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Kathrin Th.iele, Katrin Trüstedt (Hrsg.) HAPPY DAYS Lebenswissen nach Cavell Wilhelm Fink Inhalt KATHRIN THIELE/KATRIN TRÜSTEDT Lebenswissen nach Cavell: eine Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 STANLEY CAVELL Excerpts from Memory - Auszüge aus dem Gedächtnis. . . . . . . . . . . . . . . . 17 ANSELM HAVERKAMP The Days of Cavell. Fußnoten zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 POLITIKEN THOMAS KHURANA This New Yet Unapproachable Community. Formen der Gemeinschaft bei Cavell und Blanchot ............................ 45 DIRK QUADFLIEG " ... ein unbestimmtes Versprechen, zu kommunizieren". Über eine alltägliche Begegnung von Cavell und Blanchot 66 KATHRIN THIELE In Quest of Subjectivity. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 PAOLA MARRATI Politische Emotionen. Cavell über Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 FRANCESCA RAIMONDI A Certain Happiness. Zu den politischen Implikationen von Cavells moralischem Perfektionismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 FRANK RUDA Lenin und das Glück. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 100 6 INHALT THEATER KATRIN TRüSTEoT An Art Lawfol As Eating: Cavell, King Lear und das Theater der Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 107 FELIX ENSSLIN Eine andere Sorte Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 131 CHRISTOPH MENKE Defeat Theater!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 135 DAVIO RUORUM Alltägliche Tragödien: Cavell, Beckett und die Bedeutung von Bedeutungslosigkeit ....................................... 141 ALEXANORA HEIMES A Life Less Ordinary. Beckett - Cavell - Wittgenstein . . . . . . . . . . .. 156 MARK POTOCNIK Becketts Stochastik. Zu einer Stelle in Watt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 162 PHILOSOPHIE DIETER THoMÄ Das werdende Selbst. Identität, Alterität und Interaktion nach Emerson, Nietzsehe und Cavell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 171 THOMAS DlKANT Die Politik des Perfektionismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 187 BJÖRN SyOOW Das Selbst, die Anderen und die Weh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 192 NIKOLAS ZOK Das Schweifen des Nomaden. Anmerkungen zu einer Figur bei Emerson und Nietzsehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 197 HENT OE VRIES Müssen wir (nicht) meinen, was wir sagen? Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit bei J. L. Austin und Stanley Cavell ................ 203 INHALT 7 ALICJA KOWALSKA Der Ernst der Rede ohne Schrift? Zur Affinität von Stanley Cavell und Jacques Derrida bei Hent de Vries . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 234 JAN VÖLKER Das Hyppolytos-Ereignis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 238 CONSTANZE DEMUTH Wer spricht in Cukors Gaslight? Ironie, Konversation und die Melodramas 0/the Unknown Woman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 243 ZORA HEsovA Trust thyse/f Zur Bedeutung des moralischen Perfektionismus bei Stanley Cavell .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 265 DIRK SETTON Retrovertigo. Anmerkungen zur melodramatischen Ironie. . . . . . . . .. 271 KINO GERTRUD KOCH ..Man liebt sich, man liebt sich nicht, man liebt sich" Stanley Cavells Lob der Wiederverheiratung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 279 LISA AKERVALL Die Gespenstigkeit der Kinoerfahrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 288 PABLO VALDIVIA OROZCO Wiederholte Wiederholung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 292 SANDRA LAUGIER Importance o/Importance - Cavell, Film und die Bedeutung von Bedeutsamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 299 FABIAN BÖRCHERS Verfeinerung nicht möglich! Zur Rolle von formalen Begriffen in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 317 MELANIE SEHGAL ASense o[Importance. Zum Begriff der Bedeutsamkeit bei Stanley Cavell und Alfred North Whitehead . