Zustand, und der tyrannische Mensch, »den seine Wünsche und Leidenschaften ganz toll
machen« (578a) wird zugleich zum »Melancholiker« (573c).
Unter diesen Voraussetzungen erweist sich die Nähe zu den
eigentlichen Kerngedanken von Freuds psychoanalytischem
Gebäude als noch zwingender. Man ziehe beispielsweise die eindrucksvolle Passage heran, wo Freud in der ersten Ausgabe der
Traumdeutung den von den unbewussten Wünschen hinsichtlich
des Traumes und der Psychosen ausgeübten Druck beschreibt und
sich dabei der Metapher einer durch einen Wächter bewachten
Festung bedient:
Die unbewussten Wunschregungen streben offenbar auch bei Tag sich geltend zu machen, und die Tatsache der Übertragung sowie die Psychosen
belehren uns, dass sie auf dem Wege durch das System des Vorbewussten zum Bewussten und zur Beherrschung der Motilität durchdringen
möchten. In der Zensur zwischen Ubw und Vbw, deren Annahme uns
der Traum geradezu aufnötigt, haben wir also den Wächter unserer geistigen Gesundheit zu erkennen und zu ehren. Ist es nun nicht eine Unvorsichtigkeit des Wächters, dass er zur Nachtzeit seine Tätigkeit verringert,
23
die unterdrückten Regungen des Ubw zum Ausdruck kommen lässt, die
halluzinatorische Regression wieder ermöglicht? Ich denke nicht, denn
wenn sich der kritische Wächter zur Ruhe begibt, – wir haben die Beweise
dafür, dass er doch nicht tief schlummert – so schließt er auch das Tor zur
Motilität. Welche Regungen aus dem sonst gehemmten Ubw sich auch
auf dem Schauplatz tummeln mögen, man kann sie gewähren lassen, sie
bleiben harmlos, weil sie nicht imstande sind, den motorischen Apparat in
Bewegung zu setzen, welcher allein die Außenwelt verändernd beeinflussen kann. Der Schlafzustand garantiert die Sicherheit der zu bewachenden
Festung. Minder harmlos gestaltet es sich, wenn die Kräfteverschiebung
nicht durch den nächtlichen Nachlass im Kräfteaufwand der kritischen
Zensur, sondern durch pathologische Schwächung derselben oder durch
pathologische Verstärkung der unbewussten Erregungen hergestellt wird,
so lange das Vorbewusste besetzt und die Tore zur Motilität offen sind.
Dann wird der Wächter überwältigt, die unbewussten Erregungen unterwerfen sich das Vbw, beherrschen von ihm aus unser Reden und Handeln,
oder erzwingen sich die halluzinatorische Regression und lenken den nicht
für sie bestimmten Apparat vermöge der Anziehung, welche die Wahrnehmungen auf die Verteilung unserer psychischen Energie ausüben. Diesen
Zustand heißen wir Psychose.9
Kurz, ebenso wie sich bei Platon diejenigen unterdrückten
Wünsche, die gemeinhin im Traum auftreten, hinter dem Rücken
des Bewusstseins stärken und schließlich zur Eroberung der
Akropolis der Psyche gelangen, wobei sie zu Manie und Melancholie führen, können die gemeinhin im Traum auftretenden verdrängten Wünsche bei Freud die psychische Festung erobern und
zur Psychose führen. Die von Platon skizzierte systematische Korrelation des Traums mit dem Wahnsinn geht also nicht nur weit
über das von Freud zitierte, gutmütige und mithin naive »Wort«
hinaus, sondern auch über jene Verbindung, die er 1905 zwischen der Tollheit der römischen Cäsaren (und sinngemäß auch
der griechischen Tyrannen), den hysterischen Phantasien und den
Nachtträumen zieht:
[...], dass die unbewussten Phantasien der Hysteriker den bewusst durchgeführten Befriedigungssituationen der Perversen inhaltlich völlig entsprechen, und wenn man um Beispiele solcher Art verlegen ist, braucht man
sich nur an die welthistorischen Veranstaltungen der römischen Cäsaren zu
erinnern, deren Tollheit natürlich nur durch die uneingeschränkte Macht-
9
24
S. Freud, Traumdeutung, zit., S. 573 [erste Auflage, zit., S. 334].
fülle der Phantasiebildner bedingt ist. Die Wahnbildungen der Paranoiker
sind ebensolche, aber unmittelbar bewusst gewordene Phantasien […].10
Ausgehend von dieser Reihe punktueller und überaus prägnanter Analogien, deren theoretische Haltbarkeit den zentralen
Punkt dieser Arbeit ausmachen wird, und durch den Verweis auf
das Neunte Buch in der ersten Auflage der Traumdeutung, drängt
sich unverzüglich die Frage nach der Plausibilität der Annahme
auf, dass Freud die Tragweite der platonischen Auffassung
zunächst erkannte, dann aber die antike Prägung der Via Regia
verschwiegen hat, indem er Platons Wort zwar in Erinnerung
rief, jedoch zugleich die entscheidende Bedeutung des Staates
marginalisierte. Sollte man dem entgegen vielleicht annehmen,
dass Freud selbst, im Rahmen seiner langjährigen Studien zur
Hysterie, zur Hypnose und zum Unbewussten11 aufgrund seiner
Kenntnis des Staates eine eigene Intuition der Via Regia gehabt
haben mag? Diese Annahme lässt die These außer Acht, wonach
alle Träume Wunscherfüllungen sind, berücksichtigt aber den
zentralen Gedanken, dass die Traumanalyse den Königsweg zur
Bestimmung derjenigen Wünsche darstellt, die zuvor unterdrückt
waren und sich der Aufmerksamkeit des sogenannten Bewusstseins entziehen, um schließlich zu einer meist unsichtbaren Sphäre
der Seele vorzudringen. Außerdem beachtet sie die Tatsache, dass
eben dieser Weg zugleich den Zugang zur Untersuchung besonderer psychopathologischer Umstände eröffnet. Die Plausibilität dieser Annahme verhält sich jedenfalls unmittelbar proportional zu
10
11
S. Freud, Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität,
GW, Bd. 7, S. 191.
Auch hierzu besteht eine ausufernde Sekundärliteratur, weshalb ich mit
der Nennung des ersten relevanten Standardwerks beginne: H. F. Ellenberger, The Discovery of the Unconscious. The History and Evolution of
Dynamic Psychiatry, Basic Books, New York 1970, dt. Übers. Die Entdeckung des Unbewussten, Huber, Bern 1973. Weitere gelungene Arbeiten
folgten, darunter: A. Mayer, Mikroskopie der Psyche. Die Anfänge der
Psychoanalyse im Hypnose-Labor, Wallstein, Göttingen 2002; S. Goldmann, Via Regia zum Unbewussten. Freud und die Traumforschung im
19. Jahrhundert, Psychosozial-Verlag, Gießen 2003; A. Nicholls, M. Liebscher (Hrgg.), Thinking the Unconscious. Nineteenth-Century German
Thought, Cambridge University Press, Cambridge 2010.
25
der Möglichkeit, Beweise zu finden, die für eine gewisse Vertrautheit des jungen Freud mit dem platonischen Hauptwerk sprechen.
Tatsächlich existieren solche Beweise und es wird zu zeigen sein,
dass es mindestens drei Quellen gibt, die unzweideutig belegen,
dass Freud in einem bestimmten Zeitraum, der mit Sicherheit vor
Erscheinen der Traumdeutung lag, Gelegenheit hatte, einen Teil
der entscheidenden Stelle aus dem Neunten Buch zu lesen, wahrscheinlich auch die betreffende Stelle insgesamt, jedenfalls aber
eine inhaltliche Zusammenfassung derselben.
Erstens hat Freud Paul Wilhelm Radestocks Dissertation
Schlaf und Traum gelesen und bereits in der ersten Auflage seiner
Traumdeutung umfangreich aus dem 1879 in Leipzig erschienenen Werk des Schülers von Wilhelm Wundt zitiert.12 Dort schreibt
Radestock – der neben dem Staat zahlreiche Stellen aus weiteren
platonischen Dialogen aufgreift und kommentiert, insbesondere
aus Phaidros, Apologie, Timaios, Philebos und Phaidon – bei
der Erörterung des Verhältnisses von Reizen und erotischen und
moralischen Träumen, in einer ausführlichen Anmerkung:
Hier bewahrheitet sich das alte Wort, dass die Guten sich nur im Traume
erlauben, was die Schlechten im Wachen thun. Es ist, als ob sich die Natur
entschädigen wollte, indem sie dem Geiste die üppigen Bilder vorzaubert,
welche das sittliche Bewusstsein und die strenge Arbeit des Wachens verbannte […].13
Also ganz genau jenes »Wort«, das Freud aufgreifen und in
seinen Text aufnehmen sollte. Bei Radestock ist die Stelle mit
12
13
26
P. W. Radestock, Schlaf und Traum. Eine physiologisch-psychologische
Untersuchung, Breitkopf und Härtel, Leipzig 1879. Zur Verwertung von
Radestocks Text in der Traumdeutung vgl. auch J. K. Davies, G. Fichtner
(Hrg.), Freud’s Library. A Comprehensive Catalogue / Freuds Bibliothek.
Vollständiger Katalog, The Freud Museum, London / edition diskord,
Tübingen, 2006, S. 33, 108; S. Goldmann, Via Regia zum Unbewussten,
zit., S. 91-99, 141 ff., 145-160, sowie S. 228-231; vgl. auch: Ders. (Hrg.),
Traumarbeit von Freud. Quellentexte zur Traumpsychologie im späten
19. Jahrhundert, Psychosozial-Verlag, Gießen 2005, S. 22 ff.; Y. Oudai
Celso, Freud e la filosofia antica, Bollati Boringhieri, Torino 2006, insbes.
S. 41 ff.
Vgl. P. W. Radestock, Schlaf und Traum, zit., S. 297, Anm. 190.
einer ausführlichen Anmerkung versehen. Darin führt er zunächst
die drei berühmten Verse zum inzestuösen Traum aus König Ödipus auf (sie stehen wortgetreu auch in der Traumdeutung), um
dann auf »Plato republ. IX, S. 571« zu verweisen. Im griechischen Wortlaut zitiert er schließlich einen Satz aus dem Neunten
Buch des Staates (571d), der Freud sicherlich geläufig war: »Denn
er bedenkt sich keinen Augenblick, der eigenen Mutter, wie er
wähnt, beizuwohnen oder irgend welchem anderen Wesen, sei es
Mensch, Gott oder Tier, und jede Blutschuld auf sich zu laden
und jeder Speise zuzusprechen«.14
Zweitens, während bei Radestock lediglich diese Stelle aus
dem Neunten Buch zitiert wird, findet sich bei Cicero im Ersten
Buch von De divinatione (I, 29, 60-61)15 die gesamte Passage
wortgetreu überliefert, von der einleitenden Bemerkung, in der
erläutert wird, dass es sich um unterdrückte Wünsche handelt,
über den Ödipus-Traum, bis zu den von Platon vorgeschlagenen
Abwehrmodalitäten. Hierbei handelt es sich um einen kanonischen Text, aus dem Freud explizit bereits auf den Anfangsseiten
der ersten Auflage der Traumdeutung zitiert.16 Es lässt sich also
kaum in Zweifel ziehen, dass er ausführlich in diesem Werk gelesen hat; demnach hat Freud aller Wahrscheinlichkeit nach Gelegenheit gehabt, sich ausführlich mit der Schlüsselstelle aus dem
Neunten Buch zu beschäftigen.
14
15
16
Ebd.; kurz darauf schreibt Radestock außerdem: »Plato sagt zwar, dass
nur bei sinnlichen Naturen die wildesten Begierden hier ungezügelt walten, aber auch die alten Kirchenväter klagen wiederholt über die Unheiligkeit ihrer Träume«. Dem entspricht der im Text der Studie auf S. 163
ausgeführte Gedanke wonach Aristoteles der »Meinung Plato’s« gefolgt
sei, »dass ein Vollkommener nie etwas Unreines träumen würde. Je reiner
das Leben, desto reiner sei der Traum, je unreiner jenes, desto unreiner
dieser«. Siehe auch die beiden Verweise ebd., S. 39 u. 186, sowie Anmerkungen zur Erreichung der »Erkenntnis« im Schlaf in Staat, 571d-572a.
M. T. Cicero, Über die Wahrsagung: De Divinatione, Lateinisch-Deutsch,
übers. u. hrg. von C. Schäublin, Artemis&Winkler, München 1991, S. 67.
Im Anschluss an die aus dem Staat übernommene Stelle schreibt Cicero
ehrfurchtsvoll: »Ich habe hier Platons eigene Worte wiedergegeben«.
Vgl. S. Freud, Die Traumdeutung, zit., S. 9 [erste Auflage, zit., S. 5].
27
Drittens findet sich auch bei Bernhard Büchsenschütz, in
seiner pointiert gefassten Studie Traum und Traumdeutung im
Alterthume, die Freud seit der ersten Auflage der Traumdeutung
stets zugrunde gelegt hat, auf etwa zwei Seiten eine kurze Zusammenfassung der platonischen Auffassung. Unter anderem heißt es
dort:
Platon hat, indem er freilich den Gegenstand nur beiläufig behandelt, die
Natur der Träume in Uebereinstimmung mit seiner Psychologie erörtert,
hauptsächlich nach der Seite, dass er die Verschiedenheit der Träume durch
das verschiedene Verhalten der drei Haupttheile der Seele zu begründen
sucht. Wenn nämlich, sagt er (Republ. IX S. 571c), der vernünftige, denkende Theil der Seele (tò logistikón) schläft, der thierische aber (tò theriôdés te kai ágrion) mit Speise und Trank angefüllt sich heftig bewegt, den
Schlaf von sich abwehrt und seinen Gewohnheiten Genüge zu thun sucht,
so entstehen die wüsten, unverständigen und schamlosen Träume.17
Büchsenschütz setzt daraufhin die Zusammenfassung der von
Platon empfohlenen Abwehrmodalitäten fort, wobei er sich nicht
zuletzt auf die Tatsache beruft, dass Träume auch zur Erkenntnis
der Wahrheit führen können:
Es geht daraus hervor, dass die Träume jeder Art nichts anderes als selbständige Seelenthätigkeiten sind, die denselben Gesetzen folgen, wie die
im Wachen geübten, dass also auch im Traume die Seele um so mehr zur
Erkenntniss des Wahren befähigt ist, je mehr die Thätigkeit ihrer körperlichen Elemente zurückgedrängt ist […].18
Mittels dieser Beweise19 wird unsere Argumentation noch
zwingender, zumal wenn man Freuds wiederholte Begegnungen
17
18
19
28
B. Büchsenschütz, Traum und Traumdeutung im Alterthume, S. Calvary
& Comp., Berlin 1868, S. 16 f.
Ebd., S. 17.
Eine Zusammenfassung der Stelle im Neunten Buch bietet ferner auch,
schon zu Anfang des Buches, Emil Richard Pfaff, Das Traumleben und
seine Deutung nach den Principien der Araber, Persier, Griechen, Inder
und Aegyptier, Denicke, Leipzig 1868, S. 16-17. Auch dieser Band wird
seit der ersten Auflage der Traumdeutung zitiert, wobei die einzige aus
Pfaffs Abhandlung übernommene Stelle, auf S. 36, indirekt zitiert wurde,
nämlich nach H. Spitta, Die Schlaf und Traumzustände, Fues, Tübingen
1882.
mit dem platonischen Denken – und insbesondere mit dem Staat
– bedenkt, die vor der Abfassung der Traumdeutung lagen, und
diese vor dem Hintergrund seines regen Interesses für antike
Autoren sieht. Freuds besonderes Interesse für die Antike hat die
Sekundärliteratur des vergangenen Jahrzehnts in einer Reihe von
Einzelstudien untermauert, in denen vor allem seine Auseinandersetzung mit Aristoteles, Sophokles und Artemidoros erörtert
wird.20 Diesem Forschungszweig kommt das Verdienst zu, in der
Person des Philologen Theodor Gomperz eine Schlüsselfigur für
Freuds intellektuelle Entwicklung ausgemacht zu haben.
Die Beeinflussung durch den angesehenen Wiener Gelehrten
und dessen Umkreis gestaltete sich für Freud in verschiedener
Weise als äußerst prägend. Man bedenke nur, dass Gomperz, dessen Hausarzt Joseph Breuer war, mit dem Altertumswissenschaftler Jacob Bernays in Verbindung stand, dem Onkel von Freuds
Ehefrau Martha Bernays, und dass sich beide ferner darüber einig
waren, eine Deutung der aristotelischen Katharsistheorie vorzuschlagen, die sich – wie verschiedentlich gezeigt werden konnte –
auf die von Breuer und Freud entwickelte Therapiemethode ausgewirkt hat.21 Zudem hat Freud seine Hypnose-Methode an Elise
20
21
Siehe bspw. P. Traverso, Psyche ist ein griechisches Wort… Rezeption und
Wirkung der Antike im Werk von Sigmund Freud, Suhrkamp, Frankfurt/
M 2003 (Originalausgabe Psiche è una parola greca…, Compagnia dei librai, Genova 2000); J. Le Rider, Freud – von der Akropolis zum Sinai. Die
Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne, Passagen, Wien 2004
(Freud, de l’Acropole au Sinaï. Le retour à l’Antique des Modernes viennois, Presses Universitaire de France, Paris 2002); Y. Oudai Celso, Freud
e la filosofia antica, Boringhieri, Torino 2006; E. Düsing u. H.-D. Klein
(Hrgg.), Geist und Psyche. Klassische Modelle von Platon bis Freud und
Damasio, Königshausen und Neumann, Würzburg 2008; C. Benthien, H.
Böhme u. I. Stephan (Hrgg.), Freud und die Antike, Wallstein, Göttingen
2011. Sarah Kofman hat explizit auf die Möglichkeit einer Beeinflussung
Freuds durch den Staat hingewiesen, und zwar in ihrem skizzenhaft formulierten Artikel von 1988, später überarbeitet in Dies., Miroir et mirages
oniriques: Platon, précurseur de Freud”, in Dies., Séductions. De Sartre à
Héraclite, Galilée, Paris 1990.
Siehe bspw. A. Hirschmüller, Physiologie und Psychoanalyse in Leben und
Werk Josef Breuers, Huber, Tübingen 1978, insbes. S. 206 ff., sowie ferner
den ersten Teil der neueren Arbeit von M. Vöhler u. D. Linck, Grenzen der
29
Gomperz, der Ehefrau des Platonforschers erprobt, die er beinahe
zehn Jahre lang behandelt hat;22 und 1899 erteilte er ferner für
kurze Zeit auch dem Sohn Heinrich Gomperz Unterricht in Fragen der Traumdeutung, als dieser Student der Philosophie war.23
Bei der Frage des Traumes in der Antike ist jedoch vor allem in
Betracht zu ziehen, dass es mit dem jungen Gelehrten Friedrich
Salomon Krauss ein Schüler von Karl Schenkl und von Gomperz
selbst war, der 1881 eine Neufassung von Artemidoros’ Symbolik
der Träume übersetzte und herausgab.24 Seine Übersetzung wurde
umgehend von Gomperz rezensiert25 und daraufhin von Freud,
bereits in der ersten Auflage der Traumdeutung, zitiert. Im Übrigen hatte sich Gomperz selbst seit 1866 explizit dem Thema des
Traumes in der Antike zugewandt, als sein Bändchen Traumdeutung und Zauberei erschienen war, in dem vor allem Artemidoros
thematisiert wird.26 Nach Erhalt einer Publikation des Gelehrten
schrieb Freud 1913 in einem Dankesbrief an Elise Gomperz:
Das Heftchen mit der Handschrift Ihres unvergessenen Mannes hat mich
an die so weit hinter uns liegende Zeit erinnert, da ich jung zaghaft zuerst
mit einem der Großen im Reiche der Denkarbeit einige Worte wechseln
durfte. Bald darauf hörte ich zuerst von ihm Bemerkungen über die Rolle
22
23
24
25
26
30
Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen
Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, de Gruyter, Berlin – New York
2009.
Vgl. zu dem Thema L. Z. Vogel, The Case of Elise Gomperz, »American
Journal of Psychoanalysis«, 46/3, 1986, S. 230-238; M. Scheidhauer, La
période fondamentale de la psychanalyse: un cas exemplaire, Elise Gomperz, in P. Fédida, D. Widlöcher, Actualité des modèles freudiens: langage,
image, pensée, Paris, Puf, 1995, S. 159 ff.
Vgl. die Briefe an Fließ vom 19. und 26. November 1899, in S. Freud,
Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, zit., S. 424-428.
Artemidoros aus Daldi, Symbolik der Träume, übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Friedrich S. Krauss, A. Hartleben’s Verlag, WienPest-Leipzig 1881; vgl. ebd. die an Th. Gomperz gerichtete Danksagung,
S. 293.
Th. Gomperz, Rezension zu Artemidoros aus Daldi, Symbolik der Träume, A. Hartleben’s Verlag, Wien-Pest-Leipzig 1881, »Zeitschrift für die
österreichischen Gymnasien«, 32, 1881, S. 501-513.
Th. Gomperz, Traumdeutung und Zauberei, Gerold, Wien 1866.
des Traumes im Seelenleben der Urmenschen, Dinge, die mich seither so
intensiv beschäftigt haben.27
Sicherlich spielten Gomperz und sein Umkreis im Kontext
von Freuds ausgeprägtem Antikeninteresse im Zeitraum vor der
Abfassung seiner Traumdeutung eine wesentliche Rolle. Den
Traum betreffend scheint von dieser Richtung hauptsächlich eine
gewisse Beeinflussung bezüglich Aristoteles und Artemidoros
ausgegangen zu sein, jedoch nicht bezüglich des Staates, auf den
Gomperz bei seinen wiederholten Untersuchungen und Erörterungen zum Traum in der Antike nicht eingeht. Nicht einmal als
er 1902, nachdem er die erste Auflage der Traumdeutung bereits
gelesen hatte, den zweiten Band der Griechischen Denker veröffentlichte, in welchem der Staat ausführlich, nämlich in Form
einer kommentierten Inhaltsangabe aller zehn Bücher behandelt
wird, gab er in seiner Erläuterung des Neunten Buches irgendeinen Hinweis auf die Thematisierung des Traumes.28 Nicht zuletzt
auch aus diesem Grund nimmt Platons Hauptwerk bis in unsere
Zeit praktisch dieselbe historiographische Rolle ein, die ihm in
der Traumdeutung zugeschrieben wurde, nämlich diejenige eines
Phantoms.
Und doch war es vor allem dem namhaften Philologen zu verdanken, dass Freud – nach Ablauf eines mehrjährigen Zeitraums
seit seinen Gymnasiallektüren der Apologie des Sokrates und des
Kriton29 – wieder mit den Werken Platons in Berührung kam,
und zwar gerade auch mit dem Staat. Im Auftrag des Philologen
übersetzte er im Sommer 1879, anstelle des ursprünglich vor-
27
28
29
Brief an Elise Gomperz vom 12. November 1913, in S. Freud, Briefe 18731939, ausgew. und hrg. von E. und L. Freud, S. Fischer, Frankfurt/M 1960,
S. 316.
Vgl. Th. Gomperz, Griechische Denker. Eine Geschichte der Antiken Philosophie, Verlag von Veit & Comp., Leipzig 1902, Zweiter Band, S. 396400.
Vgl. W. W. Hemecker, Vor Freud. Philosophiegeschichtliche Vorausssetzungen der Psychoanalyse, Philosophia Verlag, München-Hamden-Wien
1991, S. 40 u. Fn. 140, mit Verweis auf den Neunten Jahresbericht des
Leopoldstädter Communal-, Real- und Obergymnasiums in Wien, 1873,
Schularchiv des Rainer-Gymnasium in Wien.
