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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter November 25, 2021

Anthropologie der Unsterblichkeit

Über die Möglichkeit post-mortaler Fortexistenz und die Vergeblichkeit des ‚mind-uploading‘

  • Thorsten Streubel EMAIL logo

Zusammenfassung

Ich möchte in diesem Artikel aufzeigen, dass ein Leben oder zumindest eine Fortexistenz des Subjekts nach dem physischen Tod aus anthropologischer Sicht durchaus nicht ausgeschlossen, die Fortexistenz einer Person durch die (vermeintliche) Übertragung ihres Geistes auf eine Festplatte (mind-uploading bzw. whole brain emulation) dagegen aus prinzipiellen Gründen unmöglich ist. Beide Thesen lassen sich durch eine Reflexion auf die humane Verfassung begründen.

Summary

In this paper I would like to show why the continued existence of the subject after physical death cannot be ruled out from an anthropological point of view. But I also argue that the continued existence of a person through mind-uploading is in principle impossible. Both theses can be justified by reflecting on the human condition.

Ich versuche im Folgenden zwei Thesen zu begründen: 1. Meine Fortexistenz nach dem biologischen Tod ist möglich. 2. Eine post-mortale Fortexistenz durch mind-uploading ist aus prinzipiellen Gründen unmöglich und damit nicht realisierbar.

1. Die Möglichkeit post-mortaler Fortexistenz

a) Begriffserläuterungen

These 1: Durch eine Reflexion auf die menschliche Verfassung lässt sich begründen, dass die post-mortale Fortexistenz des menschlichen Subjekts nicht ausgeschlossen ist. Oder kurz: Die Fortexistenz des Subjekts ist möglich.[1]

Auch wenn die Formulierung dieser These einigermaßen verständlich sein dürfte, hängt doch für ihre Begründung alles davon ab, dass die in ihr verwendeten Begriffe wie (i) ‚Reflexion auf die menschliche Verfassung‘, (ii) ‚Fortexistenz‘, (iii) ‚Subjekt‘ und (iv) ‚möglich‘ möglichst präzise gefasst werden:

  1. Mit ‚Reflexion auf die menschliche Verfassung‘ meine ich die Aufweisung und begriffliche Erfassung derjenigen Grundmomente, die unser Menschsein konstituieren. Diese Grundmomente des Menschseins nenne ich auch „Anthropoialien“. Ein Anthropoial ist ein unselbständiges Teilmoment des Ganzen, also des bzw. eines Menschen bzw. einer anthropoialen Lebensform.[2] Es lassen sich mindestens sechs solcher Grundmomente aufweisen: Ich, Bewusstsein (Erleben), Leib(lichkeit), Körper(lichkeit), Umwelt und Geist(igkeit). Ihr dynamisches Zusammenspiel ermöglicht menschliches Leben und Existieren wie jeder Mensch es von sich selbst her kennt.

  2. Mit ‚Fortexistenz‘ ist hier ein Weiterbestehen nach dem physischen oder biologischen Tod gemeint. Dies impliziert, dass nicht der ganze Mensch, sondern nur ein Teil bzw. Moment des Menschen fortbestehen kann. Denn der Mensch als solcher verwandelt sich mit dem Tod in einen Leichnam, der zudem (unter normalen Bedingungen) der Verwesung unterliegt. ‚Fortexistenz‘ meint hier zudem ein Weiterbestehen über eine gewisse Zeitspanne hinweg, vielleicht auch ein potenziell unendliches temporales Weiterbestehen (also sempiternitas, nicht aeternitas). Damit ist auch die hier verfolgte Fragestellung umgrenzt: Es soll hier nicht um die christlich-theologische Frage einer möglichen (auch leiblichen) Wiederauferstehung eines konkreten Menschen am Ende aller Zeiten gehen, sondern allein um die Frage, ob es im Menschen etwas gibt, das dem Entstehen, Wandel und Vergehen des Lebewesens ‚Mensch‘ nicht unterworfen ist und echte diachrone ‚personale Identität‘ gewährleistet. Womit wir beim dritten klärungsbedürftigen Begriff sind:

  3. ‚Subjekt‘: Ich möchte zwischen ‚Subjekt‘ im holistischen Sinne und ‚Subjekt des Subjekts‘ als dessen Teilmoment unterscheiden. Unter ‚Subjekt‘ verstehe ich allgemein jede über Bewusstsein verfügende animalische Lebensform (= „Animant“). Im Rahmen meiner folgenden Überlegungen ist mit ‚Subjekt‘ indes primär das menschliche Subjekt (Anthropos) gemeint, ohne dass ich damit behaupte, dass nur Menschen über Bewusstsein verfügten und folglich nur sie Subjekte seien. Unter Bewusstsein selbst verstehe ich dabei nichts per se Begriffliches oder Geistiges, sondern lediglich die erlebnismäßige Präsenz von Selbst und Umwelt. Da wir eben nicht nur ein Bewusstsein von unserer Umwelt haben, sondern auch ein Bewusstsein unseres Selbst, nenne ich diejenige Instanz, die das Subjekt dieses Bewusstseins ist, das Subjekt des (ganzen) Subjekts oder das Ich. Dieses Ich-Subjekt bin ich im strengen Sinne selbst: Es ist ich und ich bin es. Ich bin dieses Ich und kein anderes. Da alles, was mir sonst anschaulich gegeben ist, dem stetigen Wandel unterliegt, muss sich die Frage nach der Fortexistenz des Subjekts erstens auf die (momentane) Existenz, zweitens auf die diachrone Identität und schließlich drittens auf die post-mortale Fortexistenz dieses Ich richten. Das heißt, es muss erstens die Existenz dieses Ich aufgewiesen werden, sodann die diachrone Identität dieses Ich gesichert werden, um schließlich sinnvoll nach seiner post-mortalen Fortexistenz fragen zu können. Und dies führt uns zum Begründungsziel der folgenden Überlegungen: Ich beanspruche nämlich weder die diachrone Identität des Ich noch dessen post-mortale Fortexistenz apodiktisch beweisen zu können. Stattdessen versuche ich nur die Möglichkeit einer solchen post-mortalen Fortexistenz zu begründen.