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 322 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 327 KATHRIN THIELE UND KATRIN TRÜSTEDT Lebenswissen nach Cavell: eine Einleitung Einen Anderen zu kennen heißt dann nicht, eine Sache, die er ist, zu wissen, sondern alle Arten, in denen er ist, was er gleichzeitig oder eins nach dem anderen ist, oder in mancher Hinsicht ist, oder zu sein leugnet. (Stanley Cavell, Excerpts from Memoryl) Wenn Stanley Cavell schreibt, dass Wissen nicht nur ein Was wissen heißt, sondern gerade all die Weisen betrifft, in denen ein Was, und gerade ein Leben, erscheint, die positiven wie die verneinten Formen, die gegenwärtigen wie die potentiellen, die verdichteten wie die zeitlich aufgespannten, so weist er einen alternativen Wissensbegriff auf, der nicht jener der modernen Wissenschaft ist. Diese andere Sorte von Lebenswissen ist zugleich weniger und mehr als die positive Wissenschaft und stellt den entscheidenden Hinter- und Untergrund dar, vor dem man das moderne Bestreben zu Wissen erst verstehen und in seinen Gefahren und Aporien zur Darstellung bringen kann. HAPPY DAYS: Lebenswissen nach Cavell verhandelt in 10 Beiträgen und 20 Repliken das Werk eines der bedeutendsten gegenwärtigen Philosophen Amerikas und zeigt ihn als einen einzigartigen Denker des Lebenswissens. Cavells vielfältige Tonlagen und Gegenstände sollen in dieser transatlantisch angelegten Auseinandersetzung und Unterhaltung endlich auch einem weiteren deutschsprachigen Publikum in seiner ganzen Spannbreite zugänglich gemacht werden. Es ist die Weite des Cavell' schen Denkhorizonts, die sein Werk ebenso anziehend wie schwer definierbar machen kann. Diese Spannbreite soll hier dadurch bestimmt werden, dass es Cavell in seinem Denken um die komplexe innere Beziehung von Leben und Wissen geht: um ein Wissen, das (immer nur) lebendig vollzogen wird, und ein Leben, das (immer schon) wissend verfährt. Betrachtet man die aktuellen Debatten um den Begriff des Lebens, die in der Diagnose der biopolitischen Form moderner Herrschaftstypen (wie wir sie z.B. bei Foucault und Agamben finden) nur einen ihrer Höhepunkte hat, so verweisen sie auf einen erhöhten Bedarf nach einer philosophischen Auseinandersetzung mit der Frage nicht nur nach dem Leben selbst, sondern stellen implizit gerade auch die Frage danach, wie Leben gewusst werden kann. Eine der entscheidenden Implikationen dieser bis zu Aristoteles zurückreichenden Debatte, die diese Frage nicht in 1 Stanley Cavell "Excerpts from Memory - Auszüge aus dem Gedächtnis", in diesem Band, S.29. 10 KATHRIN THIELE UND KATRIN TRÜSTEDT den engen Grenzen moderner Naturwissenschaft allein verhandelt, ist es, dass Leben im allgemeinen immer in einer Form auftritt und dass die Form des menschlichen Lebens eine sprachlich verfasste, sozial verwirklichte, konventionell geregelte ist. Sie ist nicht einfach ,natürlich gegeben', sondern vielmehr kulturell bedingt, historisch veränderbar und prekär. Gleichzeitig ist sie durchaus ,natürlich' - in dem Sinne, dass sie dem (arbiträren) Willen und auch dem (positiven) Wissen des einzelnen Akteurs entzogen bleibt, ihm vielmehr vorausgeht. Es ist dieses komplexe Verhältnis des Lebens zu seiner Form, das den Bedarf an einem Begriff des Lebenswissens umso dringlicher macht, eines