31
gesehenen Übersetzers Eduard Wessel und auf Empfehlung von
Franz Brentano,30 einen rund siebzig Seiten langen Aufsatz von
John Stuart Mill, bei dem es sich um einen ausführlichen Rezensionstext zu einer Platonstudie von George Grote handelte.31 Der
Aufsatz bietet eine kritische Überblicksdarstellung von Platons
ethischem und moralischem Denken, in welcher der Staat ausführlich thematisiert wird. Unter den zahlreichen erörterten Themen – darunter die sokratischen Lehren des Nichtwissens und
der Anamnesis, die Freud später bezüglich der Neurose wieder
aufgegriffen hat32 – wird in einer ausgedehnten Passage auch die
Entartung des Tyrannen aufgerufen, jedoch nicht hinsichtlich der
Traumthematik. Unter anderem ist darin der folgende Gedankengang enthalten:
30
31
32
32
Auch wenn Freud dies später anderweitig geschildert hat, hatte er bei Brentano an einer Lehrveranstaltung über Mill teilgenommen, wie aus dem
Brief vom 22./23. Oktober 1874 an Silberstein hervorgeht, vgl. S. Freud,
Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871-1881, Hrg. von W. Boenlich, Fischer, 1989, S. 78: »Unsere Kollegien gehen so ziemlich auseinander, bloß
in der Zoologie und in Brentano’s Vorlesungen treffen wir alle zusammen.
Brentano liest zwei Kollegien, Mittwoch und Samstag abends ausgewählte
metaphysische Fragen und Freitag abends eine Schrift von Mill über das
Nützlichkeitsprinzip [Utilitarism, 1863], die wir regelmäßig besuchen. Bei
Brentano erinnere ich mich, dass Du die Absicht hattest, den Fechner zu
hören, und ersuche Dich, mir zu schreiben, was und wie er vorträgt«;
Freud arbeitete vor allem im August 1879 an der Übersetzung, wie ein
weiterer Brief an Silberstein vom 10. August 1879 dokumentiert, siehe S.
Freud, Jugendbriefe an E. Silberstein, zit., S. 200.
J. S. Mill, review of Platon and the other Companions of Socrates by
George Grote, in »Edinburgh Review«, April 1866, Bd. CXXIII, n. CCLII,
S. 297-364.
Vgl. J. S. Mill, Gesammelte Werke, Bd. 12, Über Frauenemancipation.
Plato. Die Arbeiterfrage. Der Sozialismus, übersetzt von S. Freud, Fues,
Leipzig 1880, S. 64 ff. [englische Originalausgabe: S. 326 ff.]; S. Freud,
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW, Bd. 11, S. 290.
Vgl. zu dem Sachverhalt auch E. Jones, Leben und Werk von Sigmund
Freud, Bd. I: 1856-1900, Huber, Bern 1960, S. 79: »Freud gestand viele
Jahre später (1933), seine Kenntnisse von Platos Philosophie seien sehr
fragmentarisch. Vielleicht stammte das wenige, das er wusste, aus jenem
Aufsatz. Er fügte jedoch hinzu, Platos Theorie der Erinnerung, die Mill im
zustimmenden Sinn behandelt, habe ihm großen Eindruck gemacht, und er
habe lange über sie nachgedacht«.
Mitten in jener Vereinigung philosophischen Tiefsinns mit hohem rednerischen Schwunge und poetischer Bilderpracht, welche die letzten Bücher
der Republik auszeichnet, findet sich eine ergreifende Schilderung der
Art und Weise, wie die Gesellschaft durch ihre Versuchungen und ihre
am unrechten Orte angebrachten Aeußerungen des Beifalls und der Verdammniß diese ursprünglich edel-gearteten Naturen verdirbt; und das
Gemälde des zu voller Entfaltung gelangten, Göttern und Menschen gleich
verhaßten Gewaltherrschers auf dem Gipfel seiner Schuld, in der Tiefe seines innerlichen Elends, und in der Erwartung jener Vergeltung, die ihn
gemeiniglich noch in diesem Leben, sicherlich aber in einer künftigen Welt
ereilt, gehört zu den bekanntesten und erschütterndsten Stellen in Plato’s
Werken.33
Mills Aufsatz nimmt außerdem verschiedentlich Bezug auf die
Psychologie des Staates, und bietet unter anderem eine zusammenfassende Darstellung der Dreiteilung der Seele, die Freud wie
folgt übersetzt hat:
Der menschliche Geist wird dort in die berühmten drei Elemente zerlegt:
das vernünftige, das muthartige oder leidenschaftliche (tò thymoeidés)
– wieder einer jener verfänglichen gemischten Modi – und das begehrliche.
Der gerechte Geist ist derjenige, in welchem jedes dieser drei Elemente
seinen gebührenden Platz einnimmt; in welchem die Vernunft herrscht,
die Leidenschaft sich zur Helferin und zum Werkzeug der Vernunft macht,
und beide vereinigt die Begierde in einem Zustande gutwilliger Unterwerfung erhalten.34
33
34
Vgl. J. S. Mill, Gesammelte Werke, Bd. 12, zit., S. 106-107 [englische
Originalausgabe: S. 361: »In that combination of profound philosophy
with sublime eloquence and rich poetic imagination which composes the
later books of the Republic, there is a moving picture of the mode in which
society, by its temptations and its wrongly-placed applauses and condemnations, corrupts these originally fine natures: and the portraiture of the
full-blown Tyrannus, in the consummation of his guilt, his hatefulness to
gods and men, the depth of his inward misery, and the retribution that
awaits him, generally in this life, but certainly in a world to come, is one
of the best known and most impressive passages in Plato.”].
J. S. Mill, Gesammelte Werke, Bd. 12, zit., S. 83 [englische Originalausgabe: S. 341: »In the Republic […] the human mind is analysed into the
celebrated three elements, Reason, Spirit or Passion (tò thymoeidés, another troublesome Mixed Mode) and Appetite. The just mind is that in
which each of the three keeps its proper place; in which Reason governs,
Passion makes itself the aid and instrument of Reason, and the two combined keep Appetite in a state of willing subjection.”].
33
Darüber hinaus ist die Sekundärliteratur zu Recht dem
Einfluss aus den von Brentano abgehaltenen philosophischen
Lehrveranstaltungen nachgegangen, die Freud von 1873 bis
1876 regelmäßig besuchte,35 und zwar vor allem hinsichtlich
der Thematisierung des Unbewussten und der aristotelischen
Lehren. Jedoch wurde bislang die Tatsache vernachlässigt, dass
in Brentanos 1874 erschienenem Hauptwerk, Psychologie vom
empirischen Standpunkte,36 vielfache Verweise auf Platon und auf
die Psychologie des Staates enthalten sind. Während bereits ab
dem zweiten Kapitel der Isomorphismus psyché-pólis behandelt
wird,37 ist dem großen Dialog ein eigenes Unterkapitel gewidmet
– mit dem Titel Platon’s Unterscheidung eines begierlichen, zornmüthigen und vernünftigen Seelentheiles – worin gerade die Zentralität der innerpsychischen Konflikte in Bezug auf Triebe und
Seelenteile unterstrichen wird:
Er fand in dem Menschen einen Kampf von Gegensätzen; einmal zwischen
den Forderungen der Vernunft und den sinnlichen Trieben; dann aber auch
zwischen den sinnlichen Trieben selbst; und hier schien ihm der Gegensatz
von heftig aufbrausender Leidenschaft, die dem Schmerz und Tod entge-
35
36
37
34
Vgl. zu den Lehrveranstaltungen den ausführlichen Essay von M. Schellenbacher, Freud und Brentano, »e-journal Philosophie der Psychologie«,
März 2011, S. 1-7.
F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, in zwei Bänden,
Verlag von Duncker & Humblot, Leipzig 1874.
Ebd., Capitel 2, § 7, S. 53: »Schon Platon hoffte, auf den Staat und die
Gesellschaft hinblickend in großen Zügen das geschrieben zu finden, was
die Seele des Einzelnen in kleinerer Schrift in sich enthielt. Er glaubte,
daß seine drei Seelengebiete den drei wesentlichen Classen im Staate, dem
Nährstande, dem Wehrstande und dem Stande der Herrscher entsprächen,
und fand eine weitere Bestätigung für sie in dem Vergleiche der Grundzüge
der verschiedenen Völkergruppen, der Ägypter und Phönizier, der tapferen
nordischen Barbaren und der bildungsliebenden Hellenen. [...]. Freilich,
wenn die Betrachtung der Phänomene der menschlichen Gesellschaft auf
die psychischen Phänomene des einzelnen Licht wirft, so ist doch auch
das Umgekehrte, und wohl in reicherem Maße, der Fall, und es wird im
Allgemeinen der naturgemässere Weg sein, wenn man aus dem was man
beim Einzelnen gefunden für das Verständnis der Gesellschaft und ihrer
Entwickelung, als wenn man umgekehrt aus der Betrachtung dieser für die
Probleme der individuellen Psychologie Aufschlüsse zu gewinnen sucht«.
genstürmt, und weichlichem Hang zum Genusse, der vor jedem Schmerze
sich zurückzieht, besonders auffallend und nicht minder gross als der
Gegensatz zwischen vernünftigem und unvernünftigem Verlangen selbst.38
Setzt man also einerseits eine gewisse Vertrautheit mit dem
platonischen Denken seit der Gymnasialzeit voraus, sowie wahrscheinlich seit der Studienzeit und ganz gewiss seit 1879 die
Kenntnis von Grundzügen der psychologischen Theorie des Staates, berücksichtigt andererseits auch das Interesse für die antike
Geistesgeschichte und die darin vorkommende Thematisierung
des Traumes, und nimmt schließlich für die Zeit vor Veröffentlichung der Traumdeutung die weitgehend gesicherte vollständige Kenntnis der Schlüsselstelle aus dem Neunten Buch an, so
erscheint die Vermutung plausibel, dass Freud seinen Königsweg
dank Platon ermitteln konnte, oder dass er ihn zunächst selbst
intuitiv erahnt und letztlich seine Rückbindung an die Antike verschwiegen hat.
Wie aber lässt sich – geht man davon aus, dass sich Freud der
Tragweite des Neunten Buches bewusst war – die Tatsache erklären, dass er nur eine einzige Wendung daraus zitiert hat? Übrigens
eine Wendung, die er nach mehreren Jahren wieder aufgegriffen
hat. Mit derselben Nüchternheit fügte er sie 1914 in das erste
Kapitel der vierten Auflage der Traumdeutung ein, und ein weiteres Mal 1916 in die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.39 Man könnte auch so weit gehen zu behaupten, er habe
das absolute wissenschaftliche, historische und genealogische Primat der Entdeckung für sich in Anspruch nehmen wollen, indem
38
39
Vgl. ebd., Inhaltsverzeichnis, S. XII: »Fünftes Capitel, § 1. Platon’s Unterscheidung eines begierlichen, zornmüthigen und vernünftigen Seelentheiles«, ausgeführt auf S. 233-236, u. a. unterstreicht Brentano den konfliktträchtigen Charakter der innerpsychischen Kräfte, S. 234.
Vgl. S. Freud, Die Traumdeutung, GW, Bd. 2/3, S. 70: »Im Gegensatz
hiezu meint Plato, diejenigen seien die besten, denen das, was andere wachend tun, nur im Traume einfalle«; S. Freud, Vorlesungen zur Einführung
in die Psychoanalyse, GW, Bd. 11, S. 147: »Was tut die Psychoanalyse hier
anders als das alte Wort von Plato bestätigen, dass die Guten diejenigen
sind, welche sich begnügen, von dem zu träumen, was die anderen, die
Bösen wirklich tun?«.
35
er den Staat auf eine einzelne Wendung beschränkte und den Dialog dadurch neutralisierte; oder aber, dass er unter bestimmten
Umständen, nach Übernahme der platonischen Intuition der Via
Regia, deren Herkunft schlichtweg vergaß. Freuds ausgeprägter
Widerwille beim Offenlegen seiner Quellen ist ganz unzweifelhaft
belegt. Ein vielsagendes Zeugnis aus seiner Feder bietet hierfür
folgender Brief von 1885 an die Verlobte, in dem er halb ernst
halb scherzhaft berichtete: »Ich habe alle meine Aufzeichnungen
seit vierzehn Jahren und Briefe, wissenschaftliche Exzerpte und
Manuskripte meiner Arbeit vernichtet. […]. Die Biographen aber
sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen«.40
Diese Form des Widerwillens war von einem ausgeprägten Ehrgeiz begleitet, der ihn oftmals dazu führte, die Beiträge anderer
Autoren unbeachtet zu lassen. Geht man beispielsweise davon
aus, dass Freud die Via Regia 1895 entdeckt hat,41 so ist bezeichnend, was er im Mai 1897 in seinem Brief an Fließ schrieb: »Ich
habe in die Literatur hineingeblickt und komme mir vor wie das
keltische Zaubermännchen: ›Ach wie bin ich froh, dass es niemand, niemand weiß – ‹. Niemand hat eine Ahnung davon, dass
der Traum kein Unsinn ist, sondern eine Wunscherfüllung«.42
Diese Behauptung ist ganz offensichtlich tendenziös, denn Freud
wusste sehr wohl, dass die These wonach gewisse Träume, wenn
40
41
42
36
Brief vom 28. April 1885 an Martha Bernays, in Freud, S., Briefe 18731939., zit., S. 144f.
Neben Irmas Traum, vgl. den Brief an Fließ vom 23. September 1895, in
S. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, zit., S. 144: »Ein Traum
vorgestern hat die komischsten Bestätigungen der Auffassung ergeben,
dass die Wunscherfüllung das Motiv des Traumes ist«. Vgl. aus demselben
Zeitraum S. Freud, Entwurf einer Psychologie, GW, Nachtragsband. Texte
aus dem Jahren 1885-1938, S. 435: »Der Zweck und Sinn der Träume (der
normalen wenigstens) ist mit Sicherheit festzustellen. Sie sind Wunscherfüllungen, also Primärvorgänge nach den Befriedigungserlebnissen […].
Fragt man das Bewusstsein bei erhaltenem Traumgedächtnis nach dem
Trauminhalt aus, so ergibt sich, dass die Bedeutung der Träume als Wunscherfüllungen verdeckt ist durch eine Reihe von psychischen Vorgängen,
die sich alle bei den Neurosen wiederfinden und deren krankhafte Natur
charakterisieren«.
S. Freud, Brief an Fließ vom 16. Mai 1897, in: Ders., Briefe an Wilhelm
Fließ 1887-1904, zit., S. 259.
auch nicht alle, Wunscherfüllungen darstellen, sehr alt und hinlänglich bekannt war.43 Neben Platons Staat hatte auch Artemidoros diese Möglichkeit explizit in Betracht gezogen, der sie
gleich zu Beginn seines Werkes auf den Bereich der nächtlichen
Visionen zurückführte:
Es unterscheidet sich das Traumgesicht vom Traume dadurch, dass jenes
die Zukunft voraussagt, dieser die Gegenwart andeutet. Das Folgende soll
es dir klarer beleuchten. Einige Gemüthsaffecte sind von der Beschaffenheit, dass sie im Schlafe zurückkehren, sich der Seele in der alten Ordnung
wieder darbieten und Traumbilder hervorrufen. So ist es z. B. ganz naturgemäss, wenn dem Verliebten von einem Stelldichein mit seinem Lieblingsknaben träumt, der Furchtsame die Ursachen seiner Befürchtungen schaut,
der Hungrige wieder vom Essen, der Durstige vom Trinken und Einer, der
sich den Magen überladen hat, vom Erbrechen oder Ersticken träumt.44
Fokussiert man die Aufmerksamkeit auf Platon und besonders
auf seinen Erosbegriff, so tritt einmal mehr der freudsche Widerwille hervor. Tatsächlich finden sich dafür verschiedentlich dezidierte, stichhaltige und auch bekannte Hinweise; vom 1920 verfassten neuen Vorwort, über die kanonischen Drei Abhandlungen
zur Sexualtheorie und der detaillierten Erörterung des Gastmahls
in Jenseits des Lustprinzips, bis hin zu einer berühmten Stelle aus
Massenpsychologie und Ich-Analyse:
[...] mit dieser »erweiterten« Auffassung der Liebe hat die Psychoanalyse
nichts Originelles geschaffen. Der »Eros« des Philosophen Plato zeigt in
seiner Herkunft, Leistung und Beziehung zur Geschlechtsliebe eine vollkommene Deckung mit der Liebeskraft, der Libido der Psychoanalyse,
wie Nachmansohn und Pfister im einzelnen dargelegt haben […]. Diese
43
44
Ebenfalls unterstrichen wird dies in Th. Gomperz, Traumdeutung und
Zauberei, zit., S. 85: »Die erste führt in die innere Werkstatt unsres Geistes; sie zeigt uns hier die Stoffe, die Kräfte, die Werkzeuge tätig, deren
einst ungehemmtem und schrankenlosem Spiele ungeahnte Wirkungen
entspringen mußten«. Zur umfangreichen Literatur des 19. Jahrhunderts
über den Traum als Wunscherfüllung siehe bspw. S. Goldmann, Via Regia
zum Unbewussten, zit., Kap. 4.
Artemidoros, Symbolik der Träume, I, 1; s. auch ebd., I, 78, 50: »Träumt
man, ein bekanntes und befreundetes Frauenzimmer, zu dem man eine Zuneigung fühlt und das man begehrt, zu beschlafen, so weissagt das Gesicht
in Folge der angefachten Begierde (epithymían) gar nichts«.
37
Liebestriebe werden nun in der Psychoanalyse a potiori und von ihrer
Herkunft her Sexualtriebe geheißen. [...]. Wer die Sexualität für etwas die
menschliche Natur Beschämendes und Erniedrigendes hält, dem steht es ja
frei, sich der vornehmeren Ausdrücke Eros und Erotik zu bedienen. […].
Ich kann nicht finden, dass irgendein Verdienst daran ist, sich der Sexualität zu schämen; das griechische Wort Eros, das den Schimpf lindern soll,
ist doch schließlich nichts anderes als die Übersetzung unseres deutschen
Wortes Liebe.45
Wie Freud erklärt waren solche Affinitäten jedoch bereits
durch zwei in den internationalen Kreisen der psychoanalytischen
Forschung sehr engagierte und anerkannte Gelehrte hervorgehoben worden, nämlich durch Max Nachmansohn (in einem
1915 erschienenen Essay, der unter anderem auch auf den Staat
behandelt)46, sowie 1921 durch Oskar Pfister.47 Die augenfälligen
Analogien konnten nun nicht länger ignoriert oder verschwiegen
werden, und Freud ging noch einen Schritt weiter, indem er sie als
Schutzschild nutzte, um sich der immer drängenderen Vorwürfe
des Pansexualismus zu erwehren.
Andererseits scheint es mir wichtig hervorzuheben, dass die
erste bedeutende Verwendung der von Platon im Gastmahl skizzierten Auffassung des Eros demgegenüber viel weiter zurückreicht und stillschweigend erfolgt war. Denn Freud hatte bereits
von 1910 an die These vertreten, wonach der Eros »alles Lebende
45
46
47
38
S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, GW, Bd. 13, S. 98.
Vgl. M. Nachmansohn, Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre
Platos, »Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse«, III, 65,
1915, S. 65-83, wo es auf S. 82 heißt: »Die Sublimierungstheorie Freuds
findet sich schon ausführlicher bei Plato und der Staat bringt eine noch
auszubeutende pädagogische Lehre, um die Sublimierung des Eros in die
Wege zu leiten«.
O. Pfister, Plato als Vorläufer der Psychoanalyse, »Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse«, VII, 3, 1921, S. 264-269; siehe auch den Brief
Pfisters an Freud vom 14.1.1921, in S. Freud, O. Pfister, Briefe 1909-1939,
Fischer, Frankfurt/M 1963, S. 83: nachdem er auf den Eros im Gastmahl
eingegangen ist schreibt er weiterhin in Bezug auf Platon: »Alle Kunst,
Religion, Moral führt er auf die Liebe zurück, und auch das Unbewusste,
die sich kreuzenden Strebungen der Seele kennt er vorzüglich... «; eine Bemerkung, auf die Freud lediglich antwortet: »Ihr Aufsätzchen über Plato
sehr willkommen, cela va sans dire«.
erhält«, wie er in Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da
Vinci formuliert, jedoch ohne dabei das Gastmahl zu zitieren.48
Rund drei Monate vor Aufnahme der Arbeit am Leonardo,
die er im Oktober 1909 begann und im April 1910 abschloss,
zitierte Freud allerdings aus dem Gastmahl, nämlich in den am
17. Juli 1909 fertiggestellten Bemerkungen über einen Fall von
Zwangsneurose (Krankengeschichte vom Rattenmann), bei Erörterung der Liebe und dem »Verhältnis ihres negativen Faktors zur
sadistischen Komponente der Libido«. Hierzu setzt Freud die folgende, wahrhaft verblüffende Anmerkung: »›Ja oft habe ich den
Wunsch, ihn nicht mehr unter den Lebenden zu sehen. Und doch
wenn das je einträfe, ich weiß, ich würde noch viel unglücklicher
sein, so wehrlos, so ganz wehrlos bin ich gegen ihn,‹ sagt Alkibiades über den Sokrates im Symposion«.49 Ich halte die Behauptung
keineswegs für gewagt, dass Freud die erste Formulierung des
Eros als Kraft, die »alles Lebende erhält« durch die Lektüre, oder
vielmehr durch die neuerliche Lektüre des Gastmahls nahegelegt
wurde50, die zu diesem Zeitpunkt nur wenige Monate zurücklag.
Schließlich wäre es denkbar, dass auch das 1923 in Das Ich
und das Es geprägte Bild des Reiters,51 das auf die metaphorische
Wiedergabe des Verhältnisses von Ich und Es zielt, und später
auch in der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in
die Psychoanalyse aufgegriffen wird, wiederum stillschweigend
übernommen und angepasst wurde, und zwar ausgehend von der
berühmten Metapher des geflügelten Zweigespanns im Phaidros,
die – allerdings nur indirekt – auch bei Nachmansohn in Erin-
48
49
50
51
Vgl. S. Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, GW, Bd.
8, S. 136.
S. Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, GW, Bd. 7, S.
456, Anm. 1.
Schon im 1905 schrieb Freud: »Der populären Theorie des Geschlechtstriebes entspricht am schönsten die poetische Fabel von der Teilung des
Menschen in zwei Hälften – Mann und Weib – , die sich in der Liebe wieder zu vereinigen streben«, vgl. J. Breuer u. S. Freud, Drei Abhandlungen
zur Sexualtheorie, GW, Bd. 5, S. 34.
Vgl. S. Freud, Das Ich und das Es, GW, Bd. 13, S. 253; S. Freud, Neue
Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW, Bd. 15,
S. 83.
39
nerung gerufen wird.52 Mit Sicherheit war Freud die Metapher
vertraut, etwa aus dem bereits in der ersten Auflage der Traumdeutung zitierten Band von Albert Lemoine, Du sommeil au point
du vue physiologique et psychologique, in welchem im Abschnitt
über den Traum zu lesen steht:
Kurzum, die Seele steuert sich selbst, indem sie das Organ steuert, sie
steuert das Organ, indem sie seinen Gesetzen gehorcht, imperat obediendo. Allerdings ist erwiesen, dass sich dies im Wachzustand nicht immer
so verhält; es gibt Augenblicke, in denen der Verstand – der Noûs, Platons Wagenlenker – die Zügel schleifen lässt und sich den Launen seines
Gespannes anvertraut; es gibt auch andere, in denen dieses – vor allem die
Epithymía – auffährt und seinen machtlosen Lenker hinter sich mitreißt.53
52
53
40
Vgl. M. Nachmansohn, Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre
Platos, zit., S. 77 ff.
Albert Lemoine, Du sommeil au point du vue physiologique et psychologique, zit., S. 120 : »En un mot, elle [l’âme] se gouverne elle-même en
gouvernant l’organe, elle gouverne l’organe en obéissant à ses lois, imperat obediendo. Qu’il s’en soit pas toujours ainsi dans la veille, cela est
certain ; il y a des moments où l’intelligence, Noûs, le cocher de Platon,
laisse flotter les rênes et s’abandonne aux caprices de son attelage ; il y en
a d’autres où celui-ci, Epithymía, surtout, s’emporte, ravissant à sa suite
son guide impuissant« (im Text dt. vom Übers.). Ein weiteres Beispiel ist
der Band von Alfred Maury, Le sommeil et les rêves, Didier, Paris 1865,
in welchem es im grundlegenden V. Kapitel, aus dem Freud einen ganzen
Abschnitt in die erste Auflage der Traumdeutung übernommen hat, auf S.