  4. Den Möglichkeitsbegriff, den ich hier verwende, möchte ich jedoch nicht unmittelbar als modal-ontologischen Begriff verstanden wissen, sondern in erster Linie als epistemischen Modalitätsbegriff (auch wenn es entsprechende Implikationsbeziehungen gibt). Wobei ich hier allerdings auch mehr als nur eine bloße Denkmöglichkeit im Blick habe, denn denken kann ich mir nicht nur alles Mögliche, sondern auch Unmögliches. Mir geht es aber letztendlich um eine echte ontische Möglichkeit. Trotzdem werde ich hier nicht die volle Wesensmöglichkeit und schon gar nicht die Realmöglichkeit einer post-mortalen Fortexistenz erweisen können. (Ob dies prinzipiell möglich oder unmöglich ist, weiß ich ebenfalls nicht mit Gewissheit.) Unter Wesensmöglichkeiten verstehe ich solche ontischen Möglichkeiten, die nicht in sich unmöglich sind und durch hinreichende Realbedingungen wirklich werden können. Was nicht wesensmöglich ist, kann auch nicht realmöglich sein.[3] Daher sind umgekehrt auch alle wirklichen Entitäten für sich betrachtet Wesensmöglichkeiten; aber nicht alles, was wesensmöglich ist, muss deshalb auch realmöglich sein (hierzu bedarf es eben der hinreichenden Realbedingungen). So kann es beispielsweise keine runden Würfel geben, weil diese essenziell unmöglich sind. Sie sind essenziell unmöglich (weil in sich widersprüchlich) und daher auch realunmöglich. Es könnte aber sehr wohl außerirdische anthropoiale Lebensformen aus Wesensgründen geben, weil die Lebensform ‚Anthropos‘ als Gattungsidee auch andere wesensmögliche menschliche Lebensformen unter sich begreift (und nicht nur Homo sapiens). Ob andere Menschenformen aber realmöglich oder gar realwirklich sind, lässt sie aus dieser Gattungsidee und ihrem Umfang an essenziellen Möglichkeiten allein nicht ableiten. Existenz folgt nicht aus Essenz. Man muss Wesensmöglichkeit und Realmöglichkeit streng auseinanderhalten, wobei, wie erläutert, nur das realmöglich ist, was auch wesensmöglich ist (aber nicht umgekehrt).

Um was für eine Möglichkeit geht es mir also, wenn ich nach der möglichen Fortexistenz des Ich frage? – Es geht mir um mehr als nur um eine Denkmöglichkeit, aber um weniger als um den vollumfänglichen Nachweis, dass eine post-mortale Existenz essenziell möglich oder gar realmöglich ist. Anders formuliert: Ich möchte zeigen, dass eine post-mortale Fortexistenz nicht kategorisch ausgeschlossen ist, was bedeutet, dass es (soweit ich sehe) keine sachlichen Gründe gibt, die der Möglichkeit einer Fortexistenz definitiv widersprechen. Ich möchte jedenfalls betonen, dass in diesem Möglichkeitsbegriff epistemische und ontische Gesichtspunkte verbunden sind. Und dies muss so sein, kann doch von einer konkreten ontischen Möglichkeit immer nur gesprochen, insofern sie Gegenstand der Erkenntnis ist – so auch hier im Falle der post-mortalen Fortexistenz.

b) Die Begründungsidee

Es gilt nun Folgendes zu zeigen: 1. Der Mensch ist mehr als nur ein biologischer Organismus. Denn wenn er nichts anderes als nur ein biologischer Organismus wäre, wäre er in seiner Gesamtheit vergänglich (sterblich oder zumindest zerstörbar), mithin post-mortale Fortexistenz unmöglich. 2. Es gibt ein echtes Subjekt des Subjekts oder ein Ich, mit dem ich selbst streng identisch bin. 3. Es muss gezeigt werden, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass dieses Ich, mit dem ich identisch bin, auch diachron identisch ist – mit sich selbst und mit mir.

Hieraus ergibt sich dann die Begründung der ersten These: Wenn es ein Ich gibt, dass diachron mit sich und mit mir identisch ist, dann ist es auch nicht ausgeschlossen, dass dieses Ich nach dem physischen Tod weiterexistiert und sich möglicherweise in ein anderes Lebewesen ‚inkarniert‘, also Subjekt eines anderen menschlichen oder nicht-menschlichen Subjekts wird. – Dies ist meine Begründungsidee.

c) Kurze Skizze des fundamentalanthropologischen Ansatzes

Die Begründung von These 1 setzt voraus, dass der Mensch mehr ist als ein vergänglicher bzw. sterblicher biologischer Organismus. Nicht alles Nichtorganismische am Menschen ist jedoch per se ‚unsterblich‘. Nichtsdestotrotz ist es wichtig, auf die Gesamtverfassung des Menschen hinzuweisen, da nur so die mögliche post-mortale Fortexistenz begründet und einsichtig gemacht werden kann. Nun kann ich hier allerdings nicht den kompletten fundamentalanthropologischen Ansatz darstellen,[4] der die anthropologische Grundlage meiner Argumentation darstellt. Stattdessen möchte ich in gebotener Kürze auf die Phänomene verweisen, die nicht-körperlich oder organismisch im biologischen Sinne sind, um das biologistisch-naturalistische Menschenbild zurückzuweisen, aber vor allem, um dadurch den Existenzaufweis des Ich vorzubereiten:

Es ist hier zuerst das Bewusstsein (als Erleben) zu nennen, das nicht etwa ein höheres Stockwerk, ein Weltinnenraum, ein Gehirn- oder Epiphänomen oder gar eine res cogitans ist. Denn dem Phänomen nach ist es die erlebnismäßige Präsenz von lebendigem Eigenkörper (biologisch betrachtet: dem menschlichen Organismus) und den eigenen geistigen Vollzügen und Inhalten, kurz: von Körper und Geist, aber auch von Leib und Umwelt. Es ist deren Gegebenheit oder Präsenz für mich (das Ich) und nicht etwas für sich Bestehendes (im Sinne eines Substanzendualismus oder Idealismus) oder ein reines Epiphänomen (Naturalismus). Das Bewusstsein als „lebendige Gegenwart“ (Husserl) ist somit nicht selbst etwas Organismisches oder Körperliches, aber auch keine (Seelen-)Substanz und auch nicht mein Ich. Das Bewusstsein ist daher gar kein ‚Subjekt‘, vielmehr bin ich bewusst, insofern ich erlebe und damit das Subjekt des Erlebens oder Bewusstseins bin.

Der Körper ist selbst eine erlebnismäßige Präsenz für mich (also für das noch aufzuweisende Ich), und kein Ding an sich. Der empirische Körper ist eine (unbezweifelbare) Tatsache des Bewusstseins. Zudem ist er unabtrennbares Korrelat kinästhetischer und damit leiblicher Wahrnehmungsvollzüge. Die Existenzweise des (phänomenalen) menschlichen Körpers ist daher eine korrelationistische.

Der Leib wiederum ist zwar mein primäres Wahrnehmungsorgan, aber selbst nichts Körperliches: Leib und Körper sind verschiedene Entitäten. Denn der Leib kann (im Unterschied zum Körper) nur gefühlt, aber nicht mit unseren (wiederum leiblichen) Sinnen wahrgenommen werden; sein Sein ist gewissermaßen sein Gefühltsein bzw. Gefühltwerden und nichts außerdem. Korrelat des wahrnehmenden Leibes ist freilich der eigene Körper, aber auch die Umwelt und damit auch die sich körperlich manifestierenden anderen Subjekte (Menschen und andere nicht-menschliche Subjekte). Auch die Umwelt ist somit ein phänomenales Teilmoment meines Menschseins, aber nicht Teil meines Körpers.

Natürlich ist auch mein Geist, zu dem etwa meine Gedanken, meine Denkvollzüge, die sinnhaften Verweisungen gehören, nichts Körperliches. Und erst recht nichts Körperliches ist mein Ich. Der Mensch oder besser „Anthropos“ ist aus diesen sechs Teilmomenten komponiert, ihr Zusammenspiel ist die menschliche Existenz. Der Eigenkörper ist nur eines von mindestens sechs unselbständigen Teilmomenten des ganzen Menschen. Der Mensch ist daher nicht identisch mit seinem Körper, sondern nur partial identisch mit diesem.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das Bewusstsein ist nicht dasselbe wie Geistigkeit, Geistigkeit nicht dasselbe wie mein Ich, Leiblichkeit nicht dasselbe wie Körperlichkeit. Sowohl monistische als auch dualistische Anthropologien stellen somit unsachgemäße Verkürzungen unserer holistischen Verfassung dar. Trotzdem behaupte ich nicht, dass nach dem biologischen Tod neben dem Ich auch Bewusstsein, Leiblichkeit und Geistigkeit fortexistieren können, auch wenn sie nicht-körperliche Phänomene sind. Ich werde hierzu schlicht keine Aussage treffen (auch wenn ich diesbezüglich äußerst skeptisch bin). Nur dies: Da mir diese Phänomene vom Ich abhängig zu sein scheinen, hängt letztlich alles von der Fortexistenz des Ich ab, weshalb ich mich auch auf dessen Fortexistenz konzentrieren werde. Keinem der nicht-ichlichen Anthropoialen (Bewusstsein, Geistigkeit, Leiblichkeit, Körperlichkeit, Umwelt) kann ein substanzielles oder zumindest ‚identitäres‘ Sein zugesprochen werden. Zudem bin ich mit keinem dieser Teilmomente streng identisch im ontologischen Sinne. Und keines dieser Teilmomente ist ein Subjekt im strengen Sinne. Daher bleibt als einziger Kandidat für (m)eine post-mortale Fortexistenz mein Ich übrig. Dass das Ich eine Art Substanz sei, soll damit freilich nicht präsupponiert werden. In Bezug auf das Ich genügt es, zu zeigen, dass es diachron mit sich und mit mir identisch ist.

d) Das Ich und die Möglichkeit seiner post-mortalen Fortexistenz

α) Die Existenz des Ich

Mit dem Ich hat es allerdings eine besondere Bewandtnis. Im Unterschied zu den anderen Anthropoialien ist es nämlich kein unmittelbar gegebenes Phänomen. Auf Körper und Umwelt kann ich mit dem Finger zeigen, auf Geist, Leib und Bewusstsein kann ich sprachlich verweisen und diese als Phänomene aufweisen. Das Ich ist dagegen kein phänomenales Datum. Nichtsdestotrotz lässt sich seine Existenz nachweisen.