Wissensbegriffs also, in dem das, was gewusst wird, seine kontingenten Umstände und Bedingungen nicht ausschließt, sondern mit ihnen verschränkt und innerlich verwoben bleibt. Stanley Cavells philosophisches Werk in seiner Spezifik und auch gerade in seiner sehr eigenen Americaness,2 in der bloße Folgerichtigkeit allein nicht ausreicht, entwickelt ein solches Wissen exemplarisch. Die Komplexität des Lebenswissens markiert eine besondere Spannung, die Cavells gesamtes Werk durchzieht: die Spannung zwischen menschlicher lebensform, die durch das Alltägliche und Gewöhnliche charakterisiert ist, und der Frage, wie dieses Alltägliche (philosophisch) begriffen wird und gewusst werden kann, welche Form des Wissens also einer solchen Lebensform entspricht. Bereits in den Begriffen des ordinary und des everyday selbst zeigt sich diese Spannung, da sie von Cavell so bestimmt werden, dass sie niemals nur einfach zur Hand (in der wunderschönen Doppelbedeutung des handsome) sind,3 sondern uns immer entzogen bleiben. Es geht um das angespannte Verhältnis zwischen den nicht hintergeh- und hinterfragbaren sozialen Konventionen und Praktiken als Grundlage der menschlichen Lebensform auf der einen und der im Freudschen Sinn zu verstehenden Unheimlichkeit einer sprachlichen Existenz auf der anderen Seite, die nie im Reinen mit sich und nie bei sich angekommen ist, sondern die das eventual ordinary (auch hier in der vielversprechenden Doppelbedeutung von eventual, die auch auf das Ereignishafte anspielt) stets noch zu erreichen sucht. Diese Spannung im Inne rn des Gewöhnlichen ist wesentlich auf das Problem des Wissens bezogen, denn 2 Wir müssen nur an Herman Melvilles Archetyp Amerikas, The Confidence-Man, denken, in dem an einer Stelle, die das Denken der großen amerikanischen Denker der 19. Jahrhunderts Emerson und Thoreau reflektiert, folgendes als grundlegend für philosophisches Denken beschrieben wird: "In a philosophical view, consistency is a certain level at all times maintained in all the thoughts of one's mind. But, since nature is nearly all hill and dale, how can one keep naturally advancing in knowledge without submitting to the natural inequalities in the progress? Advance in knowledge is just like advance upon the grand Erie canal, where, from the character of the country, change of level is inevitable; you are locked up and locked down with the perpetual inconsistencies, and yet all the time you get on; while the dullest part of the whole route is what the boatmen call the ,long level' - a consistently flat surface of sixty miles through stagnant swamps." V gl. Hermann Melville, The Confidence-Man, Oxford/New York: Oxford University Press, 2008, S. 255-256. 3 V gl. Stanley Cavells Conditions Handsome and Unhandsome: The Constitution ofEmersonian Perftctionism (Paul Carus Lectures), Chicago: University of Chicago Press, 1991. LEBENSWISSEN NACH CAVELL: EINE EINLEITUNG 11 sie zeigt sich gerade in den Versuchen sich wissend und darstellend der Lebensform zu versichern. Dadurch erschei"nt diese in ihrer Festigkeit ebenso wie in ihrer Zerbrechlichkeit und das Gewöhnliche als das, was wir nicht überschreiten können, ohne unsere Form zu verlieren, und das wir doch zugleich womöglich noch gar nicht erreicht oder schon wieder verloren haben. Cavell beschränkt sich damit nicht auf den alltäglichen Gebrauch der Sprache, um die normativen Grundlagen ihrer Bedeutung zu erschließen, so wie es die Amerika prägende analytische Denktradition mit Wittgenstein und Austin tut, welche die menschliche Lebensform als den Fels, an dem sich der Spaten umbiegt, als den unhintergehbaren und nicht weiter ergründbaren Grund behandelt hat (die eine Interpretation von Wittgensteins berühmtem "So handle ich eben"). Vielmehr richtet er sein Interesse auf den skeptischen Drang, einen solchen Grund überhaupt erst zu erreichen, um dann mit der Infragestellung dieses Bedürfnisses gleichzeitig an ihm zu rütteln. Die alltägliche Lebensform erscheint deshalb bei ihm nicht in der Gestalt gegebener Sicherheit, sondern bleibt immer das Gesuchte, Bezweifelte, Befragte und Erhoffte eines Lebens. Die Alltäglichkeit - everydaynesswird, wie bei Beckett, zu einer Sehnsucht, und das Gewöhnliche - the ordinary wird zu einer Möglichkeit und einem Fluchtpunkt. Die Lebensform nimmt nicht die Form des festen Grundes an, sondern wir& jedes Mal die Frage des Gelingens oder Scheiterns auf - das Leben als eine Form des (Miss-) Glückens ist die Cavell' sehe Antwort auf den die Moderne begründenden Skeptizismus. Wenn Lebenswissen nicht einfach und unmittelbar im Alltag gegeben ist, so findet es sich aber auch nicht im kanonisch verstandenen philosophischen Begriff, welcher der gerade beschriebenen spannungsreichen Lebensform nicht gerecht werden kann. Der Ort des Lebenswissens ist vielmehr, um auf Anselm Haverkamps Beitrag in diesem Band vorzugreifen, die "kryptische Übereinkunft von Literatur und Philosophie".4 Literatur ist hier in ihrem weitesten Sinn als das Andere der Philosophie zu verstehen, als simulacrum der Philosophie, als Verhandlungsraum des Gewöhnlichen und der Lebensform. Durch das spannungsvolle Inund Gegeneinander der philosophischen Arbeit am Begriff und der literarischen Formung kommt ein Wissen von einem Leben zur Artikulation, das sich gleichzeitig seiner Form vergewissert und dieselbe infragestellt, sie sich bewusst macht und sie vergisst, sie anerkennt und sie verleugnet, und gerade darin seine "extra-ordinary" Existenz findet - eine Existenz, die genauso gewöhnlich wie außergewöhnlich ist. Dieser neue Ansatz im alten Konflikt zwischen Literatur und Philosophie, den Cavells Texte bedeuten, versucht nicht, den Konflikt aufzulösen. Vielmehr geht es um ein Verhältnis wechselseitiger Herausforderung, das nötig erscheint, wenn man sich dem nähern will, was hier Lebenswissen genannt wird. Cavells Schriften sind geprägt von dem andauernden Austausch zwischen verschiedenen Wissens- und Darstellungsformen, zwischen den Bereichen von Philosophie, Kino, Theater, Li- 4 Vgl. Anselm Haverkamp, "The Days ofCavell", in diesem Band, S. 37. 12 KATHRIN THIELE UND KATRIN TRÜSTEDT teratur und alltäglichen Beobachtungen, sowie von dem (literarischen) Stil seines Schreibens, in dem literarische Form nie vom Inhalt zu trennen, nie sekundär ist, sondern sich darauf richtet, diese Wechselbeziehung unablässig zu reflektieren. Literatur kann also als ein wesentlicher Ort fungieren, an dem die Verunsicherung eines Lebenswissens sich zeigt und den philosophischen Begriff zu einer Antwort herausfordert. Dies ist Cavells Version eines anderen, reflektierten Skeptizismus, der die spezifische conditio der Moderne - von grundlegender Skepsis geprägt ernst nimmt. Als Bedingung einer ständigen Befragung verteidigt Cavell die skeptische Perspektive, die philosophisch nicht zu ,widerlegen' ist und in diesem Sinne eine gewisse ,Wahrheit' enthält, die es ernst zu nehmen gilt und die die Anerkennung der Unsicherheit im Gewöhnlichen verlangt. Cavell hat - wie wir es in diesem Band lesen können -"seit einem halben Jahrhundert das, was der modernen Welt geschah, als die Ankunft des Skeptizismus selbst gefasst".5 Skeptizismus heißt dabei aber nicht, in den Zustand einer melancholischen Starre zu verfallen, die dem Tod Gones folgt. Vielmehr wird er zum Schauplatz einer produktiven Auseinandersetzung