107: »Während seiner Kindheit befindet sich der Mensch in einem ständigen Traumzustand, und die unzusammenhängenden Worte, die er zur
Antwort gibt, müssen Ausdruck der Vorstellungen sein, in denen er sich
wiegt. Sobald man seine Aufmerksamkeit durch eine Frage erregen will,
versucht er, die Zügel jenes Wagens seines Verstandes wieder an sich zu
reißen, auf welchem Platon die Seele platziert; jedoch kann er nicht bis zu
seinem Gegenüber gelangen, und wendet sich einfach in die Richtung, in
die ihn die Vorstellungen mitreißen, die sein Bewusstsein durchziehen.«
(dt. vom Übers.; frz. Wortlaut: »L’homme en enfance est dans un état perpétuel de rêvasserie, et les paroles incohérentes qu’il vous répond doivent
être l’expression des idées dont il est bercé. Dès que vous provoquez son
attention par une demande, il cherche à reprendre les rênes de ce char intellectuel sur lequel Platon place l’âme: mai il ne peut arriver jusqu’à vous,
et il se dirige simplement dans le sens où l’entraînent l’idées qui passent
devant son esprit«).
Auch ungeachtet solcher vielfältigen Belege lässt sich vermuten, dass Freud womöglich durch eine indirekte und unvollständige Rezeption des Neunten Buches des Staates irregeleitet und
zu der Annahme gebracht wurde, die dort skizzierte Auffassung
des Traumes ließe sich tatsächlich auf Platons altes Wort reduzieren, »dass der Tugendhafte sich begnügt, von dem zu träumen,
was der Böse im Leben thut«, weshalb er der Frage nicht weiter
nachzugehen brauchte. Sowohl Radestocks Überlegungen, als
auch die Zusammenfassung durch Büchsenschütz stellten außerdem die primär moralische Orientierung heraus, der sich Platon
angeschlossen hatte, indem er von Anfang an die Gegenmittel zur
Vermeidung der Traumerscheinung von unterdrückten Wünschen
erwog. Bereits Cicero hatte seinerseits die Fortsetzung der besagten Stelle übernommen54:
Anders aber verhält es sich wohl, wenn jemand in gesunder und besonnener Seelenverfassung sich befindet. Er begibt sich erst zur Ruhe,
nachdem er den vernünftigen Teil seiner Seele angeregt und mit schönen
Gedanken und Betrachtungen gesättigt hat. So ist er zur Selbstbesinnung
gelangt. Den begehrlichen Teil dagegen hat er weder dem Mangel noch
der Übersättigung ausgesetzt, damit er sich zur Ruhe begebe und dem
besten Teil nicht störend entgegentrete durch den Ausbruch von Lust oder
Schmerz, sondern ihn völlig rein für sich der Betrachtung sich hingeben
und bestrebt sein lässt, etwas von dem wahrzunehmen, was er nicht weiß,
sei es etwas Vergangenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges. Ebenso hat
er auch den muthaften Teil besänftigt und legt sich nicht nach heftigen
Zornesauftritten mit anderen aufgeregten Gemütes schlafen. Vielmehr hat
er die beiden Teile beruhigt und den dritten, dem die Einsicht innewohnt,
angeregt. Wenn er sich zur Ruhe begibt, so wird er in solchem Zustand,
wie du dir selbst sagen wirst, am besten die Wahrheit erfassen, und am
wenigsten werden frevelhafte Traumerscheinungen ihn dann heimsuchen
(571d-572a).
Sogar Gomperz, der als Erforscher antiker Traumvorstellungen und ausgewiesener Kenner des Corpus Platonicum in manchen Punkten ähnliche Ansichten vertrat wie Freud und dessen
Traumdeutung unverzüglich zur Kenntnis nahm, hat in seinem
umfangreichen und detaillierten Kommentar zum Neunten Buch
die Tragweite der Traumanalyse, die hier von einem theoretischen
54
M. T. Cicero, Über die Wahrsagung: De Divinatione, zit., S. 67.
41
und psychoanalytischen Standpunkt aus vorgestellt wird, ganz
und gar verkannt. Gleiches gilt auch für die allererste, unglücklich angelegte Monographie, die sich explizit mit beiden Autoren befasst und 1934 mit dem Titel De Freud à Platon in Paris
publiziert wurde.55 Freud hat dieses Werk zwar gekannt, jedoch
niemals darauf verwiesen.56 Obwohl darin die entscheidenden
drei Seiten aus dem Neunten Buch des Staates ungekürzt wiedergegeben waren,57 stellte der junge Autor Patrice Georgiadès
keinerlei Vermutungen über eine mögliche Beeinflussung an. Er
übersah nicht die Vielschichtigkeit der platonischen Theorie und
ging lediglich auf den Timaios und auf einige andere Fragestellungen ein.
Nimmt man also an, Freud habe die betreffende Stelle aus
dem Neunten Buch vollständig gekannt, wäre es plausibel zu
vermuten, dass er ihre Tragweite erfasst und aufgrund seiner
relativen Vertrautheit mit dem platonischen Denken zur Lektüre
des Staates übergegangen ist. Trifft dies zu, so muss er auf eine
Auffassung gestoßen sein, in der die Traumerscheinung sich nicht
nur klar und deutlich als Auftauchen und Erfüllung zuvor unterdrückter Wünsche darstellt, sondern als Schlüssel zum Verständnis von entsprechenden, im engeren Sinne psychopathologischen
Entartungen. Aus dieser Auffassung hat er allerdings lediglich
jenes alte Wort zitiert. Diese Zurückhaltung entspricht seiner
Haltung gegenüber dem Eros im Gastmahl und ermöglichte es
ihm, das Erstgeburtsrecht der Entdeckung des Königswegs beizubehalten, ohne ihn als eine von Grund auf überarbeitete Neuauflage des platonischen Wegs ausgeben zu müssen. Trifft dies allerdings nicht zu, und sicherlich kann es auch anders gewesen sein,
dann hat Freud, trotz der wiederholten Auseinandersetzung mit
55
56
57
42
P. Georgiadès, De Freud à Platon, Bibliothèque-Charpentier, Fasquelle
éditeurs, Paris 1934; siehe bspw. die irreführende Thematisierung des Unbewussten auf S. 95 ff.
Siehe hierzu den konzisen Rezensionsartikel von U. Holmes, in »Books
Abroad«, Bd. 9, n. 3, 1935, S. 302-303; der Text ist auch in Freuds Bibliothek vorhanden, vgl. J. K. Davies, G. Fichtner (Hrg.), Freud’s Library,
Katalognr. 1496.
Ebd., S. 167-171.
dem Neunten Buch, einen Augenblick vor der Wiederentdeckung
einer Anschauung Halt gemacht, der er unbewusst von sich aus,
und nach einer stillen Latenzzeit von mehreren Jahrhunderten,
zu neuem Leben verholfen hatte – und das im einsetzenden 20.
Jahrhundert und mit Hilfe einer Intuition, die alsbald die Gestalt
der modernen Subjektivität revolutionieren sollte.
Die Übereinstimmung von Via Regia und Via Platonica legt
somit die Nervenstränge der gesamten abendländischen Identität frei. Denn diese Überlagerung bezeugt wie die theoretischen
Grundlagen der psychoanalytischen Revolution bereits seit der
Antike vorgeformt wurden. Nicht allein die Vorwegnahme des
Königswegs, die ihm zugrunde liegende Untersuchung der Formen der Unterdrückung des Wunsches und der korrelierten psychopathologischen Abweichungen, sondern auch die positiven
Steuerungs- und Kontrollstrategien des Wunsches, auf denen die
Möglichkeiten zur Erreichung eines gesunden psychischen Gleichgewichts beruhen, weisen in der Tat weitreichende Übereinstimmungen auf: Wünsche, Libido und Eros, eingeteilt in ein beinahe
identisches Triebmodell, gestalten sich als wesentlich plastische
Triebkräfte; sie lassen sich kanalisieren und sublimieren. Dies ist
eine Ebene, auf der sich Freuds eigene Stellungnahmen als besonders erweisen. Denn über die gleichsam instrumentelle Verwendung des platonischen Erosbegriffes hinaus soll gezeigt werden,
dass es umfassende und tiefe Übereinstimmungen gibt, gerade
hinsichtlich des gesamten theoretischen Entwurfs, in welchem
der Eros nicht nur im Gastmahl, sondern insbesondere auch im
Staat berücksichtigt wird. Zusammenfassend denke ich, dass ein
Vergleich der spezifischen Eigenschaften in den psychologischen
Theorien Platons und Freuds eine bislang unbeachtet gebliebene,
aber äußerst aussagekräftige Erblinie innerhalb der theoretischen
Genealogie der Psychoanalyse zutage fördern kann. Genau darin
besteht das grundsätzliche Anliegen, dem die vorliegende Studie
in erster Linie verpflichtet ist.
Zunächst begegnet diese Aufgabe den vielfältigen Schwierigkeiten, welche die Rekonstruktion der im Staat entwickelten
Psychologie in ihrer Einheitlichkeit und inneren Kohärenz mit
sich bringt. Dies bedeutet eine zusätzliche Herausforderung, vor
allem aufgrund der außerordentlichen strukturellen Komplexität
43
in der Komposition des Dialogs. Angesichts der Vielschichtigkeit
der behandelten Fragestellungen erweist sich eine umfassende
Rezeption als äußerst schwierig. Die Bemühung um Vollständigkeit zielt darauf, eine psychologische Theorie zu rekapitulieren
und zu rekonstruieren, deren Eigenschaften im Zuge der Darstellung unregelmäßig ausgestreut werden, weshalb die relevanten
Stellen in verschiedenen Büchern zu finden sind. Relevant sind
das Vierte, das Achte und das Neunte Buch, wobei Hinweise zur
psychologischen Sphäre auch über das gesamte Werk verstreut
vorkommen. Außerdem bildet die schnelle Abfolge der Argumente in verschiedenen parallelen Gesprächen, die Vielzahl der
Schnittpunkte und Überlagerungen der erörterten Untersuchungsebenen – also der politischen, psychischen, ethisch-moralischen,
sowie erkenntnistheoretischen – in vielfacher Hinsicht ein weiteres Hindernis bei der einheitlichen Rekonstruktion einer platonischen psychologischen Theorie. Häufig thematisiert Platon
die ablaufenden Dynamiken und psychischen Prozesse nicht als
eigenständigen Untersuchungsgegenstand, sondern verhandelt sie
im Rahmen seiner ethischen und politischen Erörterungen, sodass
eine Abstraktion und vereinheitlichende Neuordnung notwendig
ist. Seine psychologische Theorie verteilt sich nicht nur auf die
Bücher des großen Dialogs, sondern findet sich an vielen Stellen
umgesetzt, und zwar ohne explizite Thematisierung. Gerade dieser grundlegende psychisch-politische Isomorphismus erweist sich
auf der hermeneutischen Ebene als zweischneidiges Schwert, denn
so sehr die Politisierung der psychischen Ebene eine der theoretischen Grundlagen von Platons Sichtweise ausmacht, kann die
entsprechende Psychologisierung der politischen Ebene Anlass zu
einer Bevorzugung der politisch-moralischen Ebene zum Nachteil
der theoretisch-psychologischen geben.
Eigentlich ist es gerade die enge Verkettung dieser Ebenen,
und Platons durchgängige Aufmerksamkeit für die unmittelbaren
ethischen Konsequenzen seiner Erörterungen, die Autoren wie
Radestock und Büchsenschütz dazu veranlasst hat, die moralische Dimension ausdrücklich herauszustellen, die aus der Untersuchung der Traumprozesse im Neunten Buch hervorgeht, und
die einen Interpreten vom Format eines Gomperz trotz seines
44
Interesses für die Traumforschung irregeleitet hat.58 Doch auch in
der überaus differenzierten Platonliteratur des 20. Jahrhunderts
bedurfte es mehrerer Jahrzehnte bis endlich einige der Analogien
zwischen dem Staat und der psychoanalytischen Konzeption festgestellt werden konnten; gewiss auch wegen Freuds Verschwiegenheit, die dadurch, dass er dem Gastmahl eine zentrale Stellung
zuschrieb, paradoxerweise noch weiter verstärkt wurde und so
die Aufmerksamkeit der Interpreten von Anfang an auf sich zog.59
Als einer der Ersten befreite sich Werner Jaeger aus dieser Position als er 1947 kompromisslos betonte, Platon habe aufgrund
seiner Erörterung des Traumes im Neunten Buch als »Vater der
Psychoanalyse« zu gelten.60 Diese Bemerkung war allerdings nicht
mehr als ein vereinzelter Schaltsatz innerhalb seiner ausführlichen
Abhandlung. Und fortan sind es stets nur ähnlich isolierte Schaltsätze gewesen, welche die Entwicklung der Sekundärliteratur bis
in die frühen Siebziger Jahre bestimmten, gerade als zeitgleich mit
der Verbreitung des psychoanalytischen Denkens innerhalb der
philosophischen Forschung eine breitere Diskussion entstand.61
58
59
60
61
Später wir auch Michel Foucault irregeleitet, siehe M. Foucault, Einleitung, in L. Binswanger, Traum und Existenz, Gachnang & Springer, BernBerlin 1992, S. 43-44, 48-49 (Originalausgabe 1954).
Einen Meilenstein für den Vergleich bildet der Artikel von F. M. Cornford,
The Doctrine of Eros in Plato’s Symposium (Erstausgabe 1937), später
neu aufgelegt in G. Vlastos (Hrg.), Plato, A Collection of Critical Essays,
II: Ethics, Politics, and Philosophy of Art and Religion, Doubleday, New
York 1971, S. 128; sowie nochmals in: Ders., The Division of the Soul,
»The Hibbert Journal«, V, XXVIII, 1929-1930, S. 206-219; eine Deutung,
die nachfolgend zahlreiche Vergleiche beider Autoren begleitet hat, darunter auch ein weiterer Meilenstein, nämlich E. R. Dodds, Die Griechen
und das Irrationale, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1970
(Originalausgabe 1951); unter den jüngeren Arbeiten siehe G. R. F. Ferrari, Platonic Love, in R. Kraut (Hrg.), The Cambridge Companion to Plato,
Cambridge University Press, Cambridge 1992, und A. W. Price, Love and
Friendship in Plato and Aristotle, Clarendon Press, Oxford 1997.
W. Jaeger, Paideia, Bd. III, de Gruyter, Berlin 1947, S. 74.
Unter den richtungsweisenden Studien hierzu siehe inbes. A. Kenny, Mental health in Plato’s Republic (1969), in: Ders., The Anatomy of the Soul,
Basil Blackwell, Bristol and Oxford 1973; B. Simon, Plato and Freud. The
Mind in Conflict and the Mind in Dialogue, »The Psychoanalytic Quarterly«, 42, 1973, S. 91-122; sowie: Ders., Mind and Madness in Ancient
45
Seitdem, und insbesondere im Laufe der Neunziger Jahre wurden vor allem im angelsächsischen Raum – nicht zuletzt angeregt
durch neuere Arbeiten zum klassischen Verhältnis von Eros und
Libido –62 mehrere Artikel oder einzelne Kapitel zu dieser Frage
publiziert.63 Bis heute hat jedoch niemand den Versuch gemacht,
einen systematischen und erschöpfenden Vergleich durchzuführen, und genau diesem Anspruch will nun die vorliegende Studie
gerecht werden.
Diese Art der Gegenüberstellung erweist sich nicht nur zur
Erhellung der theoretischen Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse als nützlich, sondern darüber hinaus auch auf anderem
Gebiet, nämlich als Hilfsmittel und methodologischer Ansporn
zur Rekonstruktion von Platons psychologischer Theorie.
Denn die beständigen Parallelen zum freudschen Gedankengebäude tragen indirekt dazu bei, jenen Faden nicht zu verlieren,
der innerhalb der vielschichtigen Handlung des großen Dialogs
innerpsychische Spaltung und Konflikt, sowie Wunsch, Traum
und Psychopathologie, Harmonie, Eros und Eudämonie zueinander in Beziehung setzt. Um möglichen hermeneutischen Fehlern
entgegenzuwirken wird ein solcher Ansatz durch ständige Nähe
und Treue gegenüber Platons Ausführungen angestrebt, die dabei
punktuell kommentiert werden. Gestützt wird dieses Vorgehen
außerdem durch die inzwischen weitgehend übereinstimmend
angenommene methodologische Voraussetzung bezüglich des
62
63
46
Greece, Cornell University, Ithaca and London 1978; P. L. Assoun, Freud,
la Philosophie et les Philosophes, Presses Unversitaires de France, Paris
1976; P. Plass, Anxiety, Repression, and Morality: Plato and Freud, »The
Psychoanalytic Review«, 65, 4, 1978, S. 533-556.
Siehe insbes. die monographische Studie von Gerasimos Santas, Plato and
Freud. Two Theories of Love, Basil Blackwell, Oxford 1988.
Siehe inbes. C. Gill, Plato and the Education of Character, »Archiv für Geschichte der Philosophie«, 67, 1985, S. 1-26; C. H. Kahn, Plato’s Theory
of Desire, »Review of Metaphysics«, XLI, 1987, S. 77-103; W. Price, Plato
and Freud, in C. Gill (Hrg.), The Person and the Human Mind, Clarendon
Press, Oxford 1990. Ders., Mental Conflict, Routledge, London and New
York 1995; M. Stella, Freud e la »Repubblica«: l’anima, la società, la gerarchia, in M. Vegetti (Hrg.), Platone, La Repubblica, Bibliopolis, Napoli
1998, Bd. III; J. Lear, Open Minded: working out the logic of the soul,
Harvard University Press, Harvard 1998.
Corpus platonicum, wonach der Staat gegenüber den anderen
Dialogen als weitgehend eigenständig gilt.64 Der gewählte Ansatz
berücksichtigt sowohl die klassische Fragestellung bezüglich der
Schwierigkeit einer vollständigen chronologischen Neuordnung
der platonischen Werke,65 als auch die bisweilen drastischen
Veränderungen, die Platons Denken im Laufe seines Lebens
durchgemacht hat. Man denke nur an die entscheidende psychische Verinnerlichung des gesamten Spektrums der Wünsche, die
sich der Dreiteilung in vernünftige, zornmütige und begehrliche
Instanz zuordnen lässt, die mit dem Leib-Seele-Dualismus des
Phaidon unvereinbar, ja diesem geradezu entgegengesetzt ist. Dieselbe äußerste Treue gegenüber den Texten wird auch hinsichtlich
des freudschen Korpus angestrebt, dessen theoretisches Modell
in seiner ausgereiftesten und differenziertesten Form untersucht
wird, also nach der zweifachen Wende, die mit der Annahme des
in Jenseits des Lustprinzips begründeten Triebdualismus (LebenTod), sowie mit der strukturellen psychischen Dreiteilung in Ich,
Es und Über-Ich in Das Ich und das Es stattgefunden hat, wobei
mehrfach auch frühere Schriften herangezogen werden.
Mit dem Ziel eines breit angelegten, systematischen Vergleichs
erstreckt sich die Untersuchung nicht allein auf die Affinitäten,
sondern berücksichtigt ebenso die mitunter grundlegenden Unterschiede und Brüche zwischen beiden Entwürfen, was sich bei der
Problematisierung des freudschen Entwurfs als fruchtbar erweist.
Unter Beibehaltung dieser Ausrichtung werden bereits im ersten
Kapitel die einschlägigen Übereinstimmungen und Abweichungen der beiden psychischen Entwürfe skizziert, sodass von Beginn
64
65
Vgl. M. Vegetti, Guida alla lettura della »Repubblica« di Platone, Laterza,
Roma-Bari 1999, S. 36.
Eine Übersicht und Erörterung der »platonischen Frage« findet sich
bspw. in H. Thesleff, Studies in Platonic chronology, Commentationes
Humanarum Litterarum, Helsinki 1982, insbes. zu Staat, Gastmahl und
Phaidros, S. 101-10, 135-40, 171-180, 184-186; eine umfassende Übersicht der stilistisch-stilometrischen Untersuchungen bietet L. Brandwood,
The chronology of Plato’s Dialogues, Cambridge University Press, Cambridge 1990. Ders., Stylometry and chronology, in R. Kraut (Hrg.), The
Cambridge Companion to Plato, Cambridge University Press, Cambridge
1992.
47
an eine Übersicht über die Gesamtkonzeption entsteht. Zunächst
soll der vorwiegend konfliktträchtige Charakter unterstrichen
werden, der beiden Entwürfen zugrundeliegt, sowie die übereinstimmende Tendenz, die Analyse der innerpsychischen Kräfte
auf politische Begriffe zu übertragen und zu übersetzen. Deshalb
wird von Anfang an auf die beiden Dreiteilungen eingegangen,
wobei auch zu zeigen ist, inwiefern die innerhalb der Sekundärliteratur stets anzutreffende Schwierigkeit, zwischen diesen eine
vollkommene Symmetrie aufzuzeigen, auf einem grundsätzlichen
Missverständnis beruht, das auf einen radikalen Unterschied bei
der Thematisierung des Verhältnisses von rationaler und moralischer Dimension verweist, und das die beiden Dreiteilungen
asymmetrisch werden lässt. Allerdings vermag diese Asymmetrie
die Prägnanz ihrer Übereinstimmungen keineswegs abzuschwächen. Dabei liegt eine Schlüsselstelle in der zentralen Bedeutung,
die in beiden Fällen der entscheidenden Rolle der Sphären der
Triebe und Gefühle und derjenigen der Wünsche zugeschrieben
wird. Alle diese Kräfte belagern und fesseln den rationalen Teil,
und wissen dabei auch das Ich für sich zu vereinnahmen.
Auch im zweiten Kapitel stehen weiter der Wunsch im Mittelpunkt, sowie vor allem die dazugehörigen Kontrollstrategien,
mit besonderer Berücksichtigung der Unterdrückungs- und Verdrängungsmechanismen. Die Darstellung verfolgt eine detaillierte
Untersuchung darüber, inwieweit solche Modalitäten die entscheidende Voraussetzung bilden, die den Weg zur Analyse der Traumprozesse ebnet, der seinerseits die eindrücklichste Bestätigung
der Wirkungslosigkeit solcher repressiver Strategien darstellt. Im
Wesentlichen behandelt dieses Kapitel also das zentrale Thema
der Via Regia.
Im dritten Kapitel folgt die eingehende Untersuchung der
Beziehungen zwischen den verschiedenen psychopathologischen
Abweichungen und den Traumprozessen, sowie ferner der Beziehungen zwischen der Figur des platonischen Tyrannen und der
Thematisierung verschiedener klassischer freudscher Pathologien.
Wiederum werden dabei die zwingenden Übereinstimmungen beider Auffassungen erläutert. Dazu wird die Betrachtung auf den
diagnostischen und auf den therapeutischen Ansatz ausgedehnt,
wobei auch die Differenzen hervortreten, die auf zwei verschie-
48
dene Grundannahmen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen
individueller Psyche und gesellschaftlicher Sphäre zurückgehen.
Hierbei zeigt sich die größere Öffnung, Durchlässigkeit und
intrinsische Porosität der platonischen Psyche gegenüber dem
durch die gesellschaftspolitische Sphäre ausgeübten Druck. Die
freudsche Subjektivität, die auf die zentrale Bedeutung des ödipalen Dreiecks verweist, zeigt dagegen eine gewisse narzisstische
Undurchlässigkeit gegenüber den Dynamiken, die auf die weitere
gesellschaftliche Wirklichkeit zurückführbar sind. Ferner sollen die Vorbedingungen beleuchtet werden, aufgrund derer der
diagnostische und therapeutische Charakter des platonischen
politischen Entwurfs, der innerhalb des Rahmens einer unauflöslichen isomorphen Zirkularität von psychisch-individueller und
gesellschaftlich-politischer Ebene entstanden ist, als Vorläufer
der modernen und zeitgenössischen Diagnosen gesellschaftlicher
Pathologien anzusehen ist. Hinzu kommt ein Exkurs über die von
Freud aufgezeigten Übereinstimmungen zwischen Sokrates’ Auffassung des Nichtwissens bzw. seiner Thematisierung der Neurose
und der psychoanalytischen Methode. Diese Übereinstimmungen
erweisen sich meines Erachtens nach als oberflächlich, insbesondere anhand der Gegenüberstellung mit den punktuellen und logischen Affinitäten, die sich aus der Untersuchung des Tyrannen im
Staat ergeben.