Dies ist etwa durch Reflexion auf das permanente Affektionsgeschehen möglich, welches mein Erleben ausmacht. So werde ich, das Ich, nicht nur durch solche Tatsachen des Bewusstseins affiziert, die im Fokus meiner Aufmerksamkeit stehen, sondern auch durch solche, auf die ich nicht aufmerksam bin (z. B. durch Störgeräusche, Gedanken, Schmerzen). Gäbe es kein echtes Subjekt des Bewusstseins, dann gäbe es auch keine Instanz, die affiziert werden könnte. Nun werde ich (das Ich) jedoch ständig affiziert, also gibt es mich, das Ich. Eine Affektion des Ich (als des Subjekts des Bewusstseins) durch eine Tatsache des Bewusstseins (= Erlebnisgehalt) kann eine ichlich-attentionale Zuwendung zur Affektionsquelle herbeiführen, muss sie aber nicht. Das Ich ist dabei keine transspatiale Entität (etwa eine cartesische res cogitans oder gar ein nur hinzugedachtes ortloses transzendentales Subjekt), sondern das räumliche Zentrum meines Wahrnehmungsraums, es ist lokalisiert im Leibkopf. Es ist jedoch nicht identisch mit dem ungefähr am selben Ort befindlichen Gehirn, welches – im Unterschied zum Ich – selbst nur eine Erscheinung ist und kein Ding an sich. Denn das empirische Gehirn ist als Phänomen selbst eine Tatsache des Bewusstseins; an sich ist es – das Gehirn – jedoch mein Ich. Diese meine Auflösung des Gehirnparadoxes kann ich hier leider nur am Rande streifen.[5] Ich bin aber tatsächlich der Überzeugung, dass nicht das Ich ein Produkt des Gehirns, sondern das Gehirn die Repräsentation des Ich in der Wahrnehmung des Ich ist. Das heißt: Wenn das Ich sich mittels des Leibes visuell wahrnimmt (was aus anatomischen Gründen nur mittels Spiegelvorrichtungen möglich ist), dann erscheint es sich als Gehirn. Da das Gehirn jedoch mit dem Tod vergeht (auch als Erscheinung), scheint nicht das Ich in toto, sondern höchstens ein ichlicher Kern unsterblich zu sein (nicht aber das komplette Ich).

Ich behaupte also erstens, dass das Ich und nicht das Gehirn unserem Erleben und seinen Inhalten konstituierend zugrunde liegt; und zweitens, dass für die post-mortale Fortexistenz nur ein Kern des Ich in Frage kommt.

β) Die Identität zwischen mir und meinem Ich

Wie lässt sich aber begründen, dass ich mit diesem Ich im strengen Sinne identisch bin? Ich bin doch auch mit meinem Körper und den anderen Teilmomenten identisch. Dies ist zwar cum grano salis richtig. Aber die übrigen Anthropoialien sind keine echten Subjekte, sondern Teilmomente des ganzen Menschen und zugleich als Tatsachen des Bewusstseins mögliche Wahrnehmungs- und Erkenntnis‚objekte‘ für das einzig ‚echte‘ und eigentliche Subjekt – für mich, das Ich. Ich bin es, der ich kraft meines Bewusstseins das erlebende und wahrnehmende und erkennende Subjekt bin. Nicht der Leib oder der Körper oder die Umwelt oder die geistigen Gehalte nehmen mich oder die anderen Teilmomente und sich selbst wahr, sondern umgekehrt: Ich erlebe sie und kann daher auf sie meine Aufmerksamkeit richten und sie zum Gegenstand eines (theoretischen oder sonstigen) Interesses machen. Ich bin das Subjekt im strengen Sinne, sie sind phänomenale Gegebenheiten und damit potenzielle Objekte, auch wenn wir nur zusammen ein bestimmtes menschliches Wesen sind. Es ist ja schon alltagssprachlich üblich von meinem Körper, meinem Bewusstsein und meinen Gedanken etc. zu sprechen. Doch meine Gedanken kommen und gehen, mein Körper ist zu keinem Zeitpunkt mit sich identisch. Das Gleiche gilt für Leib, Bewusstsein und Umwelt. Nur ich scheine immer derselbe zu sein – Ich das Subjekt des Erlebens, das Subjekt des Subjekts, das Subjekt dieses Menschen oder dieser Person. Nur mein Ich ist also ein Subjekt im strengen Sinne, weil nur mein Ich wahrnimmt und erlebt. Und nur ich bin es, der wahrnimmt und erlebt, weil ich dieses Ich bin, weil ich nämlich mit diesem identisch bin.

Wenn ich oben sagte, dass Subjekte nur bewusste Lebewesen (Animanten) sind, so muss ich jetzt ergänzen: nur bewusste und zudem ichliche Lebewesen sind Subjekte. (Ob es auch bewusste und ichliche Artefakte, z. B. Androiden, geben könnte, muss ich hier offen lassen.) Nur ein Wesen, das ein Ich hat bzw. ist, kann somit auch legitimerweise als Subjekt bezeichnet werden. Nur da, wo es ein Subjekt des Subjekts gibt, ist auch die ganze Subjekt-Objekt-Einheit ein Subjekt. Der Subjektstatus einer Lebensform leitet sich von der Existenz seines Egos und seines Bewusstseins ab. Nur weil ich ein Ich bin, kann ich auch ein ‚Jemand‘ sein. Kein ‚nicht-egologisches‘ Lebewesen ist ‚jemand‘, sondern nur ‚etwas‘.

Wenn ich also nachweislich über ein Ich verfüge und wenn ich es bin, der das Subjekt meines Bewusstseins und damit Subjekt meines Subjekts ist, dann bin ich synchron mit diesem Ich identisch. Anders formuliert: Ich bin es, der gerade jetzt mit diesen Augen in die Welt blickt und niemand anderes. Und dies ist wahr, solange dies eben der Fall ist. Doch woher weiß ich, dass dies schon seit meiner Geburt so war und zumindest bis zu meinem Tod so sein wird?