zwischen einem prekären Lebenswissen und seiner philosophischen Befragung. Die ,Unwiderlegbarkeit' des Skeptizismus liegt gerade darin, dass die Konventionen und die Kriterien, die Bedingung sind für Bedeuten und Gelingen unserer sprachlichen Verständigung, letztere nicht garantieren und vollends stabilisieren können. Gleichzeitig aber sieht Cavell die Gefahren eines Skeptizismus, der es bei der Unsicherheit des Lebenswissens nicht belassen kann. Er zeigt den Skeptizismus auch von seiner anderen Seite, wo dieser eine gewaltsame Reaktion auf die Verunsicherung des Wissens und des Verhältnisses zu sich selbst und zu anderen darstellt. Wenn die Unsicherheit über die eigene Lebensform, über die anderen und das Verhältnis zu ihnen nicht in den Griff zu bekommen ist, so kann dies zur endgültigen Zurückweisung eines derart konditionierten und verunsicherten Wissens führen, und Shakespeares Tragödien sind ein privilegiertes Beispiel für diese Art Problemaufriss der skeptischen Zuspitzung der Moderne. Dieselbe Verunsicherung kann aber auch zu einer Anerkennung und Affirmation der Weise führen, in der unser Wissen immer konditioniert ist. Eine solche Anerkennung verweist auf eine Haltung, die die Bedingtheit nicht als Verlust, sondern vielmehr als einzige Bedingung der Möglichkeit von Wissen überhaupt wendet, so dass Wissen, das so ermöglicht wird, als dieses doch wieder verständlich und lebbar wird, selbst wenn es den Nimbus des ,Absoluten' ein für alle Mal aufgeben muss. Eben diese Anerkennung der uneinholbaren Bedingtheit des Wissens kann in dem unablässigen Befragen von und dem Streben nach einem Lebenswissen dann auch die Bedingung der Möglichkeit für Glück bieten. Denn die Möglichkeit des Glücks liegt eben gerade nicht im abgesicherten Vollzug des Richtigen, sondern im Offenstehen eines möglichen Glückens ohne Garantien. Sie findet sich für Cavell sowohl im ,moral perfectionism' der Melodramen als auch in den insisten5 Stanley Cavell, "Excerpts from Memory - Auszüge aus dem Gedächtnis", in diesem Band S.22-23. . LEBENSWISSEN NACH CAVELL: EINE EINLEITUNG 13 ten Auseinandersetzungen und Reibereien der ,comedies of remarriage'; in den Figuren Becketts, die unablässig das Register des Gewöhnlichen zu erreichen suchen, indem sie im so unmöglichen Sinn ,meinen was sie sagen' ebenso, wie in der Leichtigkeit und Lässigkeit eines Fred Astaire, der fast wie nebenbei das Gewöhnliche als glückend zeigt und dabei doch gerade ganz und gar außer-gewöhnlich ist. Von der Tragödie Shakespeares bis zur Hollywood-Komödie und von Montaignes Zweifel bis zu Nietzsches Überspannung der Transzendenz entstehen in Cavells Texten Szenen einer skeptischen Gegengeschichte zur Melancholie der unendlichen Aufschübe. Eine alternative Moderne scheint auf und damit eine Philosophie der alltäglichen Beschränkung im Endlichen, die Cavell aus der immer neu gewendeten und angereicherten Lektüre der Sprachphilosophien des späten Wittgenstein und Austins gewinnt. Das spezifisch amerikanische Format, das Cavell seiner Skepsis gibt, resultiert in Begriffen und Wendungen, die allesamt europäische Philosophie in eine neue philosophische Zweisprachigkeit transformieren. Für die in einer solchen Mehrsprachigkeit erfahrenen Autoren und Autorinnen dieses Bandes ist Cavells Stimme gerade wegen seiner Zwischenlage zwischen den Fächern und Traditionen ein unersetzlicher Kreuzungspunkt der Philosophien und der Kulturen. *** Dieser Band manifestiert eine transatlantische ongoing conversation, die das Werk Cavells aus unterschiedlichen Disziplinen, Sprachen und Traditionen beleuchtet und die in jedem der hier versammelten Beiträge von neuem aufgenommen