Das vierte Kapitel untersucht den metapsychologischen Status von Wünschen, Libido und Eros. Eingangs werden die beiden
hydraulischen Triebmodelle erläutert, mittels derer es möglich
ist, die Modalitäten der Kontrolle und Steuerung des positiven
Triebmaterials umzuwenden. Dabei wird deutlich, wie die Gegensätze von Unterdrückung und Umstimmung der Wünsche in platonischen, und von Verdrängung und Sublimierung in freudschen
Begriffen, auf einer grundsätzlich übereinstimmenden Konzeption
beruhen. Gerade in dieser Hinsicht unterstreicht eine solche Analogie die zentrale Rolle, die den Strategien der Wunschsteuerung
und des Eros hinsichtlich der Konflikte und innerpsychischen
Dynamiken bei beiden Autoren zuteil wird. Zugleich wird jedoch
auch der Abstand zwischen der freudschen Thematisierung des
Narzissmus und dem Verhältnis von Psyche und Polis sichtbar
gemacht. Die Darstellung verfolgt zudem eine Vertiefung der wie-
49
derholten Erklärungen und Untersuchungen Freuds zur platonischen Theorie des Eros, wobei mit besonderem Augenmerk auf
die Abweichungen in beiden Dialogen auch ihre Thematisierung
im Gastmahl sowie im Phaidros berücksichtigt wird.
Das fünfte und letzte Kapitel widmet sich der Thematisierung
der beiden moralischen Dimensionen, die bereits im ersten Kapitel erwähnt wurden und nun umfassend erörtert werden. Noch
einmal wird von Platons altem Wort ausgegangen, »dass der
Tugendhafte sich begnügt, von dem zu träumen, was der Böse
im Leben thut«, wobei hier nicht die theoretische Schwächung
desselben nachgewiesen werden soll, sondern vielmehr die Verfälschung des platonischen Moralbegriffs, die eine solche Interpretation hervorruft. Dabei wird zwischen beiden Gedankengebäuden
eine tiefgehende Bruchlinie erkennbar. Während sich einerseits die
vollständige Übereinstimmung zwischen noetisch-intellektueller
und moralischer Sphäre abzeichnet, die diagonal durch die im
engeren Sinne meta-psychologische, d. h. über den Bereich der
psychologischen Theorie hinausführende Ebene verläuft, zeigt
sich andererseits die potentiell pathogene Spaltung zwischen
dem im Über-Ich einbezogenen Gewissen kantianischer Prägung
und dem Ich. Diese Fragestellungen betreffen unmittelbar auch
die Thematisierungen des Ich-Ideals und der Verinnerlichung der
idealen Paradigmen, welche ungeachtet der unterschiedlichen
erkenntnistheoretischen Hintergründe Kontaktstellen bilden und
zwischen beiden Entwürfen als begriffliche Brücken dienen, von
denen aus sich nach meinem Dafürhalten jene Schlüsselstellen
bestimmen lassen, an denen die Thematisierung der moralischen
Dimension gewisse, gleichsam versteckte theoretische Vorbedingungen berührt, die beiden Entwürfen zugrunde liegen. Dieselben
Schlüsselstellen bestimmen auch die Thematisierung derjenigen
melancholischen Zustände, die in einem Fall die Tugendhaften
erfassen können, im anderen die Tyrannen.
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VERLAG TURIA + KANT
WIEN – BERLIN
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Bibliographic Information published by
the Deutsche Nationalbibliothek
The Deutsche Bibliothek lists this publication in the
Deutsche Nationalbibliografie;
detailed bibliographic data is available
on the internet at http://dnb.ddb.de.
ISBN 978-3-85132-675-8
Originaltitel:
Psiche: Platone e Freud. Desiderio, sogno, mania, eros
Erweiterte Neuausgabe
© Firenze University Press, Firenze 2008
© für die deutsche Ausgabe: Verlag Turia + Kant, 2012
Covergestaltung: Bettina Kubanek
Verlag Turia + Kant
A-1010 Wien, Schottengasse 3A/5/DG1
D-10827 Berlin, Crellestraße 14 / Remise
info@turia.at | www.turia.at
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VORBEMERKUNG von Mario Vegetti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
DANKSAGUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
&*/-&*56/( . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
,"1*5&-
%3&*5&*-6/(&/ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
1. Spaltung, Konflikt, Beilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
1. 1 Triebmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
1. 2 Die Belagerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
1. 3 Das Streben nach Harmonie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
2. Zorn und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
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8f/4$)& 53"6.6/%6/#&86445&4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
1. Der unterdrückte Wunsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
1. 1 Ein dunkles Wuchern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
1. 2 Akropolis und Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
2. Der Wunsch in der Revolte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
2.1 Die Bedingungen der Manifestation von Träumen . . . . . 79
2.2 Schreckliche Visionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
2.3 Aus den Ketten befreit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
3. Die Via Regia zum Unbewussten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
3.1 Die Verdrängung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
3.2 Der Traum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
3.3 Das Unbewusste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
4. Abwehrmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
5. Drohend bevorstehende Albträume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
5.1 Anti-repressive Strategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5.2 Das vielköpfige Tier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
,"1*5&-
%*&."/*" %"47&3%3`/(5&6/%%*&,"--*10-*4 . . . . . . . . . . 111
1. Vom Traum zur Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
1.1 Symptomübersichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
2. Diagnostische und therapeutische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . 119
2.1 Freud und die bekannten sokratischen Lehren . . . . . . . 119
2.2 Das Verdrängte und die paideía . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
2.3 Die kallípolis und das Verdrängte . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
,"1*5&-
%&346#-*.*&35&&304. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
1. Hydraulik der Triebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
1.1 Kanäle der Libido . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
2. Eros und Libido . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
2.1 Platonische Libido. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
2.2 Narziss und der Held . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
2.3 Sublimierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
3. Freud und das Gastmahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
3.1 Der regressive Charakter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
3.2 Der die lebendige Substanz erhaltende Eros . . . . . . . . . 150
3.3 Die Ausdehnung der Sexualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
3.4 Eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
4. Die Eigenständigkeit des Phaidros. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
4.1 Der Reiter und das geflügelte Zweigespann. . . . . . . . . . 161
4.2 Das Ross und der Eros . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
,"1*5&-
f#&3%*&.03"-*5`5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
1. Die Aufforderung des Thrasymachos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
2. Über das Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
2.1 Die Tyrannen des Melancholikers . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
3. Über die Ideale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
3.1 Auf der Suche nach Vollkommenheit . . . . . . . . . . . . . . 178
3.2 Durchbrüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
3.3 Metaphysik versus Metapsychologie . . . . . . . . . . . . . . . 184
BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
NAMENSVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
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WPO.BSJP7FHFUUJ
Es ist durchaus möglich, dass der »Fall« Platon und Freud,
also das Studium des Verhältnisses beider Autoren und ihrer
Schriften, zu einem der bedeutsamsten und in gewisser Hinsicht
verblüffendsten Beispiele der Präsenz antiken Denkens an einer
Schlüsselstelle für die Herausbildung unseres modernen Selbstverständnisses avancieren wird – und das nicht zuletzt dank der
erneuerten Aufarbeitung sämtlicher relevanter Materialien, die
der Verfasser mit diesem Buch leistet. Der erörterte Gegenstand
liegt an der Schnittstelle zwischen Rezeptionsgeschichte und Wirkungsgeschichte. Wie sich zeigen wird, muss der Grenzverlauf
zwischen beiden Perspektiven im Licht der Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung verschoben werden.
Fassen wir einmal den bisherigen Stand der Dinge zusammen:
Würde sich die Frage nach dem Verhältnis von Platon und Freud
lediglich im Rahmen einer Rezeptionsgeschichte des antiken
Autors stellen, also mit Blick auf die ausdrücklichen Bezüge, die
bei letzterem zu den Schriften des ersteren vorkommen, käme
man nicht über die Feststellung eines freudschen Interesses an
der Theorie des Eros im Gastmahl hinaus, verbunden mit der
entschiedenen Behauptung, dass diese Theorie eine unmittelbare
Vorstufe für die psychoanalytischen Begriffe der Libido und der
Sublimierung bildet. So vielsagend sie sein mag, hätte diese in
der platonischen, ebenso wie in der psychoanalytischen Literatur
durchaus geläufige Feststellung den wichtigen Überlegungen, die
Gerasimos Santas in seinem 1988 erschienenen Buch ausgeführt
hat nur wenig hinzuzufügen.1
1
Auch maßgebliche neuere Beiträge, wie diejenigen von Traverso, Le Rider
und Oudai Celso, beschränken sich weitgehend auf Freuds explizite Rezeption antiker Autoren.
7
Das Bild verändert sich radikal, wenn man den Horizont auf
eine Untersuchung der Wirkungsgeschichte ausweitet, also auf die
theoretischen Wirkungen, welche die antiken Texte im Denken
des neuen Autors erzielen. Diese Wirkungen gilt es zu untersuchen und in einer begrifflichen und textuellen Vergleichsstudie
nachzuweisen. Freilich muss eine solche Studie über die ausdrücklichen Zitate und Aussagen hinausgehen, die den Gegenstand
der Rezeptionsgeschichte bilden. In diesem zweiten Fall besteht
naturgemäß ein Risiko der Arbitrarität, das mit der Schwierigkeit einhergeht, nicht nur die Textpassagen, sondern auch die
kulturellen Zusammenhänge aufzuspüren, durch die der moderne
Autor seine Kenntnis des antiken Autors erworben hat, was akademische Prägungen, zufällige bzw. indirekte Lektüren, oder im
jeweiligen intellektuellen Umfeld zirkulierende Informationen mit
einschließen kann. Das besagte Risiko lässt sich nicht ganz vermeiden, aber wenigstens eindämmen, indem die Bemühungen um
das Aufstellen direkter Vergleiche von Textstellen und Begriffen,
sowie um eine Gegenüberstellung einzelner theoretischer Bereiche
und komplexer Theoriemodelle vermehrt werden.
Bei einer Gegenüberstellung von Platon und Freud lohnt es
sich jedenfalls, dieses Risiko einzugehen. Bereits angesehene
Gelehrte wie Werner Jaeger und Eric Dodds hatten in der Dreiteilung des Seelenapparates, die Platon im Vierten und Achten
Buch des Staates entwirft (und später in abweichender Form im
Phaidros wie auch im Timaios wiederaufnimmt) einen bedeutsamen, und vermutlich den alleinigen Vorläufer der freudschen
»Topik« erkannt. Die drei »Seelenprinzipien« nach Platon (Vernunft, aggressiver Selbstbehauptungstrieb und Polarisierung
der körperlichen Wünsche), die zueinander in Konflikt stehen,
aber zu einer befriedeten hierarchischen Anordnung fähig sind,
erschienen diesen Gelehrten als Vorläufer der freudschen Einteilung in Über-Ich, Ich und Es, allerdings nicht im Sinne einer in
allen Punkten nachvollziehbaren Entsprechung.
In Weiterführung dieser Ansätze konnte ein Artikel von
Massimo Stella aus dem Jahr 1998 überraschende Übereinstimmungen zwischen den politischen Problemen der ersten Bücher
des Staates und der grundlegenden freudschen Schrift über Das
Unbehagen in der Kultur aufzeigen. Der Problemkreis des Ver-
8
hältnisses von Justiz und Macht, von hierarchischer Gesellschaft
und sozialer Nötigung bildete in beiden Darstellungen den Mittelpunkt und diente nicht nur dem dreiteiligen Seelenmodell im
Vierten Buch des Staates als Hintergrund, sondern auch der systematischen Struktur der freudschen Metapsychologie. Damit war
eine erhebliche Präsenz platonischer Texte in Freuds Auffassung
des Seelenapparates und seiner konfliktträchtigen Ausrichtung,
sowie in der politisch-polemologischen Sprache, in der dieser
beschrieben und verstanden wird, erwiesen. Bis hierher war man
nicht über vornehmlich auf »Indizien« gestützte Untersuchungen
hinausgekommen, die ihrerseits auf genauen Textvergleichen
hinsichtlich der Auswirkungen der platonischen Lehren auf die
Herausbildung des freudschen Denkens beruhten.
Diese Schwelle hat Marco Solinas nun mit seiner Untersuchung überschritten, deren zentrales Thema das Verhältnis zwischen der im Achten und Neunten Buch des Staates erörterten
Traum- und Wunschtheorie (mit den notwendigen Verweisen
auf weitere platonische Werke wie Phaidros und Gastmahl) und
der Konstruktion des freudschen Denkens ist. Auf überzeugende
Weise zeigt der Autor nicht nur, dass sich Freuds große Entdekkung aus der Traumdeutung, nämlich der »Königsweg zum Unbewussten«, in den genannten Dialogen in weiten Teilen vorweggenommen findet, sondern auch, dass Freud davon Kenntnis gehabt
haben muss. Inwiefern diese Tatsache ein entscheidendes Novum
bedeutet, wird in der Einleitung ausführlich dargelegt. Schließlich
fanden sich Platons Thesen in wissenschaftlichen Arbeiten erläutert, die Freud zugänglich waren und aus denen er zitierte; etwa
die Werke von Büchsenschütz (1868) und Radestock (1879),
sowie die grundlegende Abhandlung von Brentano (1874); zudem
war der Wortlaut der Schlüsselstelle des Neunten Buches als ausgedehntes Zitat in Ciceros De divinatione enthalten, einem Werk,
auf das Freud ausführlich eingegangen ist.
Worin besteht also das platonische Erbe, das Freud bekannt
war und das er so fruchtbringend eingesetzt hat? Den Hintergrund bildet die Theorie der konfliktträchtigen Spaltung der Subjektivität, die in einer befriedeten Hierarchie neu zusammengesetzt werden kann. Es ist dasselbe Thema, das in einem anderen
Sprachzusammenhang als »Bürgerkrieg des Selbst« bezeichnet
9
wurde. Im Zentrum von Solinas’ Untersuchung steht jedoch das
Herzstück des Neunten Buches aus Platons großem Dialog, jenes
Drama der Wünsche, das die Grundlagen einer Anthropologie,
einer Politik und einer Ethik bildet, im weiteren Sinne als Formen
therapeutischer Praxis für die Subjektivität und für die Gemeinschaft verstanden, an die sie gleichsam eineindeutig gefesselt ist.
Hier trifft man bei Platon und Freud auf die überraschendsten
Ähnlichkeiten, die freilich – wie Solinas betont – augenscheinliche
theoretische und begriffliche Unterschiede aufweisen. Das Drama
der Wünsche entfaltet sich zwischen Unterdrückung, Verdrängung, Abwehrstrategien und möglicher Sublimierung. Letztere
lässt sich durch jene Vorrichtung zur hydraulischen Kanalisierung
der Triebenergien erreichen, die einen weiteren, entscheidenden
Berührungspunkt der beiden Entwürfe des psychischen Apparates
ausmacht. Hier zeigt sich einmal mehr Platons Thematisierung
des Traumes als Wiederauftreten der unterdrückten Wünsche,
woraus bei Freud die Via Regia zum Unbewussten hervorgeht.
Vor diesem Hintergrund schlussfolgert Solinas in eindrucksvoller Deutlichkeit: »Die Übereinstimmung von Via Regia und
Via Platonica legt somit die Nervenstränge der gesamten abendländischen Identität frei. Denn diese Überlagerung bezeugt wie
die theoretischen Grundlagen der psychoanalytischen Revolution
bereits seit der Antike vorgeformt wurden. Nicht allein die Vorwegnahme des Königswegs, die ihm zugrunde liegende Untersuchung der Formen der Unterdrückung des Wunsches und der
korrelierten psychopathologischen Abweichungen, sondern auch
die positiven Steuerungs- und Kontrollstrategien des Wunsches,
auf denen die Möglichkeiten zur Erreichung eines gesunden psychischen Gleichgewichts beruhen, weisen in der Tat weitgehende
Übereinstimmungen auf: Wünsche, Libido und Eros, eingeteilt in
ein beinahe identisches Triebmodell, gestalten sich als wesentlich
plastische Triebkräfte; sie lassen sich kanalisieren und sublimieren«.
Warum sollte Freud die tiefe Schuld, in der er Platon gegenüber bezüglich der Verknüpfung von Traum und Wunsch
stand, verschwiegen und so auch dessen »Erstgeburtsrecht« der
Via Regia verborgen haben? So formuliert suggeriert die Frage
bereits eine Antwort: Freuds Verschwiegenheit lässt sich – ähn-
10
lich wie bei vielen anderen antiken und modernen Autoren – auf
den mehr oder weniger unbewussten Wunsch zurückführen, die
Ursprünglichkeit eigener Erkenntnisse nicht geschmälert zu sehen.
Eine wohlwollendere, aber ebenso wenig nachprüfbare Annahme,
könnte hingegen von einer beinahe unterschwelligen Verarbeitung
der platonischen Lehren ausgehen, die eine weitreichende Übereinstimmung zur Folge hat, bei der jedoch die fremde Urheberschaft unbeachtet bleibt.
Nachdem festgestellt wurde, was Freuds Theorie an platonischem Gedankengut enthält, dürfen gewiss auch die grundlegenden Abweichungen nicht unbeachtet bleiben, die letzteren von
ersterem unterscheiden.
In Solinas’ Analyse liegen die beiden Hauptunterschiede in der
therapeutischen Strategie und in der ethischen Haltung. Da die
Psyche, verglichen mit dem sozialen Umfeld, aufgrund ihrer Konstitution leicht zugänglich erscheint, ist die Therapie für Platon
vorwiegend politisch-pädagogischen Ursprungs: Die politische
Gemeinschaft vermag in der individuellen Seele die »gerechte«,
verbesserte und befriedete Hierarchie zwischen den in Konflikt
stehenden Elementen wiederherzustellen; so kann sie das Drama
der Wünsche aufhalten (jedoch stets nur vorübergehend, angesichts des angeborenen Widerstands gegen die anthropologische
Konstitution des Subjekts, dem nach der außergewöhnlichen
Metapher aus dem Neunten Buch gleichzeitig ein Mensch, ein
Löwe und ein vielköpfiges Tier innewohnen). Geschieht dies
nicht, zerstört dieses Drama letztlich die politische Gemeinschaft
und sein unabwendbares Ziel ist die finstere Gestalt des Tyrannen, der sowohl dem erotischen Delirium als auch der Paranoia
der Macht verfallen ist. Wie der Solinas wohl vertraute Autor
Axel Honneth beobachtet hat, produziert dagegen bei Freud das
Vorherrschen der ödipalen Struktur tendenziell eine Isolierung
des Subjekts in seinem familiären Umfeld, und die therapeutische
Strategie nimmt dann die Form der analytischen Praxis unter
vier Augen an (wobei die freudsche Metapsychologie, wie schon
erwähnt, weitgehend auf Figuren und Ausdrucksweisen politischpolemologischer Herkunft zurückgreift).
Im Bereich der Ethik wird der Unterschied zwischen dem
Eudämonismus Platons (der ihn auf komplizierte Weise mit der
11
gesamten antiken Moral verbindet) und den kantianischen Voraussetzungen der freudschen Instanz des Über-Ichs umrissen,
wobei das Verhältnis von Moral und Glück in der Theorie des
Ich-Ideals wenigstens teilweise wieder aufzuleben scheint.
Solinas’ Buch unterstreicht also einerseits die ungebrochene
theoretische Wirkkraft von Platons Philosophie innerhalb eines
ganzen Feldes des abendländischen Denkens, und andererseits
deckt sie die »klassischen« Wurzeln im Denken Freuds auf, dessen
Eigenständigkeit hier nicht in Frage gestellt, sondern im Flussbett
einer großen philosophischen Tradition neu verortet werden soll.
Der gewählte Ansatz entspricht gleichsam einer Reihe von Spiegelungen, durch welche das Verständnis beider Autoren erweitert
und angemessen problematisiert wird.
Besser noch entspricht er einem ertragreichen hermeneutischen Zirkel, der auch zum besseren Verständnis des Bildes von
Platon beiträgt. Mit Hilfe des freudschen »Spiegels« wird dieses
der erhebenden, letztlich aber banalen Darstellung entzogen, auf
die es von einer langen und bis heute fortwirkenden Tradition
reduziert wurde, um es stattdessen für sein ursprüngliches Spannungsfeld einer Anthropologie, Psychologie und Politik des Wunsches zurückzugewinnen.2 Eben dieser Spiegel unterstreicht die
anhaltende theoretische Relevanz der im Vierten Buch des Staates
entwickelten seelischen Dreiteilung, und zwar ungeachtet aller
neueren Deutungsansätze, die sie innerhalb der Entwicklung des
platonischen Denkens als vorläufig und nebensächlich ansehen,
und stattdessen das eingängigere Bild der Seele als einheitliche
Entität bevorzugen, das im Phaidon entwickelt wird, und im
Zehnten Buch des Staates nochmals in recht enigmatischer Weise
anklingt.3
2
3
12
Siehe mein Aufsatz zu diesem Thema: M. Vegetti, Anthropologies of Pleonexia in Plato, in Plato Ethicus, hrsg. von M. Migliori, Academia Verlag,
Sankt Augustin 2004, S. 315-326.
Zum aktuellen Diskussionsstand über die Problematik der Seele bei Platon sei auf folgende Aufsatzsammlung verwiesen: Interiorità e anima. La
psyché in Platone, hrg. von M. Migliori, L. Napolitano, A. Fermani, Vita
e Pensiero, Milano 2007.
Darüber hinaus trägt die Feststellung eines Zusammenhangs
zwischen freudschem Denken und platonischer Tradition zum
besseren Verständnis der Eigenständigkeit des psychoanalytischen
Horizonts gegenüber dem in weiten Teilen der Psychologie sowie
der Psychobiologie des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Aristotelismus bei. Aufgrund dieser beiden Ergebnisse erweist sich Solinas’ Arbeit mit Sicherheit nicht nur für Kenner der Psychoanalyse
als bedeutend, sondern auch für den allgemeiner interessierten
Leser, der die faszinierenden Bindeglieder kennenlernen will, die
antike Traditionen entweder ganz explizit, oder im Verborgenen,
mit dem Wissen der Gegenwart verbinden.
Mailand, im September 2011
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Die Fragestellung dieser Studie begleitet mich in meinen Forschungen nunmehr seit über einem Jahrzehnt und wurde in diesem Zeitraum bis zuletzt durch stets neue Lektüren und Denkanstöße hinterfragt und erweitert. Die vorliegende Ausgabe erscheint
gegenüber der italienischen Ausgabe von 2008 in einigen wesentlichen Punkten verändert, beginnend mit der ausgedehnten Einleitung, in der ich den Ansatz meiner bislang unveröffentlichten Forschungen der letzten drei Jahren darlege und ferner die weiteren
Neuerungen erläutere. Unter den Personen, die mir bei der Arbeit
an diesem Werk ihre Hilfe und Unterstützung entgegengebracht
haben gilt mein besonderer Dank Walter Leszl, der das Vorhaben von Anfang förderte und mir nicht nur als Betreuer meiner
Abschlussarbeit und als Doktorvater, sondern auch bei meinem
Einstieg in Forschung und Lehre weiter beratend zur Seite stand;
Mario Vegetti, dem ich nicht nur zahlreiche wertvolle Hinweise
verdanke, sondern auch die Aufnahme eines Artikels in den von
ihm herausgegebenen ausführlichen Kommentarband zu Platons
Staat, und der mich hier nun mit einer ergänzten Vorbemerkung
beehrt; Christof Rapp, der mich dazu aufforderte, einen Artikel
zu Platon und Freud für das »Philosophische Jahrbuch« einzureichen, bei dessen Redaktion ich mich für die Genehmigung eines
teilweisen Nachdrucks bedanken möchte; Gherardo Ugolini, der
mich seinerseits aufforderte, einen thematisch affinen Beitrag für
ein von ihm herausgegebenes Buch zu verfassen. Darüber hinaus
danke ich, sei es für ihre Hinweise, sei es für ihren Zuspruch,
Adriano Bugliani, Marta Caneva, Jacqueline Carroy, Sergio
Caruso, Klaus Corcilius, Fulvia De Luise, Volker Gerhardt, Maurizio Gribaudi, Rolf Haubl, Jan-Christoph Heilinger, Axel Honneth, Rahel Jaeggi, Valentina Leonhard, Giovanni Mari, Elena
Pulcini, Anja Röcke, Antonello Schiacchitano, Giuseppe Tumino,
Silvia Vegetti Finzi, Sergio Vitale, und schließlich Anna Pellegrino
und Fiorenza Serra. Ebenso gilt mein Dank Antonio Staude für
die umsichtige Anfertigung der Übersetzung, dem Verlag Firenze
15
University Press für die Erteilung der Lizenz für die deutschsprachige Ausgabe, sowie Ingo Vavra für seine begeisterte Aufnahme
des Manuskripts im Verlag Turia + Kant.