γ) Die mögliche diachrone Identität des Ich

Dass ich – zumindest mein ganzes Leben lang – mit dem Ich der Person diachron identisch bin, die meinen Namen trägt, lässt sich m. E. apodiktisch nämlich gar nicht beweisen, sondern nur plausibel machen. Wobei es hier eigentlich um zwei Identitätsrelationen geht:

  1. Ich = Ichxy (= Subjekt des Subjekts) => Ich bin dieses Ich und kein anderes.

  2. Ich(t0) = Ich(t1) = Ich(tx) => Dieses Ich, das ich bin, ist auch diachron mit sich identisch.

Bei dem ersten Fall handelt es sich um die synchrone und momentane Identität zwischen mir und einem bestimmten Ich einer bestimmten Person. Wobei sich hier eigentlich zwei weitere Identitätsrelationen verbergen: Ein Ich ist (trivialerweise) mit sich synchron identisch. Und: Ich bin mit diesem Ich synchron identisch – mit diesem ganz bestimmten Ich und mit keinem anderen (= egologische Identität).[6] Und weil ich dieses Ich bin, bin ich auch dieser Mensch. Aus der synchronen Identität folgt aber nicht die diachrone Identität. Denn es könnte sein, dass das Ich sich wie alle anderen Teilmomente verändert und somit diachron nicht-identisch mit sich wird und sich dadurch auch die erste Identitätsrelation auflöst. Das einzige Mittel, mich meiner ichlichen Identität zu vergewissern, ist meine Erinnerung an frühere Erlebnisse. Fotos und Filme von mir reichen hierzu nicht hin, denn sie sind selbst keine Erinnerungen an frühere Erlebnisse (auch wenn ihre Betrachtung solchen auf die Sprünge zu helfen vermögen), sondern Abbildungen von der Person bzw. des Menschen, von dem ich oder andere sage/n, dass ich einst dieser Mensch war. Um mich ohne fremde Hilfe auf einem Kindheitsfoto wiedererkennen zu können, muss ich entweder noch wissen, wie ich als Kind aussah oder aufgrund gewisser Ähnlichkeiten schließen können, dass ich hier als Kind abgebildet bin. Oder ich habe das Bild schon als Kind betrachten können und kann mich bis heute daran erinnern. Das Foto sagt mir aber nicht, ob ich auch schon damals das Ich war, mit dem ich heute tatsächlich (synchron) identisch bin. Dies (nämlich das Identischsein: Ich bin er), ‚behauptet‘ aber gleichsam meine Erinnerung an frühere Erlebnisse. Die momentane Erinnerung ist natürlich meine, insofern ich das Subjekt dieser Erinnerung bin, die ich gerade momentan vollziehe. Sie (die Erinnerung) erinnert ein früheres Erlebnis als mein früheres Erlebnis; und zwar erinnert sie es nicht einfach nur als Erlebnis dieser Person, die die Person, die ich jetzt bin, einst war, sondern sie erinnert es auch so, dass ich es war, der dieses frühere Erlebnis hatte, dasselbe Ich, das ich jetzt bin und das sich jetzt erinnert – und kein anderes. Aber ob dies richtig ist, hängt davon ab, ob diese und alle anderen Erinnerungen keine Scheinerinnerungen sind. Und dies lässt sich durch nichts beweisen oder feststellen.

Wobei es zwei Arten von Scheinerinnerungen gibt: (i) Erinnerungen, die etwas falsch erinnern (hinsichtlich des Erlebnisinhaltes); und (ii) Erinnerungen, die zwar die Inhalte richtig erinnern, aber Erlebnisse erinnern, die gar nicht meine sind – und zwar in dem Sinne, dass ich damals gar nicht das Subjekt dieser Erlebnisse war, die erinnert werden.[7] (Natürlich ist auch eine Kombination beider Arten denkmöglich, aber hier nicht von Interesse.)

Ich behaupte nun nicht skeptizistisch, dass tatsächlich alle meine Erinnerungen Scheinerinnerungen im Sinne von (ii) sind. Das Problem ist nur, dass sich das Gegenteil, soweit ich sehe, auch nicht beweisen lässt. Nichts scheint zu beweisen, dass ich mit dem früheren Ich oder Subjekt meines Subjekts identisch bin, schon gar nicht meine Erinnerungen, obwohl gerade sie diesen Glauben befestigen.

δ) Die Möglichkeit prä-mortaler Nichtexistenz

Dies wäre praktisch nicht weiter tragisch, wenn hierdurch nicht zumindest theoretisch die Gefahr bestünde, dass ich noch vor dem physischen Tod aufhören könnte, das Subjekt dieses Menschen zu sein, weil keine diachrone Identität des Ich mit sich selbst und damit zwischen mir und diesem Ich garantiert ist. Was macht mich nämlich so sicher, dass ich auch morgen noch das Subjekt dieses Menschen bin, der meinen Namen trägt? Ist das Ich nämlich nicht diachron identisch, könnte es auch sein, dass sich damit die egologische Identitätsrelation auflöst, also dass ich in Zukunft nicht weiter dieses Ich bin. – Statt auf post-mortale Existenz hoffen zu können, droht mir nun plötzlich prä-mortale Nichtexistenz. Nun könnte man zwar dafür argumentieren, dass diachrone Identität keine notwendige Bedingung für die egologische Identitätsrelation ist (Ich = Ichxy). Doch wäre ein solches Argument, selbst wenn es ein solches gäbe, für die uns hier interessierende Frage irrelevant: Gibt es nämlich keine diachrone Identität und erhält sich das Ich oder etwas am Ich nicht über die Zeit hinweg identisch, dann ist post-mortale Fortexistenz kaum mehr denkbar. Denn was durch und durch veränderlich ist, kann auch zerstört werden: Es kann ‚verwesen‘ oder ‚verenden‘ in einem allgemeinen ontologischen (und nicht nur biologischen) Sinne. Und es scheint nicht sonderlich plausibel zu sein, dass etwas, das so wie der Rest des Menschen vergänglich ist, den Tod unversehrt überstehen könnte. Man könnte natürlich versuchen, ein weiteres Argument zu kreieren, das zeigt, dass totale Veränderbarkeit einer Entität nicht deren Zerstörbarkeit impliziert und dass das Ich daher den physischen Tod trotzdem überstehen kann. Ich werde auch dieses Argument hier nicht präsentieren, sondern im Gegenteil dafür argumentieren, dass die egologische Identitätsrelation diachron nur bestehen kann, wenn diachrone Identität im zweiten Sinne existiert, wenn das Ich also, mit dem ich zu einem bestimmten Zeitpunkt identisch bin, auch mit sich selbst über die Zeit hinweg identisch ist. Und wenn dies richtig ist und strenge diachrone Identität zwischen mir und einem bestimmten Ich von der diachronen Identität dieses Ich mit sich selbst abhängig ist, dann ist dies wiederum eine notwendige Bedingung für post-mortale. Ohne diachrone Identität, so also meine These, ist post-mortale Fortexistenz an sich und damit auch für mich (als dieses Ich) unmöglich.