und von jeweils zwei Repliken weitergeführt wird. Es sind gerade die Repliken, die den Gesprächscharakter betonen, der unsere Auseinandersetzung mit Cavell bestimmt, indem sie Fragen der Beiträge, die im Folgenden kurz eingeführt werden, vertiefen, sie mit und um Cavell weiterführen, zuspitzen, herausfordern. Der Verlauf des Bandes beginnt mit Stanley Cavell selbst als einem Lesenden. In "Excerpts &om Memory - Exzerpte aus dem Gedächtnis", einem Ausschnitt aus seinem gerade fertiggestellten Memoir, nimmt Cavell das Gespräch mit dem französischen Autor, Literaturkritiker und Philosophen Maurice Blanchot auf sowie mit seiner eigenen Vergangenheit. Er liest Blanchot ebenso wie die Erinnerungen, die sich an diese Lektüre für ihn geknüpft haben, und verbindet so autobiographische Erinnerungen mit philosophischen Gedankengängen. Es vermischen sich dabei Alltägliches, Literarisches und Philosophisches zu genau der einzigartigen Stimme, die durch sein ganzes Werk hindurch hörbar wird. Anselm Haverkamp reflektiert in seinem Text "The Days ofCavell", der einen Kommentar sowohl zu Cavells Beitrag als auch zu diesem Band als Ganzem darstellt, die Abschattungen des Alltäglichen, indem er nicht zuletzt den Kontext von Cavells philosophischem Wirken aufruft, die Nachkriegslage der Philosophie und Literatur in Amerika, und so den Hintergrund für Cavells Denken und seinen einzigartigen Status in der amerikanischen Akademie liefert. Nach diesen eröffnenden Exzerpten der Erinnerung und Reflektion, die das Unternehmen dieses Bands auf den Weg bringen, widmet sich eine daraufhin et- 14 KATHRIN THIELE UND KATRIN TRÜSTEDT was fachspezifischer ausgerichtete Aufmerksamkeit dem Cavell'schen Werk in seinen Einzelperspektiven: diese betreffen die Fragen der Politik(en), des Theaters, der Philosophie sowie des Kinos. Es sind dies Dimensionen, die in einer unendlichen Variation von Verschränkungen in Cavells Werk ausgemacht werden können. Wenn wir eine analytische Trennung zwischen ihnen einführen, in dem wir sie nacheinander in diesem Buch aufreihen, so doch nur, um in jedem einzelnen der darin eingeordneten Beiträge dieselbe Trennung auch wieder zu unterlaufen und das Theater mit der Politik, die Politik mit dem Kino, das Kino mit der Philosophie und die Philosophie mit dem Theater erneut zu verschränken. Die politischen Implikationen des Cavell' schen Denkens, die immer wieder um die Frage der Gemeinschaftlichkeit und gelebter Demokratie kreisen, zeigen sich auch in Cavells Lektüre von Blanchot, wie sie in dem Teilstück seiner Autobiographie hier zu finden ist. Thomas Khurana schließt in seinem Aufsatz "This New Yet Unapproachable Community: Formen der Gemeinschaft bei Cavell und Blanchot" direkt an diese transatlantische Begegnung an und verfolgt ausgehend von Cavells Auseinandersetzung mit Blanchot die Frage nach den Formen der Gemeinschaftlichkeit, die sich bei Cavell schon aus der für ihn bestimmenden sprachphilosophischen Problematik ergeben. Indem in dieser Diskussion Blanchot und Cavell einander nahe gebracht werden, ermöglicht Khurana ein Denken des ,Wir', das sich ebenso jenseits der gängigen transatlantischen Oppositionen positioniert, wie es sich auch jeder negativen wie positiven Simplifizierung erwehrt. Im zweiten Teil von ,Politiken' nimmt Paola Marratis Beitrag "Politische Emotionen. Cavell über Demokratie" Cavells politisches Denken genereller in den Blick als eines, das nicht davor zurückschreckt, die gewöhnlichen Register der politischen Theorie durcheinander zu bringen. In Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus John Stuart Mills, der Gerechtigkeitstheorie von J ohn Rawls und anhand einer Lektüre