Paris, im März 2012
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Erst am Ende der Traumdeutung beruft sich Freud auf der vorletzten Seite der ersten Auflage zum ersten und einzigen Mal auf
Platon wenn er schreibt, es wäre angebracht »des Wortes von
Plato zu gedenken, dass der Tugendhafte sich begnügt, von dem
zu träumen, was der Böse im Leben thut«.1 Er tut dies mit Blick
auf die »ethische Bedeutung der unterdrückten Wünsche«, die
sich im Traum enthüllen, indem er an den Fall eines nicht näher
bezeichneten römischen Kaisers erinnert, der einen seiner Untertanen aufgrund eines geträumten Majestätsverbrechens hinrichten
ließ. Dieses späte und unerwartete Zitat, das als abschwächendes
Echo der die Eigenschaften des Tyrannen und die Wirkungsweise
des Traumes erörternden Passage aus dem Neunten Buch des
Staates dient, beinhaltet eine zweigeteilte hermeneutische Problemstellung, die zur Rekonstruktion sowohl der theoretischen
als auch der historiographischen Aspekte der Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse von höchster Wichtigkeit ist.
Ein theoretisches Problem deshalb, weil der berühmte
»Königsweg zum Unbewussten«, wie er in der Traumdeutung
umrissen wird, seinem zentralen Gehalt nach eine Neuauflage
von Platons Weg im Staat darstellt, durch den dieser mittels der
Traumanalyse das Wesen einer spezifischen Form unterdrückter
Wünsche zu bestimmen weiß. Die Analyse der Träume und der
entsprechenden Modalitäten der Steuerung, Kontrolle und Unter-
1
S. Freud, Die Traumdeutung, Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1900,
S. 370: »Und selbst, wenn ein Traum, der anders lautete, diese majestätsverbrecherische Bedeutung hätte, wäre es noch am Platze, des Wortes von
Plato zu gedenken, dass der Tugendhafte sich begnügt, von dem zu träumen, was der Böse im Leben thut. Ich meine also, am besten gibt man die
Träume frei. Ob den unbewussten Wünschen Realität zuzuerkennen ist,
kann ich nicht sagen«; die Passage ist auch in die späteren Auflagen eingegangen, vgl. S. Freud, Die Traumdeutung, Gesammelte Werke, Bd. 2/3, S.
625.
17
drückung des Wunsches bietet den Schlüssel zu jener Sphäre der
Seele, die sich für gewöhnlich der Aufmerksamkeit des sogenannten Bewusstseins entzieht. Diesen Bereich verortet Platon außerhalb der Pforten der Akropolis der Seele und siedelt darin diejenigen unterdrückten Wünsche an, die sich im Traum kundtun.
Die freudsche Via Regia ist die Via Platonica. Die Traumanalyse
eröffnet darüber hinaus auch den Weg zur Rekonstruktion von
Prozessen, die zu den psychopathologischen Entartungen führen,
denen der tyrannische Mensch ausgesetzt ist. Sobald die Wünsche
aus den Ketten befreit sind, die ihr Auftreten und ihre Befriedigung auf das Traumleben übertragen, führen die vorgängig unterdrückten Wünsche zu einem im engeren Sinne manischen und
melancholischen Zustand. Auch die von Freud entworfene systematische Verbindung zwischen Wunsch, Traum und Wahn wird
hier vorweggenommen. Darüber hinaus wird, angesichts einer
Seele, die aufgrund ihrer Beschaffenheit Wunden und Konflikten
ausgesetzt ist, der von Platon angezeigte Weg zur Erreichung eines
gesunden seelischen Gleichgewichts auf der metapsychologischen
Ebene mittels des Gegensatzes von Unterdrückung und Fesselung
der Wünsche und ihrer Erziehung und Umstimmung bestimmt.
Auch der grundlegende Kontrast von Verdrängung und Sublimierung wird so in seinen wesentlichen Zügen vorweggenommen.
Ein historiographisches Problem deshalb, weil die theoretischen Grundlagen dieser bedeutsamen Vorwegnahmen im
Neunten Buch des Staates umrissen werden, aus welchem auch
das von Freud zitierte Wort Platons stammt. Ausgelöst wird diese
Assoziation durch den von Friedrich Scholz2 erwähnten Bericht
2
18
Vgl. F. Scholz, Schlaf und Traum: eine populär-wissenschaftliche Darstellung, Mayer, Leipzig 1887, S. 36; S. Freud, Die Traumdeutung, erste
Auflage, zit., S. 46: »Scholz (S. 36): »Im Traum ist Wahrheit, trotz aller Maskierung in Hoheit oder Erniedrigung erkennen wir unser eigenes
Selbst wieder... Der ehrliche Mann kann auch im Traume kein entehrendes
Verbrechen begehen, oder wenn es doch der Fall ist, so entsetz er sich
darüber, als über etwas seiner Natur Fremdes. Der römische Kaiser, der
einen seiner Unterthanen hinrichten ließ, weil diesem geträumt hatte, er
habe dem Kaiser den Kopf abschlagen lassen, hatte darum so Unrecht
nicht, wenn er dies damit rechtfertigte, daß, wer so träume, auch ähnliche
Gedanken im Wachen haben müsse. Von etwas, das in unserem Innern
über einen nicht näher bezeichneten römischen Kaiser und den
Traum eines seiner Untertanen, die jener berühmten, und Freud
wahrscheinlich bekannten Episode des griechischen Tyrannen
Dionys des Älteren von Syrakus nachempfunden ist.3 Dieser hatte
seinen Offizier Marsyas hinrichten lassen, weil er ihm in seinem
eigenen Traum die Kehle durchgeschnitten hatte, und zwar mit
der Begründung, dass er eine Mordtat, die ihm im Traum erschienen ist, notwendigerweise im Wachzustand ersonnen haben muss.
Plutarch erzählt die Episode in seinem Leben des Dion, das auch
Angaben über Platons Aufenthalte in Syrakus enthält, und wo
eine Vielzahl von Elementen aus der platonischen Erörterung
des Tyrannen im Staat eingeflossen ist.4 Kurzum, die Verbindung
zwischen dem Wort Platons und der Episode vom geträumten
Majestätsverbrechen lässt sich dadurch erklären, dass sich Freud,
wenn auch möglicherweise nur dunkel, an Plutarchs Schilderung
des Tyrannen aus Syrakus erinnern konnte.5 Jedenfalls hat Platon
3
4
5
keinen Raum haben kann, sagen wir deshalb auch bezeichnenderweise: Es
fällt mir auch im Traum nicht ein««.
Vgl. bspw. A. Lemoine, Du sommeil au point du vue physiologique et psychologique, Baillière, Paris 1855, wo die Episode auf Seite 236 vollständig
wiedergegeben wird; auch dieses Werk findet sich bereits in der ersten Auflage der Traumdeutung zitiert.
Vgl. Plutarch, Große Griechen und Römer, Bd. IV, eingel. u. übers. von
K. Ziegler, Artemis, Zürich 1957, S. 14-15 (Vitae parallelae, Dio. 9,3.7-8,
961-962): »Denn so misstrauisch und argwöhnisch gegen alle Menschen
und aus Furcht so sehr auf seiner Hut war der ältere Dionysios, dass er
[…] einen gewissen Marsyas, der von ihm befördert und in eine Offizierstelle gesetzt worden war und der dann geträumt hatte, dass er ihn töte,
hinrichten ließ mit der Begründung, dass aus seinen Gedanken und Überlegungen im Wachen dieses Gesicht in seinen Traum gedrungen sei. Eine
so verängstigte, aus Furchtsamkeit von so vielen Übeln geplagte Seele hatte
der Mann, der sich über Platon erzürnte, weil er ihn nicht für den tapfersten aller Menschen erklärt hatte.« Zum besonderen Charakter dieser
Episode, bei welcher »der Träumende selbst eine andere Person ermordet«
vgl. G. Weber, Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike,
Franz Steiner, Stuttgart 2000, S. 317-318.
Ein detaillierter Bericht über Dionys den Älteren, Dionys den Jüngeren,
und Dion, sowie über die Reisen von Platon nach Syrakus findet sich
bspw. in Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, hrg. von J.
Oeri, Sperman, Berlin-Stuttgart 1898, Bd. I, S. 198-213, 357-359, über
19
im Neunten Buch des Staates explizit dargelegt, dass der Tyrann
diejenigen Wünsche tatsächlich in die Tat umsetzt, die sonst
gemeinhin dem Traum angehören:
[So] werden die alten Ansichten, die er von Kind auf über Tugend und
Laster hatte, jene Ansichten, die der gewöhnlichen Anschauung über
Rechtlichkeit entsprachen, überwältigt werden von den neuerdings erst
aus der Knechtschaft befreiten, die im Bunde stehen mit Eros und dessen
Leibwache bilden. Diese konnten früher nur im Traum sich freimachen,
wenn er schlief, als er noch unter dem Druck der Gesetze und seines Vaters
innerlich demokratisch lebte. Seit er aber unter die tyrannische Herrschaft
des Eros geraten ist, wie er es vorher nur ab und zu im Traum war, wird
er vor keinem schrecklichen Mord, vor keiner Speise und keiner Tat mehr
zurückschrecken. Vielmehr lebt der Eros in ihm nach Tyrannenart in voller Ungebundenheit und Gesetzlosigkeit, und da er selbst Alleinherrscher
ist, wird er den, der ihn besitzt, wie einen Staat zu jedem Wagnis treiben.
Hiervon hält er sich selbst und den lärmenden Schwarm seiner Umgebung
am Leben [...] (574d-575a).6
Eine Auffassung, die ihrerseits auf einer strengen Traumanalyse beruht, deren Kernpunkte in einer entscheidenden Passage zu
Anfang des Neunten Buches dargelegt werden:
6
20
dieses Werk des Basler Humanisten schreibt Freud am 30.1.1899: »Zu
meiner Erholung lese ich Burckhardts Griechische Kulturgeschichte, die
mir unerwartete Parallelen liefert. Meine Vorliebe für das Prähistorische
in allen menschlichen Formen ist im Gleichen geblieben.«, und später, am
6.2.1899, schreibt Freud wiederum: »Ich bin tief in Burckhardt’s Griechicher Kulturgeschichte.«, vgl. S. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 18871904, hrg. von J. M. Masson, bearb. d. dt. Fassung von M. Schröter, Transkription von G. Fichtner, 2. Aufl., Fischer, Frankfurt/M 1999, S. 374,
377.
Der Staat (Politeia) wird grundsätzlich nach der Übertragung von O. Apelt
zitiert: Platon, Sämtliche Dialoge. Bd. V, Meiner, Hamburg 1961 (Durchges. Fassung der 1. Ausgabe Meiner, Leipzig 1923). Berücksichtigt werden
außerdem: F. Schleiermacher (1828), in Platon, Sämtliche Werke, Politeia,
Bd. V, Frankfurt/M, Leipzig 1991; W. Andreae, Platons Staatschriften.
Der Staat, Bd. VI, Jena 1925; K. Vretska, Platon, Der Staat, Reclam, Stuttgart 19822; R. Rufener, Platon, Der Staat/Politeia, Griechisch-Deutsch,
Einführung, Erläuterungen, Inhaltsübersicht von Th. A. Szlezák, Artemis
& Winkler, Düsseldorf 2000; A. Horneffer, Platon, Der Staat, Kröner,
Stuttgart 1973.
Von den nicht-notwendigen Lüsten und Wünschen scheinen mir einige
wider Gesetz und Ordnung zu sein; sie sind zwar vermutlich einem jeden
angeboren; werden sie aber von den Gesetzen und besseren Trieben zusammen mit der Vernunft gehörig in Zucht gehalten, so verschwinden sie bei
einigen Menschen entweder völlig oder bleiben nur in geringer Zahl und
schwach an Kraft zurück, bei anderen dagegen entwickeln sie sich zu umso
größerer Kraft und Fülle. – Und was sind das für welche, die du dabei im
Sinn hast? – Diejenigen, die sich im Schlaf regen, wenn der eine Seelenteil,
der vernünftige, gesittete Herrscher über jenen andern ruht; der tierische
und wilde dagegen mit Speise oder Trank gefüllt, weiß sich vor Unbändigkeit nicht zu lassen, schüttelt den Schlaf ab und sucht loszustürmen und
seinen Trieben zu frönen. […]. In solchem Zustand scheut er bekanntlich
vor nichts zurück, als sei jegliches Schamgefühl und jegliche Einsicht ihm
völlig abhandengekommen. Denn er bedenkt sich keinen Augenblick, der
eigenen Mutter, wie er wähnt, beizuwohnen oder irgendwelchem anderen Wesen, sei es Mensch, Gott oder Tier, und jede Blutschuld auf sich
zu laden und jeder Speise zuzusprechen. Mit einem Wort, es gibt keine
Unvernünftigkeit und keine Unverschämtheit, auf die er sich nicht einlässt
(571a-d).
Grundsätzlich erlaubt die Traumanalyse, Vorhandensein und
Wesen der besonderen Wünsche zu erkennen, die unterdrückt
werden und sich im Wachzustand der Aufmerksamkeit des
Bewusstseins entziehen. Sie tauchen ausschließlich in onirischer
Form auf, und zwar dann, wenn sich die Seelenteile, in die sie
verbannt wurden, ausdrücken können. Diese profitieren dabei
vom Schwächerwerden der Kontrollinstanzen und legen so ihre
schrecklichen Züge frei, einschließlich des sogenannten ödipalen
Traums. Die Analogie zur berühmten freudschen Theorie, wonach
im Traum unterdrückte und verdrängte Wünsche auftreten und
der Traum somit den Königsweg zur Erkenntnis des Unbewussten
darstellt liegt auf der Hand; von der gewiss nicht unbedeutenden
Tatsache abgesehen, dass hier praktisch alle Träume in diesem
Sinne gedeutet werden, also nach den folgenden Ausführungen
aus der ersten Ausgabe der Traumdeutung:
Wenn wir uns mit einem Minimum von völlig gesichertem Erkenntniszuwachs begnügen wollen, so werden wir sagen, der Traum beweist uns,
dass das Unterdrückte auch beim normalen Menschen fortbesteht und
psychischer Leistungen fähig bleibt. Der Traum ist selbst eine der Äußerungen dieses Unterdrückten; nach der Theorie ist er es in allen Fällen,
nach der greifbaren Erfahrung wenigstens in einer großen Anzahl, welche
die auffälligen Charaktere des Traumlebens gerade am deutlichsten zur
21
Schau trägt. Das seelisch Unterdrückte, welches im Wachleben durch die
gegensätzliche Erledigung der Widersprüche am Ausdruck gehindert und
von der inneren Wahrnehmung abgeschnitten wurde, findet im Nachtleben
und unter der Herrschaft der Kompromissbildungen Mittel und Wege, sich
dem Bewusstsein aufzudrängen.
»Flectere si nequeo Superos, Acheronta movebo.« 7
Auf diese Passage lässt Freud in der zweiten Auflage des
Werkes von 1909 eine Definition folgen, die später noch größere
Berühmtheit erlangen sollte:
Die Traumdeutung aber ist die Via Regia zur Kenntnis des Unbewussten
im Seelenleben.8
Diese Passagen bieten bereits ein erstes Zeugnis dafür, dass
es sich bei der Via Regia um eine Via Platonica handelt. Darüber hinaus geht aus der Lektüre des Staates, und insbesondere
aus der Darstellung des degenerativen, zum Wahn des Tyrannen
führenden Prozesses hervor, wie Platon stets auf die in negativer
Hinsicht entscheidende Rolle der Wunschunterdrückung im Rahmen innerpsychischer Konflikte zurückkommt. Im Achten Buch
wird beispielsweise der vom oligarchischen zum demokratischen
Menschen führende Prozess folgendermaßen beschrieben:
Und wenn nun die oligarchische Seite in ihm wiederum Gegenhilfe erhält,
vielleicht vonseiten des Vaters oder der anderen Angehörigen, die ihn mahnen und tadeln, da kommt es dann vermutlich zu einem Wechselspiel der
Parteiungen, und er gerät in Streit mit sich selbst. – Unvermeidlich. – Und
das eine Mal unterliegt vermutlich die demokratische Sinnesrichtung
der oligarchischen, einige der dahingehörigen Wünsche werden abgetötet, andere werden ausgetrieben, wenn sich in der Seele des Jünglings ein
gewisses Schamgefühl regt, und so findet er sich wieder zurecht. – Ja, das
kommt wohl vor. – Dann aber keimen wieder andere, den ausgetriebenen
7
8
22
S. Freud, Traumdeutung, zit., S. 613 [erste Auflage, zit., S. 362]. Das
lateinische Motto zu seiner Traumdeutung hat Freud aus Vergils Aeneis
(VII, V. 312) entlehnt. Es handelt sich um die Worte der Juno angesichts
des verheerenden Ausgangs des trojanischen Krieges. Dt.: »Beug’ ich die
Himmlischen nicht, so beschwör’ ich Acherons Mächte.« Vergil, Aeneis,
Lateinisch-Deutsch, eingel. u. übertr. von A. Vezin, Aschendorff, Münster
2006, S. 347.
S. Freud, Traumdeutung, zit., S. 613.
verwandte Wünsche auf, mehren sich und erstarken, weil sein Vater von
der Erziehung nichts versteht. – Ja, so pflegt es wohl zu gehen. – Sie ziehen
ihn also wieder zu den alten Bekannten hin und erzeugen im heimlichen
Umgang mit diesen eine reiche Nachkommenschaft. – Gewiss. – Und
schließlich bemächtigen sie sich, wie ich glaube, der Burg in der Seele des
Jünglings, wenn sie merken, dass ihr die richtigen Verteidiger fehlen, nämlich gute Kenntnisse, edle Bestrebungen und vernunftgemäße Grundsätze,
die ja doch die besten Hüter und Wächter sind in der Gedankenwelt gottgeliebter Männer (559e-560 a).
Die Vorherrschaft des Eros im Tyrannen, der sich im Wachzustand ebenso verhält wie im Traum, steht also für die letzte Phase
eines degenerativen Prozesses, in welchem die das Subjekt verletzenden Wünsche ursprünglich »unterdrückt« und »verbannt«
werden, und nicht, wie bei der Darstellung des Oligarchen erläutert, »umgestimmt« und »beruhigt« (554d). Diese Verbannung
erlaubt es ihnen, in einem durch die onirische Manifestation
bezeugten, dunklen innerpsychischen Bereich zu gedeihen und
bisweilen zur Eroberung der Akropolis der Seele zu gelangen, die
inzwischen nicht mehr von Hütern und Wächtern bewacht wird.
Im Anschluss an die Eroberung bewirken sie schließlich einen
buchstäblich psychopathologischen Zustand, und der tyrannische Mensch, »den seine Wünsche und Leidenschaften ganz toll
machen« (578a) wird zugleich zum »Melancholiker« (573c).
Unter diesen Voraussetzungen erweist sich die Nähe zu den
eigentlichen Kerngedanken von Freuds psychoanalytischem
Gebäude als noch zwingender. Man ziehe beispielsweise die eindrucksvolle Passage heran, wo Freud in der ersten Ausgabe der
Traumdeutung den von den unbewussten Wünschen hinsichtlich
des Traumes und der Psychosen ausgeübten Druck beschreibt und
sich dabei der Metapher einer durch einen Wächter bewachten
Festung bedient:
Die unbewussten Wunschregungen streben offenbar auch bei Tag sich geltend zu machen, und die Tatsache der Übertragung sowie die Psychosen
belehren uns, dass sie auf dem Wege durch das System des Vorbewussten zum Bewussten und zur Beherrschung der Motilität durchdringen
möchten. In der Zensur zwischen Ubw und Vbw, deren Annahme uns
der Traum geradezu aufnötigt, haben wir also den Wächter unserer geistigen Gesundheit zu erkennen und zu ehren. Ist es nun nicht eine Unvorsichtigkeit des Wächters, dass er zur Nachtzeit seine Tätigkeit verringert,
23
die unterdrückten Regungen des Ubw zum Ausdruck kommen lässt, die
halluzinatorische Regression wieder ermöglicht? Ich denke nicht, denn
wenn sich der kritische Wächter zur Ruhe begibt, – wir haben die Beweise
dafür, dass er doch nicht tief schlummert – so schließt er auch das Tor zur
Motilität. Welche Regungen aus dem sonst gehemmten Ubw sich auch
auf dem Schauplatz tummeln mögen, man kann sie gewähren lassen, sie
bleiben harmlos, weil sie nicht imstande sind, den motorischen Apparat in
Bewegung zu setzen, welcher allein die Außenwelt verändernd beeinflussen kann. Der Schlafzustand garantiert die Sicherheit der zu bewachenden
Festung. Minder harmlos gestaltet es sich, wenn die Kräfteverschiebung
nicht durch den nächtlichen Nachlass im Kräfteaufwand der kritischen
Zensur, sondern durch pathologische Schwächung derselben oder durch
pathologische Verstärkung der unbewussten Erregungen hergestellt wird,
so lange das Vorbewusste besetzt und die Tore zur Motilität offen sind.
