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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter (A) June 17, 2021

Brief aus den Niederlanden

  • Katharina Bauer EMAIL logo and Maren Wehrle

Abstract

In this letter to our German colleagues we describe the situation, mentality, and organization of academic philosophy in the Netherlands in comparison to Germany. We proceed in five acts. In the first act, A wide beach, we set the stage and introduce the two academic landscapes; in the second act, Between controversy and frontal teaching, we compare the Dutch and German academic temper and practices. In the third act, Flat land, flat hierarchies, we parallelize the geography of the Netherlands and the organizational structure of Dutch universities. In the fourth act, Philosophers among merchants, we discuss the positive and negative sides of the liberal, transparent, competitive and progress-oriented spirit of Dutch academic philosophy. In the fifth and final act, Philosophy from the pragmatic point of view, we conclude what we can learn from our Dutch neighbours: We plea for a non-elitist, down to earth, straight-forward, and open-minded way of doing philosophy, where one is neither shying away from controversy nor too shy to come down from the ivory tower and mingle with the audience.

Liebe Philosophie-Kolleg*innen in Deutschland,

im Verhältnis zwischen Niederländern und Deutschen gibt es sicher sehr viele gegenseitige Klischeevorstellungen über die jeweiligen Eigenschaften der Nachbarn – manche berechtigt, manche unberechtigt. Ein Klischeebild über deutsche Urlauberinnen am niederländischen Strand beruht dabei ganz eindeutig auf Beobachtung: Sie buddeln sinnlos Löcher in den Sand, in die ahnungslose Strandspaziergänger tückisch hineinstolpern können. Sie bauen sich um ihre Liegeplätze herum Festungswälle und Gräben aus Sand, anstatt sich, wie es die Niederländer tun würden, einfach nur bescheiden einen Platz zu suchen, ihr Handtuch auszubreiten und ganz entspannt Sonne, Wind und Meer zu genießen. Statt, wie es sich gehört, auf andere Fußgänger zu achten und gegebenenfalls aus dem Wege zu gehen, laufen Deutsche wie selbstverständlich mitten auf der Straße oder sogar auf Radwegen. Sie erwarten, dass andere sich an sie anpassen, ihr Sprache verstehen und man überall Apfelsaftschorle und Pommes mit Ketchup (eine kulinarische Todsünde hier in den Niederlanden!) serviert bekommt. Deutsche lassen in ihrem Verhalten etwas vermissen, was man neben der berühmt berüchtigten ‚gezelligheid‘ als das Herz der Niederländischen Mentalität beschreiben kann: ‚fatsoen‘ (Anstand oder Schicklichkeit). Dies beinhaltet sich normal, d. h. sozial kompatibel und unauffällig zu verhalten: ‚Doe effe normaal‘ (Tue ein bisschen normal, wörtlich übersetzt), ist denn auch ein Standardsatz im alltäglichen Leben hier.

Ein breiter Strand

Was die niederländischen Gastgeberinnen in diesem Verhalten ihrer Urlaubsgäste wittern, ist sicher eine gewisse Übergriffigkeit und Arroganz, vielleicht auch eine prinzipielle Unentspanntheit, eine archaisch anmutende kriegerische Inbesitznahme im friedlichen Urlaubsparadies. Man kann nun diese Beobachtung auch auf das übertragen, was man sieht, wenn man aus der niederländischen Perspektive auf die akademische Philosophie in Deutschland blickt. Auch dort scheint man gerne Schutzwälle um die eigene philosophische Position zu bauen oder Löcher zu graben, damit der Debattengegner hineintappt, sich hinter Mauern zu verschanzen oder immer mehr Raum für die eigene Theorie zu beanspruchen und sich in zum Teil völlig unnötige Grabenkämpfe zwischen verschiedenen Lagern zu verwickeln. Nicht, dass es nicht auch hier in den Niederlanden solche Lager gäbe: Ob analytisch oder kontinental, modern oder postmodern, realistisch oder konstruktivistisch, konservativ oder progressiv – auch hier durchziehen diverse inhaltliche Spannungsfelder die philosophische Debatte. Die meisten dieser Konflikte werden streitlustig und mit offenem Visier ausgefochten. Im Großen und Ganzen gibt es aber dennoch eine grundlegende Bereitschaft zur pragmatischen Kooperation und zum Kompromiss – wenn auch nicht unbedingt auf inhaltlicher Ebene, so doch auf der Ebene der Zusammenarbeit im akademischen Alltagsgeschäft. Diese Bereitschaft ist hier bekannt unter dem Namen „Poldermentalität“. Was frei ins Kölsche übersetzt heißt: Jeder Polder (Jeck) ist anders, aber wenn uns das Wasser bis zum Hals steht, halten wir zusammen – in den Niederlanden ist dies historisch sowie aktuell eine Notwendigkeit, um die Polderlandschaft zu erhalten und nicht unter dem Meeresspiegel zu versinken. Was einem als ursprünglich deutscher Philosophin in den Niederlanden jedoch noch stärker auffällt, ist die Bereitschaft, sich gegenüber der Außenwelt nicht hinter einem Schutzwall zu verstecken oder gar den Kopf in den Sand zu stecken. Der philosophische Diskurs in den Niederlanden ist sehr lebendig, und zwar ganz wesentlich auch als ein öffentlicher Diskurs. [1] Es gibt nicht ein paar wenige Fernsehphilosophen und -philosophinnen, über die man an den Universitäten die Nase rümpft, sondern eine breite Offenheit, ja selbst eine soziale Verpflichtung dazu, sich in den Medien zu verschiedensten aktuellen Themen zu äußern. Und die anwendungsbezogene Philosophie, wie sie unter anderem an den starken niederländischen Technischen Universitäten rege praktiziert wird, gilt nicht per se als minderwertig. „Societal impact“ ist nicht nur ein lästiges Schlagwort, sondern eine von vier wesentlichen Kriterien für jede fachlichen Beurteilung vom Assistenzprofessor bis zur Lehrstuhlinhaberin sowie maßgeblicher Bestandteil und Ziel jedes Forschungsantrages, für das man kreative und spannende Umsetzungen findet, z. B. im Austausch mit sozialen und kulturellen Institutionen oder in der konkreten Politikberatung. Es gibt besondere Lehrstühle und Studiengänge für „Publieksfilosofie“, die sich speziell in Forschung, Lehre und Praxis dem Austausch zwischen akademischer Philosophie und Öffentlichkeit widmen. Es gibt zahlreiche philosophische Blogs, einen Monat der Philosophie mit vielseitigen Veranstaltungen, und philosophische Olympiaden an Schulen. Alle zwei Jahre wird ein „denker des vaderlands“ nominiert, bzw. aktuell eine Denkerin, Dan Rovers, die sehr präsent zu aktuellen Themen Stellung nimmt, sich ein Thema setzt, das sie besonders stark machen will (aktuell: öffentlich Denken à la Kant) und philosophische Perspektiven in diverse aktuelle Debatten einbringt. Es gibt eine Datenbank der OZSW (in etwa das Pendant zur DGPhil), in der fast alle niederländischen Philosophen Forschungsschwerpunkte und Themen angegeben haben, zu denen sie für Journalisten und andere Interessierte jederzeit ansprechbar sind. Philosophie soll und darf praktisch anwendbar, öffentlich sichtbar und zugänglich formuliert sein.