Überlegen wir daher näher: Kann ich wirklich mit etwas, nämlich einem bestimmten Ich, diachron streng identisch sein, ohne dass dieses Ich, mit dem ich identisch bin, auch mit sich selbst diachron identisch ist? Wenn das Ich durch und durch veränderlich oder auch nur veränderbar ist, dann ist es kaum zu rechtfertigen, dass ich notwendig (und nicht nur faktisch momentan oder vorübergehend) mit diesem Ich identisch bin. Ist eine Entität durch und durch veränderbar, dann verliert sie durch jede minimale Veränderung sofort ihre diachrone Identität mit sich selbst. Wir können dies das egologische ‚Theseus-Problem‘ nennen.[8] Aber genau genommen gewährleistet auch faktische Unveränderung über eine gewisse Zeitspanne hinweg nicht strenge Identität, sondern nur Gleichheit mit sich selbst. Denn eine reale Entität X zu t0 und die gleiche Entität zu t1 sind nicht miteinander streng identisch, allein schon deswegen, weil die eine bereits vergangen ist und damit nicht mehr existiert. Wir können dies das Nunc-fluens-Problem nennen. So gesehen wäre diachrone Identität für reale Entitäten indes per se unmöglich. Wenn aber strenge diachrone Identität für reale Entitäten unmöglich ist, dann ist schwer einzusehen, warum ich trotz diachroner Nicht-Identität dieses realen Ich mit sich selbst mit diesem Ich diachron notwendig identisch sein sollte – und wie ich das sein könnte. Eigentlich handelt es sich hier um eine logische Unmöglichkeit:

Wenn einerseits gilt (egologische Identität: ich bin permanent das Subjekt des Erlebens):

Ich = IchT.S.(t0) und Ich = Ich‘T.S.(t1)

und wenn andererseits gilt (diachrone Nicht-Identität: das Subjekt des Erlebens wahrt keine strenge Identität mit sich):

IchT.S(t0) ≠ Ich‘T.S(t1),

dann ergibt sich der Widerspruch, dass ich zugleich mit Ich‘T.S.(t1) identisch und zugleich nicht-identisch bin (unter der Prämisse, dass ich gewiss mit Ich(t0) identisch war). Denn wenn gilt:

Ich = IchT.S(t0) und Ich = Ich‘T.S(t1),

dann gilt auch (Transitivität!):

IchT.S.(t0) = Ich‘T.S.(t1).

Nun gilt aber faktisch (diachrone Nicht-Identität):

IchT.S(t0) ≠ Ich‘T.S(t1)

Daher gilt logisch:

Ich = Ich‘T.S(t1) und zugleich Ich ≠ Ich‘T.S(t1) – was sich widerspricht.

Es liegt hier also ein Verstoß gegen den Satz vom Widerspruch im Allgemeinen und eine Verletzung des Transitivitätskriteriums für Identitätsrelationen im Besonderen vor. Entweder gilt die egologische Identitätsrelation diachron nicht, dann droht der prä-mortale egologische Tod (kein logischer Widerspruch). Oder sie gilt – und dann muss auch die diachrone Identität des Ich, mit dem ich egologisch identisch bin, gewährleistet sein (kein logischer Widerspruch). Nur wenn egologische Identität über die Zeit hinweg bestehen soll, aber zugleich das Ich, mit dem ich identisch sein soll, nicht mit sich diachron identisch ist, wird das Transitivitätskriterium für Identitätsrelationen verletzt. Es gibt also logisch nur diese zwei Möglichkeiten: entweder besteht diachrone egologische Nicht-Identität und daraus ergäbe sich der prä-mortale Tod (bzw. sogar eine nur momenthafte Existenz) oder die doppelte diachrone Identität ist gewährleistet und damit letztlich auch post-mortale Fortexistenz. Es gilt dann aber auch: Leide ich nicht konstitutionell unter egologischen Scheinerinnerungen, dann war ich die ganze Zeit das Ich-Subjekt dieses Menschen und werde, aufgrund meiner diachronen Identität den Tod dieses Menschen überstehen, also post-mortal fortexistieren. Post-mortale Fortexistenz ist also möglich.

Dies bedeutet auch: Die (unplausible) Annahme eines ‚unsterblichen‘, aber in Wandlung befindlichen Ego (ohne Identitätskern), gewährleistet nicht meine post-mortale Fortexistenz, da hierdurch die egologische Identität zwischen mir und diesem Ich nicht gewährleistet wird, ich also nicht mit diesem Ich diachron identisch sein könnte. Nur aufgrund von durchgängigen Scheinerinnerungen würde sich dieses Ich für diachron identisch halten, obwohl es seinsmäßig in Wahrheit nur ein transitorisches Phasenkontinuum nicht-identischer Phasen darstellt.