Dann wird der Wächter überwältigt, die unbewussten Erregungen unterwerfen sich das Vbw, beherrschen von ihm aus unser Reden und Handeln,
oder erzwingen sich die halluzinatorische Regression und lenken den nicht
für sie bestimmten Apparat vermöge der Anziehung, welche die Wahrnehmungen auf die Verteilung unserer psychischen Energie ausüben. Diesen
Zustand heißen wir Psychose.9
Kurz, ebenso wie sich bei Platon diejenigen unterdrückten
Wünsche, die gemeinhin im Traum auftreten, hinter dem Rücken
des Bewusstseins stärken und schließlich zur Eroberung der
Akropolis der Psyche gelangen, wobei sie zu Manie und Melancholie führen, können die gemeinhin im Traum auftretenden verdrängten Wünsche bei Freud die psychische Festung erobern und
zur Psychose führen. Die von Platon skizzierte systematische Korrelation des Traums mit dem Wahnsinn geht also nicht nur weit
über das von Freud zitierte, gutmütige und mithin naive »Wort«
hinaus, sondern auch über jene Verbindung, die er 1905 zwischen der Tollheit der römischen Cäsaren (und sinngemäß auch
der griechischen Tyrannen), den hysterischen Phantasien und den
Nachtträumen zieht:
[...], dass die unbewussten Phantasien der Hysteriker den bewusst durchgeführten Befriedigungssituationen der Perversen inhaltlich völlig entsprechen, und wenn man um Beispiele solcher Art verlegen ist, braucht man
sich nur an die welthistorischen Veranstaltungen der römischen Cäsaren zu
erinnern, deren Tollheit natürlich nur durch die uneingeschränkte Macht-
9
24
S. Freud, Traumdeutung, zit., S. 573 [erste Auflage, zit., S. 334].
fülle der Phantasiebildner bedingt ist. Die Wahnbildungen der Paranoiker
sind ebensolche, aber unmittelbar bewusst gewordene Phantasien […].10
Ausgehend von dieser Reihe punktueller und überaus prägnanter Analogien, deren theoretische Haltbarkeit den zentralen
Punkt dieser Arbeit ausmachen wird, und durch den Verweis auf
das Neunte Buch in der ersten Auflage der Traumdeutung, drängt
sich unverzüglich die Frage nach der Plausibilität der Annahme
auf, dass Freud die Tragweite der platonischen Auffassung
zunächst erkannte, dann aber die antike Prägung der Via Regia
verschwiegen hat, indem er Platons Wort zwar in Erinnerung
rief, jedoch zugleich die entscheidende Bedeutung des Staates
marginalisierte. Sollte man dem entgegen vielleicht annehmen,
dass Freud selbst, im Rahmen seiner langjährigen Studien zur
Hysterie, zur Hypnose und zum Unbewussten11 aufgrund seiner
Kenntnis des Staates eine eigene Intuition der Via Regia gehabt
haben mag? Diese Annahme lässt die These außer Acht, wonach
alle Träume Wunscherfüllungen sind, berücksichtigt aber den
zentralen Gedanken, dass die Traumanalyse den Königsweg zur
Bestimmung derjenigen Wünsche darstellt, die zuvor unterdrückt
waren und sich der Aufmerksamkeit des sogenannten Bewusstseins entziehen, um schließlich zu einer meist unsichtbaren Sphäre
der Seele vorzudringen. Außerdem beachtet sie die Tatsache, dass
eben dieser Weg zugleich den Zugang zur Untersuchung besonderer psychopathologischer Umstände eröffnet. Die Plausibilität dieser Annahme verhält sich jedenfalls unmittelbar proportional zu
10
11
S. Freud, Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität,
GW, Bd. 7, S. 191.
Auch hierzu besteht eine ausufernde Sekundärliteratur, weshalb ich mit
der Nennung des ersten relevanten Standardwerks beginne: H. F. Ellenberger, The Discovery of the Unconscious. The History and Evolution of
Dynamic Psychiatry, Basic Books, New York 1970, dt. Übers. Die Entdeckung des Unbewussten, Huber, Bern 1973. Weitere gelungene Arbeiten
folgten, darunter: A. Mayer, Mikroskopie der Psyche. Die Anfänge der
Psychoanalyse im Hypnose-Labor, Wallstein, Göttingen 2002; S. Goldmann, Via Regia zum Unbewussten. Freud und die Traumforschung im
19. Jahrhundert, Psychosozial-Verlag, Gießen 2003; A. Nicholls, M. Liebscher (Hrgg.), Thinking the Unconscious. Nineteenth-Century German
Thought, Cambridge University Press, Cambridge 2010.
25
der Möglichkeit, Beweise zu finden, die für eine gewisse Vertrautheit des jungen Freud mit dem platonischen Hauptwerk sprechen.
Tatsächlich existieren solche Beweise und es wird zu zeigen sein,
dass es mindestens drei Quellen gibt, die unzweideutig belegen,
dass Freud in einem bestimmten Zeitraum, der mit Sicherheit vor
Erscheinen der Traumdeutung lag, Gelegenheit hatte, einen Teil
der entscheidenden Stelle aus dem Neunten Buch zu lesen, wahrscheinlich auch die betreffende Stelle insgesamt, jedenfalls aber
eine inhaltliche Zusammenfassung derselben.
Erstens hat Freud Paul Wilhelm Radestocks Dissertation
Schlaf und Traum gelesen und bereits in der ersten Auflage seiner
Traumdeutung umfangreich aus dem 1879 in Leipzig erschienenen Werk des Schülers von Wilhelm Wundt zitiert.12 Dort schreibt
Radestock – der neben dem Staat zahlreiche Stellen aus weiteren
platonischen Dialogen aufgreift und kommentiert, insbesondere
aus Phaidros, Apologie, Timaios, Philebos und Phaidon – bei
der Erörterung des Verhältnisses von Reizen und erotischen und
moralischen Träumen, in einer ausführlichen Anmerkung:
Hier bewahrheitet sich das alte Wort, dass die Guten sich nur im Traume
erlauben, was die Schlechten im Wachen thun. Es ist, als ob sich die Natur
entschädigen wollte, indem sie dem Geiste die üppigen Bilder vorzaubert,
welche das sittliche Bewusstsein und die strenge Arbeit des Wachens verbannte […].13
Also ganz genau jenes »Wort«, das Freud aufgreifen und in
seinen Text aufnehmen sollte. Bei Radestock ist die Stelle mit
12
13
26
P. W. Radestock, Schlaf und Traum. Eine physiologisch-psychologische
Untersuchung, Breitkopf und Härtel, Leipzig 1879. Zur Verwertung von
Radestocks Text in der Traumdeutung vgl. auch J. K. Davies, G. Fichtner
(Hrg.), Freud’s Library. A Comprehensive Catalogue / Freuds Bibliothek.
Vollständiger Katalog, The Freud Museum, London / edition diskord,
Tübingen, 2006, S. 33, 108; S. Goldmann, Via Regia zum Unbewussten,
zit., S. 91-99, 141 ff., 145-160, sowie S. 228-231; vgl. auch: Ders. (Hrg.),
Traumarbeit von Freud. Quellentexte zur Traumpsychologie im späten
19. Jahrhundert, Psychosozial-Verlag, Gießen 2005, S. 22 ff.; Y. Oudai
Celso, Freud e la filosofia antica, Bollati Boringhieri, Torino 2006, insbes.
S. 41 ff.
Vgl. P. W. Radestock, Schlaf und Traum, zit., S. 297, Anm. 190.
einer ausführlichen Anmerkung versehen. Darin führt er zunächst
die drei berühmten Verse zum inzestuösen Traum aus König Ödipus auf (sie stehen wortgetreu auch in der Traumdeutung), um
dann auf »Plato republ. IX, S. 571« zu verweisen. Im griechischen Wortlaut zitiert er schließlich einen Satz aus dem Neunten
Buch des Staates (571d), der Freud sicherlich geläufig war: »Denn
er bedenkt sich keinen Augenblick, der eigenen Mutter, wie er
wähnt, beizuwohnen oder irgend welchem anderen Wesen, sei es
Mensch, Gott oder Tier, und jede Blutschuld auf sich zu laden
und jeder Speise zuzusprechen«.14
Zweitens, während bei Radestock lediglich diese Stelle aus
dem Neunten Buch zitiert wird, findet sich bei Cicero im Ersten
Buch von De divinatione (I, 29, 60-61)15 die gesamte Passage
wortgetreu überliefert, von der einleitenden Bemerkung, in der
erläutert wird, dass es sich um unterdrückte Wünsche handelt,
über den Ödipus-Traum, bis zu den von Platon vorgeschlagenen
Abwehrmodalitäten. Hierbei handelt es sich um einen kanonischen Text, aus dem Freud explizit bereits auf den Anfangsseiten
der ersten Auflage der Traumdeutung zitiert.16 Es lässt sich also
kaum in Zweifel ziehen, dass er ausführlich in diesem Werk gelesen hat; demnach hat Freud aller Wahrscheinlichkeit nach Gelegenheit gehabt, sich ausführlich mit der Schlüsselstelle aus dem
Neunten Buch zu beschäftigen.
14
15
16
Ebd.; kurz darauf schreibt Radestock außerdem: »Plato sagt zwar, dass
nur bei sinnlichen Naturen die wildesten Begierden hier ungezügelt walten, aber auch die alten Kirchenväter klagen wiederholt über die Unheiligkeit ihrer Träume«. Dem entspricht der im Text der Studie auf S. 163
ausgeführte Gedanke wonach Aristoteles der »Meinung Plato’s« gefolgt
sei, »dass ein Vollkommener nie etwas Unreines träumen würde. Je reiner
das Leben, desto reiner sei der Traum, je unreiner jenes, desto unreiner
dieser«. Siehe auch die beiden Verweise ebd., S. 39 u. 186, sowie Anmerkungen zur Erreichung der »Erkenntnis« im Schlaf in Staat, 571d-572a.
M. T. Cicero, Über die Wahrsagung: De Divinatione, Lateinisch-Deutsch,
übers. u. hrg. von C. Schäublin, Artemis&Winkler, München 1991, S. 67.
Im Anschluss an die aus dem Staat übernommene Stelle schreibt Cicero
ehrfurchtsvoll: »Ich habe hier Platons eigene Worte wiedergegeben«.
Vgl. S. Freud, Die Traumdeutung, zit., S. 9 [erste Auflage, zit., S. 5].
27
Drittens findet sich auch bei Bernhard Büchsenschütz, in
seiner pointiert gefassten Studie Traum und Traumdeutung im
Alterthume, die Freud seit der ersten Auflage der Traumdeutung
stets zugrunde gelegt hat, auf etwa zwei Seiten eine kurze Zusammenfassung der platonischen Auffassung. Unter anderem heißt es
dort:
Platon hat, indem er freilich den Gegenstand nur beiläufig behandelt, die
Natur der Träume in Uebereinstimmung mit seiner Psychologie erörtert,
hauptsächlich nach der Seite, dass er die Verschiedenheit der Träume durch
das verschiedene Verhalten der drei Haupttheile der Seele zu begründen
sucht. Wenn nämlich, sagt er (Republ. IX S. 571c), der vernünftige, denkende Theil der Seele (tò logistikón) schläft, der thierische aber (tò theriôdés te kai ágrion) mit Speise und Trank angefüllt sich heftig bewegt, den
Schlaf von sich abwehrt und seinen Gewohnheiten Genüge zu thun sucht,
so entstehen die wüsten, unverständigen und schamlosen Träume.17
Büchsenschütz setzt daraufhin die Zusammenfassung der von
Platon empfohlenen Abwehrmodalitäten fort, wobei er sich nicht
zuletzt auf die Tatsache beruft, dass Träume auch zur Erkenntnis
der Wahrheit führen können:
Es geht daraus hervor, dass die Träume jeder Art nichts anderes als selbständige Seelenthätigkeiten sind, die denselben Gesetzen folgen, wie die
im Wachen geübten, dass also auch im Traume die Seele um so mehr zur
Erkenntniss des Wahren befähigt ist, je mehr die Thätigkeit ihrer körperlichen Elemente zurückgedrängt ist […].18
Mittels dieser Beweise19 wird unsere Argumentation noch
zwingender, zumal wenn man Freuds wiederholte Begegnungen
17
18
19
28
B. Büchsenschütz, Traum und Traumdeutung im Alterthume, S. Calvary
& Comp., Berlin 1868, S. 16 f.
Ebd., S. 17.
Eine Zusammenfassung der Stelle im Neunten Buch bietet ferner auch,
schon zu Anfang des Buches, Emil Richard Pfaff, Das Traumleben und
seine Deutung nach den Principien der Araber, Persier, Griechen, Inder
und Aegyptier, Denicke, Leipzig 1868, S. 16-17. Auch dieser Band wird
seit der ersten Auflage der Traumdeutung zitiert, wobei die einzige aus
Pfaffs Abhandlung übernommene Stelle, auf S. 36, indirekt zitiert wurde,
nämlich nach H. Spitta, Die Schlaf und Traumzustände, Fues, Tübingen
1882.
mit dem platonischen Denken – und insbesondere mit dem Staat
– bedenkt, die vor der Abfassung der Traumdeutung lagen, und
diese vor dem Hintergrund seines regen Interesses für antike
Autoren sieht. Freuds besonderes Interesse für die Antike hat die
Sekundärliteratur des vergangenen Jahrzehnts in einer Reihe von
Einzelstudien untermauert, in denen vor allem seine Auseinandersetzung mit Aristoteles, Sophokles und Artemidoros erörtert
wird.20 Diesem Forschungszweig kommt das Verdienst zu, in der
Person des Philologen Theodor Gomperz eine Schlüsselfigur für
Freuds intellektuelle Entwicklung ausgemacht zu haben.
Die Beeinflussung durch den angesehenen Wiener Gelehrten
und dessen Umkreis gestaltete sich für Freud in verschiedener
Weise als äußerst prägend. Man bedenke nur, dass Gomperz, dessen Hausarzt Joseph Breuer war, mit dem Altertumswissenschaftler Jacob Bernays in Verbindung stand, dem Onkel von Freuds
Ehefrau Martha Bernays, und dass sich beide ferner darüber einig
waren, eine Deutung der aristotelischen Katharsistheorie vorzuschlagen, die sich – wie verschiedentlich gezeigt werden konnte –
auf die von Breuer und Freud entwickelte Therapiemethode ausgewirkt hat.21 Zudem hat Freud seine Hypnose-Methode an Elise
20
21
Siehe bspw. P. Traverso, Psyche ist ein griechisches Wort… Rezeption und
Wirkung der Antike im Werk von Sigmund Freud, Suhrkamp, Frankfurt/
M 2003 (Originalausgabe Psiche è una parola greca…, Compagnia dei librai, Genova 2000); J. Le Rider, Freud – von der Akropolis zum Sinai. Die
Rückwendung zur Antike in der Wiener Moderne, Passagen, Wien 2004
(Freud, de l’Acropole au Sinaï. Le retour à l’Antique des Modernes viennois, Presses Universitaire de France, Paris 2002); Y. Oudai Celso, Freud
e la filosofia antica, Boringhieri, Torino 2006; E. Düsing u. H.-D. Klein
(Hrgg.), Geist und Psyche. Klassische Modelle von Platon bis Freud und
Damasio, Königshausen und Neumann, Würzburg 2008; C. Benthien, H.
Böhme u. I. Stephan (Hrgg.), Freud und die Antike, Wallstein, Göttingen
2011. Sarah Kofman hat explizit auf die Möglichkeit einer Beeinflussung
Freuds durch den Staat hingewiesen, und zwar in ihrem skizzenhaft formulierten Artikel von 1988, später überarbeitet in Dies., Miroir et mirages
oniriques: Platon, précurseur de Freud”, in Dies., Séductions. De Sartre à
Héraclite, Galilée, Paris 1990.
Siehe bspw. A. Hirschmüller, Physiologie und Psychoanalyse in Leben und
Werk Josef Breuers, Huber, Tübingen 1978, insbes. S. 206 ff., sowie ferner
den ersten Teil der neueren Arbeit von M. Vöhler u. D. Linck, Grenzen der
29
Gomperz, der Ehefrau des Platonforschers erprobt, die er beinahe
zehn Jahre lang behandelt hat;22 und 1899 erteilte er ferner für
kurze Zeit auch dem Sohn Heinrich Gomperz Unterricht in Fragen der Traumdeutung, als dieser Student der Philosophie war.23
Bei der Frage des Traumes in der Antike ist jedoch vor allem in
Betracht zu ziehen, dass es mit dem jungen Gelehrten Friedrich
Salomon Krauss ein Schüler von Karl Schenkl und von Gomperz
selbst war, der 1881 eine Neufassung von Artemidoros’ Symbolik
der Träume übersetzte und herausgab.24 Seine Übersetzung wurde
umgehend von Gomperz rezensiert25 und daraufhin von Freud,
bereits in der ersten Auflage der Traumdeutung, zitiert. Im Übrigen hatte sich Gomperz selbst seit 1866 explizit dem Thema des
Traumes in der Antike zugewandt, als sein Bändchen Traumdeutung und Zauberei erschienen war, in dem vor allem Artemidoros
thematisiert wird.26 Nach Erhalt einer Publikation des Gelehrten
schrieb Freud 1913 in einem Dankesbrief an Elise Gomperz:
Das Heftchen mit der Handschrift Ihres unvergessenen Mannes hat mich
an die so weit hinter uns liegende Zeit erinnert, da ich jung zaghaft zuerst
mit einem der Großen im Reiche der Denkarbeit einige Worte wechseln
durfte. Bald darauf hörte ich zuerst von ihm Bemerkungen über die Rolle
22
23
24
25
26
30
Katharsis in den modernen Künsten. Transformationen des aristotelischen
Modells seit Bernays, Nietzsche und Freud, de Gruyter, Berlin – New York
2009.
Vgl. zu dem Thema L. Z. Vogel, The Case of Elise Gomperz, »American
Journal of Psychoanalysis«, 46/3, 1986, S. 230-238; M. Scheidhauer, La
période fondamentale de la psychanalyse: un cas exemplaire, Elise Gomperz, in P. Fédida, D. Widlöcher, Actualité des modèles freudiens: langage,
image, pensée, Paris, Puf, 1995, S. 159 ff.
Vgl. die Briefe an Fließ vom 19. und 26. November 1899, in S. Freud,
Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, zit., S. 424-428.
Artemidoros aus Daldi, Symbolik der Träume, übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Friedrich S. Krauss, A. Hartleben’s Verlag, WienPest-Leipzig 1881; vgl. ebd. die an Th. Gomperz gerichtete Danksagung,
S. 293.
Th. Gomperz, Rezension zu Artemidoros aus Daldi, Symbolik der Träume, A. Hartleben’s Verlag, Wien-Pest-Leipzig 1881, »Zeitschrift für die
österreichischen Gymnasien«, 32, 1881, S. 501-513.
Th. Gomperz, Traumdeutung und Zauberei, Gerold, Wien 1866.
des Traumes im Seelenleben der Urmenschen, Dinge, die mich seither so
intensiv beschäftigt haben.27
Sicherlich spielten Gomperz und sein Umkreis im Kontext
von Freuds ausgeprägtem Antikeninteresse im Zeitraum vor der
Abfassung seiner Traumdeutung eine wesentliche Rolle. Den
Traum betreffend scheint von dieser Richtung hauptsächlich eine
gewisse Beeinflussung bezüglich Aristoteles und Artemidoros
ausgegangen zu sein, jedoch nicht bezüglich des Staates, auf den
Gomperz bei seinen wiederholten Untersuchungen und Erörterungen zum Traum in der Antike nicht eingeht. Nicht einmal als
er 1902, nachdem er die erste Auflage der Traumdeutung bereits
gelesen hatte, den zweiten Band der Griechischen Denker veröffentlichte, in welchem der Staat ausführlich, nämlich in Form
einer kommentierten Inhaltsangabe aller zehn Bücher behandelt
wird, gab er in seiner Erläuterung des Neunten Buches irgendeinen Hinweis auf die Thematisierung des Traumes.28 Nicht zuletzt
auch aus diesem Grund nimmt Platons Hauptwerk bis in unsere
Zeit praktisch dieselbe historiographische Rolle ein, die ihm in
der Traumdeutung zugeschrieben wurde, nämlich diejenige eines
Phantoms.
Und doch war es vor allem dem namhaften Philologen zu verdanken, dass Freud – nach Ablauf eines mehrjährigen Zeitraums
seit seinen Gymnasiallektüren der Apologie des Sokrates und des
Kriton29 – wieder mit den Werken Platons in Berührung kam,
und zwar gerade auch mit dem Staat. Im Auftrag des Philologen
übersetzte er im Sommer 1879, anstelle des ursprünglich vor-
27
28
29
Brief an Elise Gomperz vom 12. November 1913, in S. Freud, Briefe 18731939, ausgew. und hrg. von E. und L. Freud, S. Fischer, Frankfurt/M 1960,
S. 316.
Vgl. Th. Gomperz, Griechische Denker. Eine Geschichte der Antiken Philosophie, Verlag von Veit & Comp., Leipzig 1902, Zweiter Band, S. 396400.
Vgl. W. W. Hemecker, Vor Freud. Philosophiegeschichtliche Vorausssetzungen der Psychoanalyse, Philosophia Verlag, München-Hamden-Wien
1991, S. 40 u. Fn. 140, mit Verweis auf den Neunten Jahresbericht des
Leopoldstädter Communal-, Real- und Obergymnasiums in Wien, 1873,
Schularchiv des Rainer-Gymnasium in Wien.
31
gesehenen Übersetzers Eduard Wessel und auf Empfehlung von
Franz Brentano,30 einen rund siebzig Seiten langen Aufsatz von
John Stuart Mill, bei dem es sich um einen ausführlichen Rezensionstext zu einer Platonstudie von George Grote handelte.31 Der
Aufsatz bietet eine kritische Überblicksdarstellung von Platons
ethischem und moralischem Denken, in welcher der Staat ausführlich thematisiert wird. Unter den zahlreichen erörterten Themen – darunter die sokratischen Lehren des Nichtwissens und
der Anamnesis, die Freud später bezüglich der Neurose wieder
aufgegriffen hat32 – wird in einer ausgedehnten Passage auch die
Entartung des Tyrannen aufgerufen, jedoch nicht hinsichtlich der
Traumthematik. Unter anderem ist darin der folgende Gedankengang enthalten:
30
31
32
32
Auch wenn Freud dies später anderweitig geschildert hat, hatte er bei Brentano an einer Lehrveranstaltung über Mill teilgenommen, wie aus dem
Brief vom 22./23. Oktober 1874 an Silberstein hervorgeht, vgl. S. Freud,
Jugendbriefe an Eduard Silberstein 1871-1881, Hrg. von W. Boenlich, Fischer, 1989, S. 78: »Unsere Kollegien gehen so ziemlich auseinander, bloß
in der Zoologie und in Brentano’s Vorlesungen treffen wir alle zusammen.
Brentano liest zwei Kollegien, Mittwoch und Samstag abends ausgewählte
metaphysische Fragen und Freitag abends eine Schrift von Mill über das
Nützlichkeitsprinzip [Utilitarism, 1863], die wir regelmäßig besuchen. Bei
Brentano erinnere ich mich, dass Du die Absicht hattest, den Fechner zu
hören, und ersuche Dich, mir zu schreiben, was und wie er vorträgt«;
Freud arbeitete vor allem im August 1879 an der Übersetzung, wie ein
weiterer Brief an Silberstein vom 10. August 1879 dokumentiert, siehe S.
Freud, Jugendbriefe an E. Silberstein, zit., S. 200.
J. S. Mill, review of Platon and the other Companions of Socrates by
George Grote, in »Edinburgh Review«, April 1866, Bd. CXXIII, n. CCLII,
S. 297-364.
Vgl. J. S. Mill, Gesammelte Werke, Bd. 12, Über Frauenemancipation.
Plato. Die Arbeiterfrage. Der Sozialismus, übersetzt von S. Freud, Fues,
Leipzig 1880, S. 64 ff. [englische Originalausgabe: S. 326 ff.]; S. Freud,
Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW, Bd. 11, S. 290.
Vgl. zu dem Sachverhalt auch E. Jones, Leben und Werk von Sigmund
Freud, Bd. I: 1856-1900, Huber, Bern 1960, S. 79: »Freud gestand viele
Jahre später (1933), seine Kenntnisse von Platos Philosophie seien sehr
fragmentarisch. Vielleicht stammte das wenige, das er wusste, aus jenem
Aufsatz. Er fügte jedoch hinzu, Platos Theorie der Erinnerung, die Mill im
zustimmenden Sinn behandelt, habe ihm großen Eindruck gemacht, und er
habe lange über sie nachgedacht«.
Mitten in jener Vereinigung philosophischen Tiefsinns mit hohem rednerischen Schwunge und poetischer Bilderpracht, welche die letzten Bücher
der Republik auszeichnet, findet sich eine ergreifende Schilderung der
Art und Weise, wie die Gesellschaft durch ihre Versuchungen und ihre
am unrechten Orte angebrachten Aeußerungen des Beifalls und der Verdammniß diese ursprünglich edel-gearteten Naturen verdirbt; und das
Gemälde des zu voller Entfaltung gelangten, Göttern und Menschen gleich
verhaßten Gewaltherrschers auf dem Gipfel seiner Schuld, in der Tiefe seines innerlichen Elends, und in der Erwartung jener Vergeltung, die ihn
gemeiniglich noch in diesem Leben, sicherlich aber in einer künftigen Welt
ereilt, gehört zu den bekanntesten und erschütterndsten Stellen in Plato’s
Werken.33
Mills Aufsatz nimmt außerdem verschiedentlich Bezug auf die
Psychologie des Staates, und bietet unter anderem eine zusammenfassende Darstellung der Dreiteilung der Seele, die Freud wie
folgt übersetzt hat:
Der menschliche Geist wird dort in die berühmten drei Elemente zerlegt:
das vernünftige, das muthartige oder leidenschaftliche (tò thymoeidés)
– wieder einer jener verfänglichen gemischten Modi – und das begehrliche.