des Films Bringing up Baby, zeichnet Marrati die konstitutive Dimension des Strebens nach Glück - the pursuit 0/happiness - für unsere Demokratie nach. Sie verbindet so Dimensionen des Lebens, die gewöhnlich einander konträr gegenüber gestellt werden: persönliches Begehren und universelle Politik. Im zweiten Themenblock des Buches steht das Theater im Mittelpunkt als Austragungsort des Kampfes zwischen Skeptizismus, Glück und dem Gewöhnlichen. Im Beitrag von Katrin T rüstedt ,,An Art Lawful As Eating: Cavell, King Lear und das Theater der Konvention" geht es um Fragen der Theatralität sowie um das Verhältnis zum anderen als ein theatrales. Die Tragödie des Skeptizismus resultiert aus dem Versuch, die Konventionen, die dieses Verhältnis regeln, entweder zu naturalisieren, oder, sofern sie sich als nicht natürlich erweisen, als unzureichend gesichert abzulehnen. Im Verlauf dieser Tragödie löst die geteilte Lebensform sich auf, eröffnet aber auch durch die Form des Theaters die Möglichkeit, die Tragödie durchzuspielen und die Gemachtheit der Konventionen in der gewonnenen Distanz neu anzuerkennen. Der Beitrag von David Rudrum, ,,Alltägliche Tragödien: Cavell, Beckett und die Bedeutung von Bedeutungslosigkeit", richtet sich dagegen eher auf das Theater als Ort des Gewöhnlichen, in dem die Bedeutungslosigkeit so Rudrums These - das Ziel ist, nicht das Faktum. Rudrum versucht in diesem LEBENSWISSEN NACH CAVELL: EINE EINLEITUNG 15 Sinne, Cavells Lektüre von Becketts Endgame mit Kants Begriff des Erhabenen sowie Wittgensteins Grenzen der Sprache zu verknüpfen, und er kommt zu dem Schluss, dass wir zwischen dem Alltäglichen und dem Erhabenen immer schwanken werden, so wie es Becketts Figuren tun. Der philosophisch ausgerichtete dritte Teil des Buches versammelt die Auseinandersetzung mit philosophischen Denktraditionen, die für Cavells Philosophie zentral sind. In ,,,Das werdende Selbst. Identität, Alterität und Interaktion nach Emerson, Nietzsche und Cavell" legt Dieter Thomä dar, wie der Cavell eigene, von Emerson und Thoreau herkommende moralische Perfektionismus mit Nietzsches Denken des Werdens zusammen gebracht werden kann. Diesem spezifischen Amerikanismus immer wieder aufs Neue nachzugehen - Thomä tut dies in seinem Beitrag sowohl durch eine Lektüre des jüngsten Romans von Richard Ford The Lay ofthe Land, als auch über eine Diskussion des ,intellektuellen Nomadenturns' - ist von großer Bedeutung, weil so die existentiellen Fragen des Werdens jenseits der ermüdenden Gegenüberstellung von Selbst und Welt erkennbar werden. In "Must We (Not) Mean What We Say? Zu Fragen der Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit bei Austin und Cavell" vertieft dann Hent de Vries die Cavell eigene Ausformung der sprachphilosophischen Tradition von Wittgensteins und Austins ,ordinary language philosophy' mit Blick auf die Frage nach dem Tragischen und dem Ernsten, die nicht zuletzt von Derrida an Austin problematisiert wird. Das Zitat Austins von Euripides' Hippolytos "Es schwur nur meine Zunge, nicht mein Herz" wird dabei Ausgangspunkt einer Debatte über den Skeptizismus und die Möglichkeit, eine eigene Theorie ernsthaft und aufrichtig zu leben. Bereits mit Blick auf den abschließenden Themenblock ,Kino' lässt sich Constanze Demuths "Wer spricht in Cukors Gaslight? Ironie, Konversation und die Melodramas ofthe Unknown Woman" lesen. Ihr Beitrag macht nicht nur noch einmal die (An)Spannung im Denken des Konversationellen deutlich, so wie es Cavell in seinen Lektüren zur Sprache bringt, sondern stellt auch selbst eine ganz eigenständige Lektüre des moralischen Perfektionismus in den Melodramen dar. Dabei stehen