Bei nicht-ichlichen Entitäten kommt es nicht darauf an, dass sie streng diachron identisch mit sich sind; es genügt, dass sie kontinuierlich existieren, um rechtmäßig als identische Entitäten apperzipiert zu werden. Diese Rechtmäßigkeit ist keine streng alethische, sondern nur eine in Bezug auf pragmatische Kontexte. Die alltägliche vorphilosophische Auffassungsweise differenziert nicht klar zwischen kontinuierlicher Existenz und strenger Identität. Eine solch kontinuierliche Existenz kommt natürlich auch dem Ich zu. Aber kontinuierliche Existenz ist, wie gesagt, nicht hinreichend für strenge Identität. So hat etwa schon Thomas Reid drei Kriterien für strenge Identität formuliert:[9]

  1. Ununterbrochene Kontinuität der Existenz

  2. Unteilbarkeit

  3. Unveränderlichkeit

Diese drei Kriterien bezeichnen notwendige und wohl zusammen hinreichende Bedingungen für strenge Identität. Wenn also eine Entität diese drei Bedingungen erfüllt, dann wahrt sie auch strenge Identität mit sich über die Zeit hinweg (was nicht zu verwechseln ist mit einer vermeintlichen notwendigen Existenz). Wie wir gesehen haben, läuft unser Problem auf einen logischen Widerspruch hinaus. Denn ich kann nicht diachron identisch mit mir sein, wenn nicht auch dasjenige, mit dem ich diachron identisch sein soll, das Ego, mit sich wiederum diachron identisch ist. Daher setzt die Möglichkeit post-mortaler Fortexistenz strenge diachrone Identität des Ego im oben definierten Doppelsinne voraus.

Nun ist das Ego etwas eminent Wirkliches und nichts Eingebildetes oder nur Gedachtes; und es ist auch keine ideale Entität (etwa ein geometrischer Körper oder eine Zahl). Denn es ist nicht nur das Subjekt des Bewusstseins, sondern das „Ich der Affektionen und Reaktionen“ (Husserl). Es ist ein kausaler Akteur, letztlich das letzte Subjekt des Handelns und Verhaltens, eigentlich jeglicher reaktiven Aktivität. Hieraus würde folgen, dass das Ich als wirksames und reales entweder nicht diachron identisch mit sich ist oder dass es nicht real sein kann. Als reaktives müsste es real, als diachron identisches müsste es ideal sein (da keine reale Entität streng diachron identisch zu sein scheint); oder, falls diese Disjunktion nicht vollständig ist, müsste es von einer unbekannten dritten Seinsart sein. Real im herkömmlichen Sinne kann es nicht sein, wenn diachrone Identität gewährleistet sein soll. Ideal kann es auch nicht sein, weil es sonst kein kausaler Akteur und wirkliches Subjekt wäre (was es aber ist). Es bleibt daher nur das Postulat, dass das Ich eine wirkliche Entität sein muss, die anders als andere wirkliche Entitäten die von Reid formulierten Kriterien erfüllt und damit strenge Identität mit sich wahrt.

Ich sagte bereits, dass ich die Wesens- und Realmöglichkeit post-mortaler Existenz nicht beweisen kann. Denkt man das Ich aber durch und durch als ‚wirklich‘ (und damit auch als wirksam) und damit prinzipiell als veränderlich, dann scheint mir die Identität zwischen mir und diesem Ich nicht als notwendig gedacht werden zu können. Streng genommen wäre sie nur als in einem einzigen Augenblick denkbar, eben als einmalige synchrone Identität. Und dies scheint keine ernstzunehmende Option zu sein. Denn dieser Moment ist ja im Grunde auch immer schon vergangen.

Und doch bin ich weiter als Erlebnissubjekt ‚da‘: jetzt und jetzt und jetzt immer noch. Dies ist zwar keine Widerlegung des extremen skeptizistischen Zweifels, denn jede Vergewisserung meiner diachronen Identität könnte ja auf einer Scheinerinnerung beruhen. Aber gehen wir hypothetisch davon aus, dass nicht alle meine Erinnerungen Scheinerinnerungen sind, dann scheine ich immer das Subjekt dieses Menschen gewesen zu sein. Und dies impliziert strenge diachrone Identität zwischen mir und diesem Ich und zwischen diesem aktuellen Ich und allen früheren ‚Ichen‘. Und dies setzt voraus, dass das Ich nicht durch und durch real im bekannten Sinne sein kann. Es muss also etwas in ihm geben, das die strengen Identitätskriterien erfüllt (nota bene: unter den Voraussetzungen, dass ich bzw. dieses Subjekt, das meinen Namen trägt, nicht konstitutionell unter Scheinerinnerungen leide(t) und dass das Ich kein idealer Gegenstand ist, auch wenn es sich hinsichtlich seiner Identität wie ein solcher verhält). Und falls dies beim Ich der Fall ist, dann spricht auch nichts gegen die post-mortale Fortexistenz des Ich. Denn zur strengen Identität gehört Unveränderlichkeit. Der Tod aber ist eine qualitative Veränderung. Erfüllt das Ich (oder ein essenzieller Teil von ihm) die Kriterien strenger diachroner Identität, dann kann ihm der physische Tod des Organismus nichts anhaben, außer dass es aufhört das Subjekt dieses Lebewesens zu sein und damit vielleicht vorübergehend aufhört, überhaupt ein letztes Subjekt zu sein. Denn dies ist es nur, solange es ein Teilmoment ist. Nur als Subjekt des Subjekts ist es ja ein Teilmoment und damit überhaupt Subjekt. Stirbt das Lebewesen, hört auch das Ich auf, ein Subjekt zu sein, wenngleich es eben möglicherweise nicht ganz zu existieren aufhört, weil es von seiner Seinsart her die Kriterien strenger diachroner Existenz erfüllt. Deshalb ist post-mortale Fortexistenz als epistemisch möglich, nicht jedoch als bewiesenermaßen wesensmöglich, realmöglich oder realwirklich zu beurteilen. Läge aber strenge diachrone Identität tatsächlich vor, wäre post-mortale Fortexistenz wesensmöglich und im Falle des physischen Todes zugleich realmöglich, realwirklich und realnotwendig. Die bloße Fortexistenz eines nicht streng diachronen Ich wäre für mich, wie oben angedeutet, genauso irrelevant wie das Fortbestehen meiner sonstigen ‚sterblichen Überreste‘. Nur wenn ich auch post-mortal mit dem Ich identisch bin, welches weiter existiert, kann ich davon sprechen, dass ich selbst es bin, der post-mortal fortexistiert, wenngleich ich vielleicht solange bewusstlos fortexistiere, bis ich wieder zum Subjekt eines anderen Subjekts (einer anderen Lebensform oder irdendeiner ätherischen Existenzform) werde.