Der gerechte Geist ist derjenige, in welchem jedes dieser drei Elemente
seinen gebührenden Platz einnimmt; in welchem die Vernunft herrscht,
die Leidenschaft sich zur Helferin und zum Werkzeug der Vernunft macht,
und beide vereinigt die Begierde in einem Zustande gutwilliger Unterwerfung erhalten.34
33
34
Vgl. J. S. Mill, Gesammelte Werke, Bd. 12, zit., S. 106-107 [englische
Originalausgabe: S. 361: »In that combination of profound philosophy
with sublime eloquence and rich poetic imagination which composes the
later books of the Republic, there is a moving picture of the mode in which
society, by its temptations and its wrongly-placed applauses and condemnations, corrupts these originally fine natures: and the portraiture of the
full-blown Tyrannus, in the consummation of his guilt, his hatefulness to
gods and men, the depth of his inward misery, and the retribution that
awaits him, generally in this life, but certainly in a world to come, is one
of the best known and most impressive passages in Plato.”].
J. S. Mill, Gesammelte Werke, Bd. 12, zit., S. 83 [englische Originalausgabe: S. 341: »In the Republic […] the human mind is analysed into the
celebrated three elements, Reason, Spirit or Passion (tò thymoeidés, another troublesome Mixed Mode) and Appetite. The just mind is that in
which each of the three keeps its proper place; in which Reason governs,
Passion makes itself the aid and instrument of Reason, and the two combined keep Appetite in a state of willing subjection.”].
33
Darüber hinaus ist die Sekundärliteratur zu Recht dem
Einfluss aus den von Brentano abgehaltenen philosophischen
Lehrveranstaltungen nachgegangen, die Freud von 1873 bis
1876 regelmäßig besuchte,35 und zwar vor allem hinsichtlich
der Thematisierung des Unbewussten und der aristotelischen
Lehren. Jedoch wurde bislang die Tatsache vernachlässigt, dass
in Brentanos 1874 erschienenem Hauptwerk, Psychologie vom
empirischen Standpunkte,36 vielfache Verweise auf Platon und auf
die Psychologie des Staates enthalten sind. Während bereits ab
dem zweiten Kapitel der Isomorphismus psyché-pólis behandelt
wird,37 ist dem großen Dialog ein eigenes Unterkapitel gewidmet
– mit dem Titel Platon’s Unterscheidung eines begierlichen, zornmüthigen und vernünftigen Seelentheiles – worin gerade die Zentralität der innerpsychischen Konflikte in Bezug auf Triebe und
Seelenteile unterstrichen wird:
Er fand in dem Menschen einen Kampf von Gegensätzen; einmal zwischen
den Forderungen der Vernunft und den sinnlichen Trieben; dann aber auch
zwischen den sinnlichen Trieben selbst; und hier schien ihm der Gegensatz
von heftig aufbrausender Leidenschaft, die dem Schmerz und Tod entge-
35
36
37
34
Vgl. zu den Lehrveranstaltungen den ausführlichen Essay von M. Schellenbacher, Freud und Brentano, »e-journal Philosophie der Psychologie«,
März 2011, S. 1-7.
F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte, in zwei Bänden,
Verlag von Duncker & Humblot, Leipzig 1874.
Ebd., Capitel 2, § 7, S. 53: »Schon Platon hoffte, auf den Staat und die
Gesellschaft hinblickend in großen Zügen das geschrieben zu finden, was
die Seele des Einzelnen in kleinerer Schrift in sich enthielt. Er glaubte,
daß seine drei Seelengebiete den drei wesentlichen Classen im Staate, dem
Nährstande, dem Wehrstande und dem Stande der Herrscher entsprächen,
und fand eine weitere Bestätigung für sie in dem Vergleiche der Grundzüge
der verschiedenen Völkergruppen, der Ägypter und Phönizier, der tapferen
nordischen Barbaren und der bildungsliebenden Hellenen. [...]. Freilich,
wenn die Betrachtung der Phänomene der menschlichen Gesellschaft auf
die psychischen Phänomene des einzelnen Licht wirft, so ist doch auch
das Umgekehrte, und wohl in reicherem Maße, der Fall, und es wird im
Allgemeinen der naturgemässere Weg sein, wenn man aus dem was man
beim Einzelnen gefunden für das Verständnis der Gesellschaft und ihrer
Entwickelung, als wenn man umgekehrt aus der Betrachtung dieser für die
Probleme der individuellen Psychologie Aufschlüsse zu gewinnen sucht«.
genstürmt, und weichlichem Hang zum Genusse, der vor jedem Schmerze
sich zurückzieht, besonders auffallend und nicht minder gross als der
Gegensatz zwischen vernünftigem und unvernünftigem Verlangen selbst.38
Setzt man also einerseits eine gewisse Vertrautheit mit dem
platonischen Denken seit der Gymnasialzeit voraus, sowie wahrscheinlich seit der Studienzeit und ganz gewiss seit 1879 die
Kenntnis von Grundzügen der psychologischen Theorie des Staates, berücksichtigt andererseits auch das Interesse für die antike
Geistesgeschichte und die darin vorkommende Thematisierung
des Traumes, und nimmt schließlich für die Zeit vor Veröffentlichung der Traumdeutung die weitgehend gesicherte vollständige Kenntnis der Schlüsselstelle aus dem Neunten Buch an, so
erscheint die Vermutung plausibel, dass Freud seinen Königsweg
dank Platon ermitteln konnte, oder dass er ihn zunächst selbst
intuitiv erahnt und letztlich seine Rückbindung an die Antike verschwiegen hat.
Wie aber lässt sich – geht man davon aus, dass sich Freud der
Tragweite des Neunten Buches bewusst war – die Tatsache erklären, dass er nur eine einzige Wendung daraus zitiert hat? Übrigens
eine Wendung, die er nach mehreren Jahren wieder aufgegriffen
hat. Mit derselben Nüchternheit fügte er sie 1914 in das erste
Kapitel der vierten Auflage der Traumdeutung ein, und ein weiteres Mal 1916 in die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse.39 Man könnte auch so weit gehen zu behaupten, er habe
das absolute wissenschaftliche, historische und genealogische Primat der Entdeckung für sich in Anspruch nehmen wollen, indem
38
39
Vgl. ebd., Inhaltsverzeichnis, S. XII: »Fünftes Capitel, § 1. Platon’s Unterscheidung eines begierlichen, zornmüthigen und vernünftigen Seelentheiles«, ausgeführt auf S. 233-236, u. a. unterstreicht Brentano den konfliktträchtigen Charakter der innerpsychischen Kräfte, S. 234.
Vgl. S. Freud, Die Traumdeutung, GW, Bd. 2/3, S. 70: »Im Gegensatz
hiezu meint Plato, diejenigen seien die besten, denen das, was andere wachend tun, nur im Traume einfalle«; S. Freud, Vorlesungen zur Einführung
in die Psychoanalyse, GW, Bd. 11, S. 147: »Was tut die Psychoanalyse hier
anders als das alte Wort von Plato bestätigen, dass die Guten diejenigen
sind, welche sich begnügen, von dem zu träumen, was die anderen, die
Bösen wirklich tun?«.
35
er den Staat auf eine einzelne Wendung beschränkte und den Dialog dadurch neutralisierte; oder aber, dass er unter bestimmten
Umständen, nach Übernahme der platonischen Intuition der Via
Regia, deren Herkunft schlichtweg vergaß. Freuds ausgeprägter
Widerwille beim Offenlegen seiner Quellen ist ganz unzweifelhaft
belegt. Ein vielsagendes Zeugnis aus seiner Feder bietet hierfür
folgender Brief von 1885 an die Verlobte, in dem er halb ernst
halb scherzhaft berichtete: »Ich habe alle meine Aufzeichnungen
seit vierzehn Jahren und Briefe, wissenschaftliche Exzerpte und
Manuskripte meiner Arbeit vernichtet. […]. Die Biographen aber
sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen«.40
Diese Form des Widerwillens war von einem ausgeprägten Ehrgeiz begleitet, der ihn oftmals dazu führte, die Beiträge anderer
Autoren unbeachtet zu lassen. Geht man beispielsweise davon
aus, dass Freud die Via Regia 1895 entdeckt hat,41 so ist bezeichnend, was er im Mai 1897 in seinem Brief an Fließ schrieb: »Ich
habe in die Literatur hineingeblickt und komme mir vor wie das
keltische Zaubermännchen: ›Ach wie bin ich froh, dass es niemand, niemand weiß – ‹. Niemand hat eine Ahnung davon, dass
der Traum kein Unsinn ist, sondern eine Wunscherfüllung«.42
Diese Behauptung ist ganz offensichtlich tendenziös, denn Freud
wusste sehr wohl, dass die These wonach gewisse Träume, wenn
40
41
42
36
Brief vom 28. April 1885 an Martha Bernays, in Freud, S., Briefe 18731939., zit., S. 144f.
Neben Irmas Traum, vgl. den Brief an Fließ vom 23. September 1895, in
S. Freud, Briefe an Wilhelm Fließ 1887-1904, zit., S. 144: »Ein Traum
vorgestern hat die komischsten Bestätigungen der Auffassung ergeben,
dass die Wunscherfüllung das Motiv des Traumes ist«. Vgl. aus demselben
Zeitraum S. Freud, Entwurf einer Psychologie, GW, Nachtragsband. Texte
aus dem Jahren 1885-1938, S. 435: »Der Zweck und Sinn der Träume (der
normalen wenigstens) ist mit Sicherheit festzustellen. Sie sind Wunscherfüllungen, also Primärvorgänge nach den Befriedigungserlebnissen […].
Fragt man das Bewusstsein bei erhaltenem Traumgedächtnis nach dem
Trauminhalt aus, so ergibt sich, dass die Bedeutung der Träume als Wunscherfüllungen verdeckt ist durch eine Reihe von psychischen Vorgängen,
die sich alle bei den Neurosen wiederfinden und deren krankhafte Natur
charakterisieren«.
S. Freud, Brief an Fließ vom 16. Mai 1897, in: Ders., Briefe an Wilhelm
Fließ 1887-1904, zit., S. 259.
auch nicht alle, Wunscherfüllungen darstellen, sehr alt und hinlänglich bekannt war.43 Neben Platons Staat hatte auch Artemidoros diese Möglichkeit explizit in Betracht gezogen, der sie
gleich zu Beginn seines Werkes auf den Bereich der nächtlichen
Visionen zurückführte:
Es unterscheidet sich das Traumgesicht vom Traume dadurch, dass jenes
die Zukunft voraussagt, dieser die Gegenwart andeutet. Das Folgende soll
es dir klarer beleuchten. Einige Gemüthsaffecte sind von der Beschaffenheit, dass sie im Schlafe zurückkehren, sich der Seele in der alten Ordnung
wieder darbieten und Traumbilder hervorrufen. So ist es z. B. ganz naturgemäss, wenn dem Verliebten von einem Stelldichein mit seinem Lieblingsknaben träumt, der Furchtsame die Ursachen seiner Befürchtungen schaut,
der Hungrige wieder vom Essen, der Durstige vom Trinken und Einer, der
sich den Magen überladen hat, vom Erbrechen oder Ersticken träumt.44
Fokussiert man die Aufmerksamkeit auf Platon und besonders
auf seinen Erosbegriff, so tritt einmal mehr der freudsche Widerwille hervor. Tatsächlich finden sich dafür verschiedentlich dezidierte, stichhaltige und auch bekannte Hinweise; vom 1920 verfassten neuen Vorwort, über die kanonischen Drei Abhandlungen
zur Sexualtheorie und der detaillierten Erörterung des Gastmahls
in Jenseits des Lustprinzips, bis hin zu einer berühmten Stelle aus
Massenpsychologie und Ich-Analyse:
[...] mit dieser »erweiterten« Auffassung der Liebe hat die Psychoanalyse
nichts Originelles geschaffen. Der »Eros« des Philosophen Plato zeigt in
seiner Herkunft, Leistung und Beziehung zur Geschlechtsliebe eine vollkommene Deckung mit der Liebeskraft, der Libido der Psychoanalyse,
wie Nachmansohn und Pfister im einzelnen dargelegt haben […]. Diese
43
44
Ebenfalls unterstrichen wird dies in Th. Gomperz, Traumdeutung und
Zauberei, zit., S. 85: »Die erste führt in die innere Werkstatt unsres Geistes; sie zeigt uns hier die Stoffe, die Kräfte, die Werkzeuge tätig, deren
einst ungehemmtem und schrankenlosem Spiele ungeahnte Wirkungen
entspringen mußten«. Zur umfangreichen Literatur des 19. Jahrhunderts
über den Traum als Wunscherfüllung siehe bspw. S. Goldmann, Via Regia
zum Unbewussten, zit., Kap. 4.
Artemidoros, Symbolik der Träume, I, 1; s. auch ebd., I, 78, 50: »Träumt
man, ein bekanntes und befreundetes Frauenzimmer, zu dem man eine Zuneigung fühlt und das man begehrt, zu beschlafen, so weissagt das Gesicht
in Folge der angefachten Begierde (epithymían) gar nichts«.
37
Liebestriebe werden nun in der Psychoanalyse a potiori und von ihrer
Herkunft her Sexualtriebe geheißen. [...]. Wer die Sexualität für etwas die
menschliche Natur Beschämendes und Erniedrigendes hält, dem steht es ja
frei, sich der vornehmeren Ausdrücke Eros und Erotik zu bedienen. […].
Ich kann nicht finden, dass irgendein Verdienst daran ist, sich der Sexualität zu schämen; das griechische Wort Eros, das den Schimpf lindern soll,
ist doch schließlich nichts anderes als die Übersetzung unseres deutschen
Wortes Liebe.45
Wie Freud erklärt waren solche Affinitäten jedoch bereits
durch zwei in den internationalen Kreisen der psychoanalytischen
Forschung sehr engagierte und anerkannte Gelehrte hervorgehoben worden, nämlich durch Max Nachmansohn (in einem
1915 erschienenen Essay, der unter anderem auch auf den Staat
behandelt)46, sowie 1921 durch Oskar Pfister.47 Die augenfälligen
Analogien konnten nun nicht länger ignoriert oder verschwiegen
werden, und Freud ging noch einen Schritt weiter, indem er sie als
Schutzschild nutzte, um sich der immer drängenderen Vorwürfe
des Pansexualismus zu erwehren.
Andererseits scheint es mir wichtig hervorzuheben, dass die
erste bedeutende Verwendung der von Platon im Gastmahl skizzierten Auffassung des Eros demgegenüber viel weiter zurückreicht und stillschweigend erfolgt war. Denn Freud hatte bereits
von 1910 an die These vertreten, wonach der Eros »alles Lebende
45
46
47
38
S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, GW, Bd. 13, S. 98.
Vgl. M. Nachmansohn, Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre
Platos, »Internationale Zeitschrift für Ärztliche Psychoanalyse«, III, 65,
1915, S. 65-83, wo es auf S. 82 heißt: »Die Sublimierungstheorie Freuds
findet sich schon ausführlicher bei Plato und der Staat bringt eine noch
auszubeutende pädagogische Lehre, um die Sublimierung des Eros in die
Wege zu leiten«.
O. Pfister, Plato als Vorläufer der Psychoanalyse, »Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse«, VII, 3, 1921, S. 264-269; siehe auch den Brief
Pfisters an Freud vom 14.1.1921, in S. Freud, O. Pfister, Briefe 1909-1939,
Fischer, Frankfurt/M 1963, S. 83: nachdem er auf den Eros im Gastmahl
eingegangen ist schreibt er weiterhin in Bezug auf Platon: »Alle Kunst,
Religion, Moral führt er auf die Liebe zurück, und auch das Unbewusste,
die sich kreuzenden Strebungen der Seele kennt er vorzüglich... «; eine Bemerkung, auf die Freud lediglich antwortet: »Ihr Aufsätzchen über Plato
sehr willkommen, cela va sans dire«.
erhält«, wie er in Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da
Vinci formuliert, jedoch ohne dabei das Gastmahl zu zitieren.48
Rund drei Monate vor Aufnahme der Arbeit am Leonardo,
die er im Oktober 1909 begann und im April 1910 abschloss,
zitierte Freud allerdings aus dem Gastmahl, nämlich in den am
17. Juli 1909 fertiggestellten Bemerkungen über einen Fall von
Zwangsneurose (Krankengeschichte vom Rattenmann), bei Erörterung der Liebe und dem »Verhältnis ihres negativen Faktors zur
sadistischen Komponente der Libido«. Hierzu setzt Freud die folgende, wahrhaft verblüffende Anmerkung: »›Ja oft habe ich den
Wunsch, ihn nicht mehr unter den Lebenden zu sehen. Und doch
wenn das je einträfe, ich weiß, ich würde noch viel unglücklicher
sein, so wehrlos, so ganz wehrlos bin ich gegen ihn,‹ sagt Alkibiades über den Sokrates im Symposion«.49 Ich halte die Behauptung
keineswegs für gewagt, dass Freud die erste Formulierung des
Eros als Kraft, die »alles Lebende erhält« durch die Lektüre, oder
vielmehr durch die neuerliche Lektüre des Gastmahls nahegelegt
wurde50, die zu diesem Zeitpunkt nur wenige Monate zurücklag.
Schließlich wäre es denkbar, dass auch das 1923 in Das Ich
und das Es geprägte Bild des Reiters,51 das auf die metaphorische
Wiedergabe des Verhältnisses von Ich und Es zielt, und später
auch in der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in
die Psychoanalyse aufgegriffen wird, wiederum stillschweigend
übernommen und angepasst wurde, und zwar ausgehend von der
berühmten Metapher des geflügelten Zweigespanns im Phaidros,
die – allerdings nur indirekt – auch bei Nachmansohn in Erin-
48
49
50
51
Vgl. S. Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, GW, Bd.
8, S. 136.
S. Freud, Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose, GW, Bd. 7, S.
456, Anm. 1.
Schon im 1905 schrieb Freud: »Der populären Theorie des Geschlechtstriebes entspricht am schönsten die poetische Fabel von der Teilung des
Menschen in zwei Hälften – Mann und Weib – , die sich in der Liebe wieder zu vereinigen streben«, vgl. J. Breuer u. S. Freud, Drei Abhandlungen
zur Sexualtheorie, GW, Bd. 5, S. 34.
Vgl. S. Freud, Das Ich und das Es, GW, Bd. 13, S. 253; S. Freud, Neue
Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, GW, Bd. 15,
S. 83.
39
nerung gerufen wird.52 Mit Sicherheit war Freud die Metapher
vertraut, etwa aus dem bereits in der ersten Auflage der Traumdeutung zitierten Band von Albert Lemoine, Du sommeil au point
du vue physiologique et psychologique, in welchem im Abschnitt
über den Traum zu lesen steht:
Kurzum, die Seele steuert sich selbst, indem sie das Organ steuert, sie
steuert das Organ, indem sie seinen Gesetzen gehorcht, imperat obediendo. Allerdings ist erwiesen, dass sich dies im Wachzustand nicht immer
so verhält; es gibt Augenblicke, in denen der Verstand – der Noûs, Platons Wagenlenker – die Zügel schleifen lässt und sich den Launen seines
Gespannes anvertraut; es gibt auch andere, in denen dieses – vor allem die
Epithymía – auffährt und seinen machtlosen Lenker hinter sich mitreißt.53
52
53
40
Vgl. M. Nachmansohn, Freuds Libidotheorie verglichen mit der Eroslehre
Platos, zit., S. 77 ff.
Albert Lemoine, Du sommeil au point du vue physiologique et psychologique, zit., S. 120 : »En un mot, elle [l’âme] se gouverne elle-même en
gouvernant l’organe, elle gouverne l’organe en obéissant à ses lois, imperat obediendo. Qu’il s’en soit pas toujours ainsi dans la veille, cela est
certain ; il y a des moments où l’intelligence, Noûs, le cocher de Platon,
laisse flotter les rênes et s’abandonne aux caprices de son attelage ; il y en
a d’autres où celui-ci, Epithymía, surtout, s’emporte, ravissant à sa suite
son guide impuissant« (im Text dt. vom Übers.). Ein weiteres Beispiel ist
der Band von Alfred Maury, Le sommeil et les rêves, Didier, Paris 1865,
in welchem es im grundlegenden V. Kapitel, aus dem Freud einen ganzen
Abschnitt in die erste Auflage der Traumdeutung übernommen hat, auf S.
107: »Während seiner Kindheit befindet sich der Mensch in einem ständigen Traumzustand, und die unzusammenhängenden Worte, die er zur
Antwort gibt, müssen Ausdruck der Vorstellungen sein, in denen er sich
wiegt. Sobald man seine Aufmerksamkeit durch eine Frage erregen will,
versucht er, die Zügel jenes Wagens seines Verstandes wieder an sich zu
reißen, auf welchem Platon die Seele platziert; jedoch kann er nicht bis zu
seinem Gegenüber gelangen, und wendet sich einfach in die Richtung, in
die ihn die Vorstellungen mitreißen, die sein Bewusstsein durchziehen.«
(dt. vom Übers.; frz. Wortlaut: »L’homme en enfance est dans un état perpétuel de rêvasserie, et les paroles incohérentes qu’il vous répond doivent
être l’expression des idées dont il est bercé. Dès que vous provoquez son
attention par une demande, il cherche à reprendre les rênes de ce char intellectuel sur lequel Platon place l’âme: mai il ne peut arriver jusqu’à vous,
et il se dirige simplement dans le sens où l’entraînent l’idées qui passent
devant son esprit«).
Auch ungeachtet solcher vielfältigen Belege lässt sich vermuten, dass Freud womöglich durch eine indirekte und unvollständige Rezeption des Neunten Buches des Staates irregeleitet und
zu der Annahme gebracht wurde, die dort skizzierte Auffassung
des Traumes ließe sich tatsächlich auf Platons altes Wort reduzieren, »dass der Tugendhafte sich begnügt, von dem zu träumen,
was der Böse im Leben thut«, weshalb er der Frage nicht weiter
nachzugehen brauchte. Sowohl Radestocks Überlegungen, als
auch die Zusammenfassung durch Büchsenschütz stellten außerdem die primär moralische Orientierung heraus, der sich Platon
angeschlossen hatte, indem er von Anfang an die Gegenmittel zur
Vermeidung der Traumerscheinung von unterdrückten Wünschen
erwog. Bereits Cicero hatte seinerseits die Fortsetzung der besagten Stelle übernommen54:
Anders aber verhält es sich wohl, wenn jemand in gesunder und besonnener Seelenverfassung sich befindet. Er begibt sich erst zur Ruhe,
nachdem er den vernünftigen Teil seiner Seele angeregt und mit schönen
Gedanken und Betrachtungen gesättigt hat. So ist er zur Selbstbesinnung
gelangt. Den begehrlichen Teil dagegen hat er weder dem Mangel noch
der Übersättigung ausgesetzt, damit er sich zur Ruhe begebe und dem
besten Teil nicht störend entgegentrete durch den Ausbruch von Lust oder
Schmerz, sondern ihn völlig rein für sich der Betrachtung sich hingeben
und bestrebt sein lässt, etwas von dem wahrzunehmen, was er nicht weiß,
sei es etwas Vergangenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges. Ebenso hat
er auch den muthaften Teil besänftigt und legt sich nicht nach heftigen
Zornesauftritten mit anderen aufgeregten Gemütes schlafen. Vielmehr hat
er die beiden Teile beruhigt und den dritten, dem die Einsicht innewohnt,
angeregt. Wenn er sich zur Ruhe begibt, so wird er in solchem Zustand,
wie du dir selbst sagen wirst, am besten die Wahrheit erfassen, und am
wenigsten werden frevelhafte Traumerscheinungen ihn dann heimsuchen
(571d-572a).
