Zusammenfassung
Durch den rasanten Fortschritt in den Neurowissenschaften ergibt sich ein bidirektionales Implikationsverhältnis zwischen Ethik und Neurowissenschaften: Einerseits haben neurowissenschaftliche Erkenntnisse epistemische Implikationen für anthropologisch-ethische Grundkonzepte, andererseits haben ethische Kriterien normative Implikationen für neurowissenschaftliche Interventionen. Die Neuroethik untersucht diese normativen Implikationen systematisch auf der metaethischen, der theoretischen und der praktischen Ebene. Um eine spezifische und differenzierte ethische Analyse der einzelnen neurowissenschaftlichen Interventionen zu ermöglichen, soll hier eine bereichsspezifische, neuroethische Kriteriologie vorgestellt werden. Durch exemplarische Anwendung ihrer einzelnen Kriterien auf gegenwärtige und zukünftige neurowissenschaftliche Forschungs- und Interventionsmöglichkeiten soll gezeigt werden, dass sie eine systematische und zugleich praktisch anwendbare Möglichkeit bietet, einen normativen Orientierungsrahmen für Neurowissenschaften und Neurologie zu gewinnen. Insofern sie auf weitgehend konsensfähigen ethischen Prinzipien basiert, kann sie zudem als ethische Grundlage für einen breiten klinischen und wissenschaftlichen Diskurs dienen.
Abstract
As a consequence of the rapid progress of neuroscience, new interactions between ethics and the neurosciences emerge: neuroscientific knowledge has epistemic implications for fundamental anthropological and ethical concepts (neuroscience of ethics and anthropology) and ethical criteria have normative implications for neuroscientific interventions (ethics of neuroscience). These normative implications are systematically examined in the field of neuroethics on a metaethical, theoretical and practical level. As a normative basis for an ethical analysis of neuroscientific interventions, a specific neuroethical criteriology is presented. By application of the criteria to present and future neuroscientific research and interventions, it is shown that this criteriology provides both a systematic and practical possibility to achieve a normative reference frame for neuroscience and neurology. Since the criteriology is based on widely shared ethical principles, it can also serve as a basis for a broader clinical and scientific discourse.
Notes
Zum Überblick über die metaethische Fundierung, die Bedingungen und die Notwendigkeit einer „Bereichsethik“ vgl. [28].
Dieses zeigt Ott ([30], S. 548) für die Bereichsethik der „Technikethik“.
Für eine Übersicht s. [2].
Für eine ausführlichere Darstellung s. [22].
Somit könnte man auch von einer „rekonstruktiven Ethik“ sprechen. Vgl. [6].
Aufgrund des Wegfalls eines allgemeingültigen metaphysischen Letztbezugs (sei es ein politischer oder ein religiöser) einerseits und der facettenreichen Sach-, Handlungs- und Normkomplexität in der Moderne andererseits könnte sich diese Pluralität nicht nur als eine ungelöste, sondern gar als eine unlösbare erweisen. Für die existenzielle Tiefe dieser Problematik vgl. [14].
Diese vier Prinzipien müssen bei bestimmten bereichsethisch spezifischen Überlegungen um weitere Prinzipien teilweise ergänzt werden. In der folgenden Bewertungsmatrix sind z. B. noch die Prinzipien der „Selbstwerthaftigkeit des Menschlichen und Natürlichen“ und der „Zweck-Mittel-Rationalität“ hinzugefügt worden. Eine metaethische Diskussion, warum dieses notwendig ist, und welche Beziehung zwischen den einzelnen Prinzipien besteht, kann und soll in dem vorliegenden Aufsatz nicht geleistet werden. Der philosophisch und ethisch interessierte Leser wird auf Literatur verwiesen, die dieses genauer darlegt [22].
Mag der teilweise fehlende ethiktheoretisch-systematische Zusammenhang zwischen den einzelnen Kriterien vielleicht möglicherweise zunächst kritisch gesehen werden, so findet sich der Grund jedoch in der methodologischen Eigenart des Begründungsverfahrens als einem in der erörterten Weise rekonstruktiv-kohärentistischem.
Auch hier wird deutlich, dass „Invasivität“ („intrusiveness“) ein unzulängliches neuroethisches Kriterium darstellen würde. Denn die Invasivität eines Cochleaimplantats an sich ist gering.
Zur Diskussion des Konzepts des „informed consent“ s. als allgemeine Übersicht [23].
Zu den verschiedenen Typen des sehr heterogenen apallischen Syndroms vgl. [36].
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Danksagung
Ich danke Herrn Privatdozent Dr. Georg Marckmann für die sehr konstruktive begleitende Diskussion dieser Arbeit und die Durchsicht früherer Versionen dieses Manuskripts.
Interessenkonflikt:
Der korrespondierende Autor versichert, dass keine Verbindungen mit einer Firma, deren Produkt in dem Artikel genannt ist, oder einer Firma, die ein Konkurrenzprodukt vertreibt, bestehen.
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Synofzik, M. Die neuen Möglichkeiten der Neurowissenschaften und ihre ethischen Implikationen. Ethik Med 17, 206–219 (2005). https://doi.org/10.1007/s00481-005-0380-z
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