die weibliche Sprachsituation der Melodramen sowie die Möglichkeiten der Emanzipation und der Bildung einer Perspektive im Zentrum der Aufmerksamkeit - Möglichkeiten, die gerade im Medium des Films zur Darstellung gebracht werden. Um das Kino selbst geht es dann im letzten Abschnitt des Bandes. Das Medium des Films wird von Gertrud Koch mit Cavell gerade in dem paradoxen Verhältnis von der Vergangenheit der Bilder und der Gegenwart und Lebendigkeit der Bewegung beschrieben und auf die ebenso paradoxe Zuschauerposition befragt, die an der vermeintlich unmittelbaren Erfahrung, aber gleichzeitig unhintergehbaren Trennung hängt. In ihrem Beitrag ",Man liebt sich, man liebt sich nicht, man liebt sich' - Stanley Cavells Lob der Wiederverheiratung" sind es für Koch die Komödien der Wiederverheiratung, die eine exemplarische Verhandlung des Mediums Film darstellen und in denen die Wiederholung das Potential des Films zeigt, mit dem Tod und dem Skeptizismus umzugehen. Den Band beschließt Sandra Laugiers Aufsatz "Importance of Importance - Cavell, Film und die Bedeutung von Bedeutsamkeit", der nicht nur in einer für das Cavell' sche Denken charakteristi- 16 KATHRIN THIELE UND KATRIN TRÜSTEDT sehen Weise die Verwebung und Durchwindung verschiedener Denkformen - Literatur, Film, Philosophie - in ihrem Text exerziert, sondern auch noch einmal die Brücke zum Wesentlichen schlägt: Die Bedeutung der Bedeutsamkeit dessen, um das es im philosophischen Auseinandersetzen geht; die Frage, was das Denken antreibt und wohin es führen soll, wenn man es mit philosophischem Denken zu tun hat. *** HAPPY DAYS: Lebenswissen nach Cavell geht auf eine internationale Tagung zurück, die das DFG-Graduiertenkolleg Lebensformen und Lebenswissen an der Europa-Universität Viadrina und der Universität Potsdam im Jahr 2007 unter dem Titel Happy Days: Self, Lift, and Knowledge in the Work ofStanley Cavell ausrichtete. Durch weitere Diskussionen im Publikationsverlauf kamen die Repliken der ersten Generation der Kollegiatinnen und Kollegiaten des Graduiertenkollegs hinzu, die diese Konferenz mit auf den Weg gebracht hatten. Es sei an dieser Stelle nicht nur der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die finanzielle Unterstützung gedankt, die diese Publikation des Graduiertenkollegs Lebensformen und Lebenswissen erst ermöglichten, sondern vor allem auch den beiden Sprechern der ersten Generation dieses Kollegs, Anselm Haverkamp und Christoph Menke, ohne deren ongoing Motivation und Unterstützung es die Happy Days 2005-2008 in diesem Kolleg niemals gegeben hätte. Für das Korrektorat und Lektorat dieses Buches möchten wir Ralf Eckschmidt ganz herzlich danken. Dem Fink Verlag, und dort insbesondere Andreas Knop, danken wir für die Geduld, die er diesem Buch entgegen brachte. Die Konzeption und Veröffentlichung eines so umfangreichen Bandes konnte sich keine bessere Betreuung und Durchführung wünschen. Last but not least geht unser Dank vor allem aber an die Autorinnen und Autoren, durch deren vielfältige Diskussionen und Denkanregungen dieser Band das Werk Cavells in einer Breite beleuchtet, von der wir hoffen, dass sie die deutsche Diskussion seiner Philosophie in neuer Weise bereichert. Der trans atlantischen Situation dieses Bandes treu bleibend, haben wir uns dafür entschieden, englischsprachige Zitate auch dann, wenn sie ins Deutsche übersetzt vorliegen, im Original zu belassen. Gerade im Hinblick auf die bisher nur fragmentarische Übersetzung des Cavell' sehen Werks ins Deutsche scheint uns ein solches Vorgehen am kohärentesten. Sofern aber davon deutsche Übersetzungen vorliegen, wird auf diese in den Anmerkungen jeweils verwiesen.