Sogar Gomperz, der als Erforscher antiker Traumvorstellungen und ausgewiesener Kenner des Corpus Platonicum in manchen Punkten ähnliche Ansichten vertrat wie Freud und dessen
Traumdeutung unverzüglich zur Kenntnis nahm, hat in seinem
umfangreichen und detaillierten Kommentar zum Neunten Buch
die Tragweite der Traumanalyse, die hier von einem theoretischen
54
M. T. Cicero, Über die Wahrsagung: De Divinatione, zit., S. 67.
41
und psychoanalytischen Standpunkt aus vorgestellt wird, ganz
und gar verkannt. Gleiches gilt auch für die allererste, unglücklich angelegte Monographie, die sich explizit mit beiden Autoren befasst und 1934 mit dem Titel De Freud à Platon in Paris
publiziert wurde.55 Freud hat dieses Werk zwar gekannt, jedoch
niemals darauf verwiesen.56 Obwohl darin die entscheidenden
drei Seiten aus dem Neunten Buch des Staates ungekürzt wiedergegeben waren,57 stellte der junge Autor Patrice Georgiadès
keinerlei Vermutungen über eine mögliche Beeinflussung an. Er
übersah nicht die Vielschichtigkeit der platonischen Theorie und
ging lediglich auf den Timaios und auf einige andere Fragestellungen ein.
Nimmt man also an, Freud habe die betreffende Stelle aus
dem Neunten Buch vollständig gekannt, wäre es plausibel zu
vermuten, dass er ihre Tragweite erfasst und aufgrund seiner
relativen Vertrautheit mit dem platonischen Denken zur Lektüre
des Staates übergegangen ist. Trifft dies zu, so muss er auf eine
Auffassung gestoßen sein, in der die Traumerscheinung sich nicht
nur klar und deutlich als Auftauchen und Erfüllung zuvor unterdrückter Wünsche darstellt, sondern als Schlüssel zum Verständnis von entsprechenden, im engeren Sinne psychopathologischen
Entartungen. Aus dieser Auffassung hat er allerdings lediglich
jenes alte Wort zitiert. Diese Zurückhaltung entspricht seiner
Haltung gegenüber dem Eros im Gastmahl und ermöglichte es
ihm, das Erstgeburtsrecht der Entdeckung des Königswegs beizubehalten, ohne ihn als eine von Grund auf überarbeitete Neuauflage des platonischen Wegs ausgeben zu müssen. Trifft dies allerdings nicht zu, und sicherlich kann es auch anders gewesen sein,
dann hat Freud, trotz der wiederholten Auseinandersetzung mit
55
56
57
42
P. Georgiadès, De Freud à Platon, Bibliothèque-Charpentier, Fasquelle
éditeurs, Paris 1934; siehe bspw. die irreführende Thematisierung des Unbewussten auf S. 95 ff.
Siehe hierzu den konzisen Rezensionsartikel von U. Holmes, in »Books
Abroad«, Bd. 9, n. 3, 1935, S. 302-303; der Text ist auch in Freuds Bibliothek vorhanden, vgl. J. K. Davies, G. Fichtner (Hrg.), Freud’s Library,
Katalognr. 1496.
Ebd., S. 167-171.
dem Neunten Buch, einen Augenblick vor der Wiederentdeckung
einer Anschauung Halt gemacht, der er unbewusst von sich aus,
und nach einer stillen Latenzzeit von mehreren Jahrhunderten,
zu neuem Leben verholfen hatte – und das im einsetzenden 20.
Jahrhundert und mit Hilfe einer Intuition, die alsbald die Gestalt
der modernen Subjektivität revolutionieren sollte.
Die Übereinstimmung von Via Regia und Via Platonica legt
somit die Nervenstränge der gesamten abendländischen Identität frei. Denn diese Überlagerung bezeugt wie die theoretischen
Grundlagen der psychoanalytischen Revolution bereits seit der
Antike vorgeformt wurden. Nicht allein die Vorwegnahme des
Königswegs, die ihm zugrunde liegende Untersuchung der Formen der Unterdrückung des Wunsches und der korrelierten psychopathologischen Abweichungen, sondern auch die positiven
Steuerungs- und Kontrollstrategien des Wunsches, auf denen die
Möglichkeiten zur Erreichung eines gesunden psychischen Gleichgewichts beruhen, weisen in der Tat weitreichende Übereinstimmungen auf: Wünsche, Libido und Eros, eingeteilt in ein beinahe
identisches Triebmodell, gestalten sich als wesentlich plastische
Triebkräfte; sie lassen sich kanalisieren und sublimieren. Dies ist
eine Ebene, auf der sich Freuds eigene Stellungnahmen als besonders erweisen. Denn über die gleichsam instrumentelle Verwendung des platonischen Erosbegriffes hinaus soll gezeigt werden,
dass es umfassende und tiefe Übereinstimmungen gibt, gerade
hinsichtlich des gesamten theoretischen Entwurfs, in welchem
der Eros nicht nur im Gastmahl, sondern insbesondere auch im
Staat berücksichtigt wird. Zusammenfassend denke ich, dass ein
Vergleich der spezifischen Eigenschaften in den psychologischen
Theorien Platons und Freuds eine bislang unbeachtet gebliebene,
aber äußerst aussagekräftige Erblinie innerhalb der theoretischen
Genealogie der Psychoanalyse zutage fördern kann. Genau darin
besteht das grundsätzliche Anliegen, dem die vorliegende Studie
in erster Linie verpflichtet ist.
Zunächst begegnet diese Aufgabe den vielfältigen Schwierigkeiten, welche die Rekonstruktion der im Staat entwickelten
Psychologie in ihrer Einheitlichkeit und inneren Kohärenz mit
sich bringt. Dies bedeutet eine zusätzliche Herausforderung, vor
allem aufgrund der außerordentlichen strukturellen Komplexität
43
in der Komposition des Dialogs. Angesichts der Vielschichtigkeit
der behandelten Fragestellungen erweist sich eine umfassende
Rezeption als äußerst schwierig. Die Bemühung um Vollständigkeit zielt darauf, eine psychologische Theorie zu rekapitulieren
und zu rekonstruieren, deren Eigenschaften im Zuge der Darstellung unregelmäßig ausgestreut werden, weshalb die relevanten
Stellen in verschiedenen Büchern zu finden sind. Relevant sind
das Vierte, das Achte und das Neunte Buch, wobei Hinweise zur
psychologischen Sphäre auch über das gesamte Werk verstreut
vorkommen. Außerdem bildet die schnelle Abfolge der Argumente in verschiedenen parallelen Gesprächen, die Vielzahl der
Schnittpunkte und Überlagerungen der erörterten Untersuchungsebenen – also der politischen, psychischen, ethisch-moralischen,
sowie erkenntnistheoretischen – in vielfacher Hinsicht ein weiteres Hindernis bei der einheitlichen Rekonstruktion einer platonischen psychologischen Theorie. Häufig thematisiert Platon
die ablaufenden Dynamiken und psychischen Prozesse nicht als
eigenständigen Untersuchungsgegenstand, sondern verhandelt sie
im Rahmen seiner ethischen und politischen Erörterungen, sodass
eine Abstraktion und vereinheitlichende Neuordnung notwendig
ist. Seine psychologische Theorie verteilt sich nicht nur auf die
Bücher des großen Dialogs, sondern findet sich an vielen Stellen
umgesetzt, und zwar ohne explizite Thematisierung. Gerade dieser grundlegende psychisch-politische Isomorphismus erweist sich
auf der hermeneutischen Ebene als zweischneidiges Schwert, denn
so sehr die Politisierung der psychischen Ebene eine der theoretischen Grundlagen von Platons Sichtweise ausmacht, kann die
entsprechende Psychologisierung der politischen Ebene Anlass zu
einer Bevorzugung der politisch-moralischen Ebene zum Nachteil
der theoretisch-psychologischen geben.
Eigentlich ist es gerade die enge Verkettung dieser Ebenen,
und Platons durchgängige Aufmerksamkeit für die unmittelbaren
ethischen Konsequenzen seiner Erörterungen, die Autoren wie
Radestock und Büchsenschütz dazu veranlasst hat, die moralische Dimension ausdrücklich herauszustellen, die aus der Untersuchung der Traumprozesse im Neunten Buch hervorgeht, und
die einen Interpreten vom Format eines Gomperz trotz seines
44
Interesses für die Traumforschung irregeleitet hat.58 Doch auch in
der überaus differenzierten Platonliteratur des 20. Jahrhunderts
bedurfte es mehrerer Jahrzehnte bis endlich einige der Analogien
zwischen dem Staat und der psychoanalytischen Konzeption festgestellt werden konnten; gewiss auch wegen Freuds Verschwiegenheit, die dadurch, dass er dem Gastmahl eine zentrale Stellung
zuschrieb, paradoxerweise noch weiter verstärkt wurde und so
die Aufmerksamkeit der Interpreten von Anfang an auf sich zog.59
Als einer der Ersten befreite sich Werner Jaeger aus dieser Position als er 1947 kompromisslos betonte, Platon habe aufgrund
seiner Erörterung des Traumes im Neunten Buch als »Vater der
Psychoanalyse« zu gelten.60 Diese Bemerkung war allerdings nicht
mehr als ein vereinzelter Schaltsatz innerhalb seiner ausführlichen
Abhandlung. Und fortan sind es stets nur ähnlich isolierte Schaltsätze gewesen, welche die Entwicklung der Sekundärliteratur bis
in die frühen Siebziger Jahre bestimmten, gerade als zeitgleich mit
der Verbreitung des psychoanalytischen Denkens innerhalb der
philosophischen Forschung eine breitere Diskussion entstand.61
58
59
60
61
Später wir auch Michel Foucault irregeleitet, siehe M. Foucault, Einleitung, in L. Binswanger, Traum und Existenz, Gachnang & Springer, BernBerlin 1992, S. 43-44, 48-49 (Originalausgabe 1954).
Einen Meilenstein für den Vergleich bildet der Artikel von F. M. Cornford,
The Doctrine of Eros in Plato’s Symposium (Erstausgabe 1937), später
neu aufgelegt in G. Vlastos (Hrg.), Plato, A Collection of Critical Essays,
II: Ethics, Politics, and Philosophy of Art and Religion, Doubleday, New
York 1971, S. 128; sowie nochmals in: Ders., The Division of the Soul,
»The Hibbert Journal«, V, XXVIII, 1929-1930, S. 206-219; eine Deutung,
die nachfolgend zahlreiche Vergleiche beider Autoren begleitet hat, darunter auch ein weiterer Meilenstein, nämlich E. R. Dodds, Die Griechen
und das Irrationale, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1970
(Originalausgabe 1951); unter den jüngeren Arbeiten siehe G. R. F. Ferrari, Platonic Love, in R. Kraut (Hrg.), The Cambridge Companion to Plato,
Cambridge University Press, Cambridge 1992, und A. W. Price, Love and
Friendship in Plato and Aristotle, Clarendon Press, Oxford 1997.
W. Jaeger, Paideia, Bd. III, de Gruyter, Berlin 1947, S. 74.
Unter den richtungsweisenden Studien hierzu siehe inbes. A. Kenny, Mental health in Plato’s Republic (1969), in: Ders., The Anatomy of the Soul,
Basil Blackwell, Bristol and Oxford 1973; B. Simon, Plato and Freud. The
Mind in Conflict and the Mind in Dialogue, »The Psychoanalytic Quarterly«, 42, 1973, S. 91-122; sowie: Ders., Mind and Madness in Ancient
45
Seitdem, und insbesondere im Laufe der Neunziger Jahre wurden vor allem im angelsächsischen Raum – nicht zuletzt angeregt
durch neuere Arbeiten zum klassischen Verhältnis von Eros und
Libido –62 mehrere Artikel oder einzelne Kapitel zu dieser Frage
publiziert.63 Bis heute hat jedoch niemand den Versuch gemacht,
einen systematischen und erschöpfenden Vergleich durchzuführen, und genau diesem Anspruch will nun die vorliegende Studie
gerecht werden.
Diese Art der Gegenüberstellung erweist sich nicht nur zur
Erhellung der theoretischen Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse als nützlich, sondern darüber hinaus auch auf anderem
Gebiet, nämlich als Hilfsmittel und methodologischer Ansporn
zur Rekonstruktion von Platons psychologischer Theorie.
Denn die beständigen Parallelen zum freudschen Gedankengebäude tragen indirekt dazu bei, jenen Faden nicht zu verlieren,
der innerhalb der vielschichtigen Handlung des großen Dialogs
innerpsychische Spaltung und Konflikt, sowie Wunsch, Traum
und Psychopathologie, Harmonie, Eros und Eudämonie zueinander in Beziehung setzt. Um möglichen hermeneutischen Fehlern
entgegenzuwirken wird ein solcher Ansatz durch ständige Nähe
und Treue gegenüber Platons Ausführungen angestrebt, die dabei
punktuell kommentiert werden. Gestützt wird dieses Vorgehen
außerdem durch die inzwischen weitgehend übereinstimmend
angenommene methodologische Voraussetzung bezüglich des
62
63
46
Greece, Cornell University, Ithaca and London 1978; P. L. Assoun, Freud,
la Philosophie et les Philosophes, Presses Unversitaires de France, Paris
1976; P. Plass, Anxiety, Repression, and Morality: Plato and Freud, »The
Psychoanalytic Review«, 65, 4, 1978, S. 533-556.
Siehe insbes. die monographische Studie von Gerasimos Santas, Plato and
Freud. Two Theories of Love, Basil Blackwell, Oxford 1988.
Siehe inbes. C. Gill, Plato and the Education of Character, »Archiv für Geschichte der Philosophie«, 67, 1985, S. 1-26; C. H. Kahn, Plato’s Theory
of Desire, »Review of Metaphysics«, XLI, 1987, S. 77-103; W. Price, Plato
and Freud, in C. Gill (Hrg.), The Person and the Human Mind, Clarendon
Press, Oxford 1990. Ders., Mental Conflict, Routledge, London and New
York 1995; M. Stella, Freud e la »Repubblica«: l’anima, la società, la gerarchia, in M. Vegetti (Hrg.), Platone, La Repubblica, Bibliopolis, Napoli
1998, Bd. III; J. Lear, Open Minded: working out the logic of the soul,
Harvard University Press, Harvard 1998.
Corpus platonicum, wonach der Staat gegenüber den anderen
Dialogen als weitgehend eigenständig gilt.64 Der gewählte Ansatz
berücksichtigt sowohl die klassische Fragestellung bezüglich der
Schwierigkeit einer vollständigen chronologischen Neuordnung
der platonischen Werke,65 als auch die bisweilen drastischen
Veränderungen, die Platons Denken im Laufe seines Lebens
durchgemacht hat. Man denke nur an die entscheidende psychische Verinnerlichung des gesamten Spektrums der Wünsche, die
sich der Dreiteilung in vernünftige, zornmütige und begehrliche
Instanz zuordnen lässt, die mit dem Leib-Seele-Dualismus des
Phaidon unvereinbar, ja diesem geradezu entgegengesetzt ist. Dieselbe äußerste Treue gegenüber den Texten wird auch hinsichtlich
des freudschen Korpus angestrebt, dessen theoretisches Modell
in seiner ausgereiftesten und differenziertesten Form untersucht
wird, also nach der zweifachen Wende, die mit der Annahme des
in Jenseits des Lustprinzips begründeten Triebdualismus (LebenTod), sowie mit der strukturellen psychischen Dreiteilung in Ich,
Es und Über-Ich in Das Ich und das Es stattgefunden hat, wobei
mehrfach auch frühere Schriften herangezogen werden.
Mit dem Ziel eines breit angelegten, systematischen Vergleichs
erstreckt sich die Untersuchung nicht allein auf die Affinitäten,
sondern berücksichtigt ebenso die mitunter grundlegenden Unterschiede und Brüche zwischen beiden Entwürfen, was sich bei der
Problematisierung des freudschen Entwurfs als fruchtbar erweist.
Unter Beibehaltung dieser Ausrichtung werden bereits im ersten
Kapitel die einschlägigen Übereinstimmungen und Abweichungen der beiden psychischen Entwürfe skizziert, sodass von Beginn
64
65
Vgl. M. Vegetti, Guida alla lettura della »Repubblica« di Platone, Laterza,
Roma-Bari 1999, S. 36.
Eine Übersicht und Erörterung der »platonischen Frage« findet sich
bspw. in H. Thesleff, Studies in Platonic chronology, Commentationes
Humanarum Litterarum, Helsinki 1982, insbes. zu Staat, Gastmahl und
Phaidros, S. 101-10, 135-40, 171-180, 184-186; eine umfassende Übersicht der stilistisch-stilometrischen Untersuchungen bietet L. Brandwood,
The chronology of Plato’s Dialogues, Cambridge University Press, Cambridge 1990. Ders., Stylometry and chronology, in R. Kraut (Hrg.), The
Cambridge Companion to Plato, Cambridge University Press, Cambridge
1992.
47
an eine Übersicht über die Gesamtkonzeption entsteht. Zunächst
soll der vorwiegend konfliktträchtige Charakter unterstrichen
werden, der beiden Entwürfen zugrundeliegt, sowie die übereinstimmende Tendenz, die Analyse der innerpsychischen Kräfte
auf politische Begriffe zu übertragen und zu übersetzen. Deshalb
wird von Anfang an auf die beiden Dreiteilungen eingegangen,
wobei auch zu zeigen ist, inwiefern die innerhalb der Sekundärliteratur stets anzutreffende Schwierigkeit, zwischen diesen eine
vollkommene Symmetrie aufzuzeigen, auf einem grundsätzlichen
Missverständnis beruht, das auf einen radikalen Unterschied bei
der Thematisierung des Verhältnisses von rationaler und moralischer Dimension verweist, und das die beiden Dreiteilungen
asymmetrisch werden lässt. Allerdings vermag diese Asymmetrie
die Prägnanz ihrer Übereinstimmungen keineswegs abzuschwächen. Dabei liegt eine Schlüsselstelle in der zentralen Bedeutung,
die in beiden Fällen der entscheidenden Rolle der Sphären der
Triebe und Gefühle und derjenigen der Wünsche zugeschrieben
wird. Alle diese Kräfte belagern und fesseln den rationalen Teil,
und wissen dabei auch das Ich für sich zu vereinnahmen.
Auch im zweiten Kapitel stehen weiter der Wunsch im Mittelpunkt, sowie vor allem die dazugehörigen Kontrollstrategien,
mit besonderer Berücksichtigung der Unterdrückungs- und Verdrängungsmechanismen. Die Darstellung verfolgt eine detaillierte
Untersuchung darüber, inwieweit solche Modalitäten die entscheidende Voraussetzung bilden, die den Weg zur Analyse der Traumprozesse ebnet, der seinerseits die eindrücklichste Bestätigung
der Wirkungslosigkeit solcher repressiver Strategien darstellt. Im
Wesentlichen behandelt dieses Kapitel also das zentrale Thema
der Via Regia.
Im dritten Kapitel folgt die eingehende Untersuchung der
Beziehungen zwischen den verschiedenen psychopathologischen
Abweichungen und den Traumprozessen, sowie ferner der Beziehungen zwischen der Figur des platonischen Tyrannen und der
Thematisierung verschiedener klassischer freudscher Pathologien.
Wiederum werden dabei die zwingenden Übereinstimmungen beider Auffassungen erläutert. Dazu wird die Betrachtung auf den
diagnostischen und auf den therapeutischen Ansatz ausgedehnt,
wobei auch die Differenzen hervortreten, die auf zwei verschie-
48
dene Grundannahmen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen
individueller Psyche und gesellschaftlicher Sphäre zurückgehen.
Hierbei zeigt sich die größere Öffnung, Durchlässigkeit und
intrinsische Porosität der platonischen Psyche gegenüber dem
durch die gesellschaftspolitische Sphäre ausgeübten Druck. Die
freudsche Subjektivität, die auf die zentrale Bedeutung des ödipalen Dreiecks verweist, zeigt dagegen eine gewisse narzisstische
Undurchlässigkeit gegenüber den Dynamiken, die auf die weitere
gesellschaftliche Wirklichkeit zurückführbar sind. Ferner sollen die Vorbedingungen beleuchtet werden, aufgrund derer der
diagnostische und therapeutische Charakter des platonischen
politischen Entwurfs, der innerhalb des Rahmens einer unauflöslichen isomorphen Zirkularität von psychisch-individueller und
gesellschaftlich-politischer Ebene entstanden ist, als Vorläufer
der modernen und zeitgenössischen Diagnosen gesellschaftlicher
Pathologien anzusehen ist. Hinzu kommt ein Exkurs über die von
Freud aufgezeigten Übereinstimmungen zwischen Sokrates’ Auffassung des Nichtwissens bzw. seiner Thematisierung der Neurose
und der psychoanalytischen Methode. Diese Übereinstimmungen
erweisen sich meines Erachtens nach als oberflächlich, insbesondere anhand der Gegenüberstellung mit den punktuellen und logischen Affinitäten, die sich aus der Untersuchung des Tyrannen im
Staat ergeben.
Das vierte Kapitel untersucht den metapsychologischen Status von Wünschen, Libido und Eros. Eingangs werden die beiden
hydraulischen Triebmodelle erläutert, mittels derer es möglich
ist, die Modalitäten der Kontrolle und Steuerung des positiven
Triebmaterials umzuwenden. Dabei wird deutlich, wie die Gegensätze von Unterdrückung und Umstimmung der Wünsche in platonischen, und von Verdrängung und Sublimierung in freudschen
Begriffen, auf einer grundsätzlich übereinstimmenden Konzeption
beruhen. Gerade in dieser Hinsicht unterstreicht eine solche Analogie die zentrale Rolle, die den Strategien der Wunschsteuerung
und des Eros hinsichtlich der Konflikte und innerpsychischen
Dynamiken bei beiden Autoren zuteil wird. Zugleich wird jedoch
auch der Abstand zwischen der freudschen Thematisierung des
Narzissmus und dem Verhältnis von Psyche und Polis sichtbar
gemacht. Die Darstellung verfolgt zudem eine Vertiefung der wie-
49
derholten Erklärungen und Untersuchungen Freuds zur platonischen Theorie des Eros, wobei mit besonderem Augenmerk auf
die Abweichungen in beiden Dialogen auch ihre Thematisierung
im Gastmahl sowie im Phaidros berücksichtigt wird.
Das fünfte und letzte Kapitel widmet sich der Thematisierung
der beiden moralischen Dimensionen, die bereits im ersten Kapitel erwähnt wurden und nun umfassend erörtert werden. Noch
einmal wird von Platons altem Wort ausgegangen, »dass der
Tugendhafte sich begnügt, von dem zu träumen, was der Böse
im Leben thut«, wobei hier nicht die theoretische Schwächung
desselben nachgewiesen werden soll, sondern vielmehr die Verfälschung des platonischen Moralbegriffs, die eine solche Interpretation hervorruft. Dabei wird zwischen beiden Gedankengebäuden
eine tiefgehende Bruchlinie erkennbar. Während sich einerseits die
vollständige Übereinstimmung zwischen noetisch-intellektueller
und moralischer Sphäre abzeichnet, die diagonal durch die im
engeren Sinne meta-psychologische, d. h. über den Bereich der
psychologischen Theorie hinausführende Ebene verläuft, zeigt
sich andererseits die potentiell pathogene Spaltung zwischen
dem im Über-Ich einbezogenen Gewissen kantianischer Prägung
und dem Ich. Diese Fragestellungen betreffen unmittelbar auch
die Thematisierungen des Ich-Ideals und der Verinnerlichung der
idealen Paradigmen, welche ungeachtet der unterschiedlichen
erkenntnistheoretischen Hintergründe Kontaktstellen bilden und
zwischen beiden Entwürfen als begriffliche Brücken dienen, von
denen aus sich nach meinem Dafürhalten jene Schlüsselstellen
bestimmen lassen, an denen die Thematisierung der moralischen
Dimension gewisse, gleichsam versteckte theoretische Vorbedingungen berührt, die beiden Entwürfen zugrunde liegen. Dieselben
Schlüsselstellen bestimmen auch die Thematisierung derjenigen
melancholischen Zustände, die in einem Fall die Tugendhaften
erfassen können, im anderen die Tyrannen.
50