Zusammengefasst: Wenn ich nicht davon ausgehe, dass alle Erinnerungen an frühere Erlebnisse Scheinerinnerungen sind, dann war ich jeweils das identische Erkenntnis- bzw. Erlebnissubjekt. Somit muss dieses Ich die reidschen Kriterien für strenge Identität erfüllen. Diese wiederum gewährleisten post-mortale Fortexistenz des Ich, mit dem ich streng identisch bin. Denn Unveränderlichkeit impliziert eben Unveränderlichkeit über den Tod hinaus, mithin post-mortale Existenz und post-mortale diachrone Identität. Post-mortale Fortexistenz scheint also, wenn die Argumentation richtig ist, nicht unmöglich zu sein. Die Chancen hierzu sind sogar ausgesprochen gut.

2. Die Vergeblichkeit des mind-uploading

These 2: Eine post-mortale Fortexistenz durch ‚mind-uploading‘ ist unmöglich.

Während ich die post-mortale Fortexistenz als möglich und sogar als sehr wahrscheinlich beurteile (ohne hier näher auf die Problematik des Wahrscheinlichkeitsbegriffs einzugehen), muss ich die Hoffnung, Unsterblichkeit durch künftiges mind-uploading zu erlangen, leider enttäuschen. Denn die Idee, durch mind-uploading den Tod zwar nicht zu besiegen, aber ihn durch eine digitale Existenzweise gleichsam zu überlisten, beruht nicht nur auf einem falschen Menschenbild, sondern ist aus logischen Gründen unmöglich, da hier die Identitätsbedingungen nicht gewahrt werden.

Das falsche Menschenbild besteht näher hin darin, dass das Ich mit dem Geist oder eigentlich dem Gehirn und seinen Prozessen identifiziert wird, wohingegen jedoch alle drei Begriffe in Wahrheit auf Unterschiedliches referieren: Geist ist nicht Gehirn (denn welcher ‚Realist‘ würde behaupten, das Gehirn sei eine geistige Entität?) und das Gehirn ist nicht schlicht mit den Gehirnprozessen identisch (auch wenn man das empirische Gehirn fälschlicherweise als Ding-an-sich missversteht). Und Gehirnprozesse sind nicht dasselbe wie geistige Prozesse. Ich habe oben gezeigt, dass das Ich das Subjekt des Bewusstseins und damit des ganzen Subjekts ist. Es ist aber auch das Subjekt der geistigen Vollzüge und daher mit diesen ebenfalls nicht schlicht identisch. Vor allem aber ist das Ich nicht mit dem Gehirn und seinen Prozessen identisch, da jenes nur seine phänomenale und subjektrelative Erscheinung ist. Aber selbst wenn wir die Gleichung akzeptieren würden ‚Ich = Gehirn‘, ließe sich hierdurch keine Unsterblichkeit herstellen. Und zwar aus dem einfachen Grunde, dass ja beim mind-uploading eine funktionale Kopie des Gehirns hergestellt werden müsste.[10] Die Kopie ist aber nicht identisch mit dem Original, weder synchron noch diachron. Wäre ich (also das Ich) mein Gehirn und stirbt das Gehirn oder wird dieses zerstört, dann bin eben ich gestorben oder zerstört. Keine funktionale Kopie und kein Klon sind mit mir identisch. Selbst wenn sich ein solcher Kopiervorgang technisch bewerkstelligen ließe, ja sogar, wenn hierdurch ein echtes Subjekt kreiert würde, ist hierdurch meine post-mortale Fortexistenz nicht zu gewährleisten. Denn Ich bin nicht meine Kopie. Mind-uploading erfüllt die strengen Identitätskriterien nicht und zwar kein einziges. Daher stellt die Idee des mind-uploading ein leeres Versprechen dar, das lediglich unerfüllbare Hoffnungen erzeugt, aber ganz sicher keine post-mortale digitale Fortexistenz ermöglicht.

Wenn ich aber richtig liege, sind wir hierauf auch nicht angewiesen. Allerdings scheint auch die natürliche post-mortale Fortexistenz einen bedeutenden Schönheitsfehler aufzuweisen: Da Gedächtnisbildung ein Vorgang ist und damit das Gedächtnis strenge diachrone Identität ausschließt, gehen mit dem Tod wohl all unsere Erinnerungen verloren und damit alles, was uns zu dieser bestimmten Person bzw. diesem bestimmten Menschen machte. Aber vielleicht ist auch das weniger schlimm, als man vielleicht meint.

Online erschienen: 2021-11-25
Erschienen im Druck: 2021-11-25

© 2021 Thorsten Streubel, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 19.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/nzsth-2021-0027/html
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