Was man also sieht, wenn man auf die niederländische philosophische Landschaft schaut, das ist ein breiter Strand, der Platz für viele verschiedene Gäste bietet und an dessen Aus- und Eingang kein Strandwächter sitzt, der die Baderegeln erklärt und Kurtaxe kassiert. Jedoch wird von allen Strandgästen erwartet, dass sie einen Beitrag zur Gesellschaft oder zur Erhaltung des Strandes als öffentlichem Gut leisten. Das jedenfalls ist unser Eindruck – der Eindruck zweier Philosophinnen, die eine klassische deutsche Philosophieausbildung durchlaufen haben, die lange an deutschen Universitäten gearbeitet haben und die nun beide seit 2017 und 2018 als Assistenzprofessorinnen an der Erasmus-Universität in Rotterdam tätig sind.

Die eine, Katharina Bauer, hat vorher an der Ruhr-Universität Bochum promoviert und habilitiert, mit einem Forschungsschwerpunkt im Bereich Ethik und Moralphilosophie, dann bereits bei einem Feodor-Lynen-Forschungsaufenthalt an der Rijksuniversiteit Groningen philosophische Bekanntschaft mit den Niederlanden gemacht. Die andere, Maren Wehrle, ist nach ihrer Promotion an der Universität Freiburg, für eine Postdoc-Stelle an die KU Leuven in Belgien gewechselt, um ihren Schwerpunkt Phänomenologie am dortigen Husserl-Archiv weiter zu vertiefen, das sie nach fünf Jahren als zertifizierte Dozentin für niederländischsprachige Universitäten verließ, um die Studenten in Rotterdam mit Husserl und ihrem deutsch-flämischen Akzent zu beglücken.

Zwischen Streitlust und Frontalunterricht

Was uns beiden hier in Rotterdam sofort auffiel, ist die offene, selbstbewusste und direkte Mentalität von sowohl Kolleginnen als auch Studenten. So wurde eine von uns bereits beim ‚Vorsingen‘ (das hier in einer konkreten Lehrprobe mit Anwesenheit von Studenten besteht) durch einen der Zuhörer in ein handfestes Streitgespräch verwickelt. Diese nicht unbedingt feindliche, sondern durchaus Interesse zeigende Taktik, wird auch als ‚uit de tent lokken (oder knokken)‘ bezeichnet, wörtlich: jemanden aus dem Zelt locken bzw. prügeln, oder anders gesagt: provozieren. Wir können dabei nicht mit Sicherheit sagen, ob dies eine liebenswürdige Eigenart der Rotterdamer ist, die für ihr hartes, aber herzliches Temperament bekannt sind – nicht umsonst steht im Gemeinschaftsraum der Erasmus School of Philosophy ein Boxsack mit entsprechenden Handschuhen –, oder aber für die Niederlande im Ganzen charakteristisch ist.

Sicher ist jedenfalls, dass sich eine erfrischende Konfrontations- und Argumentierlust auch bei den Studentinnen in unseren Vorlesungen und Kursen zeigt. Manchmal allerdings kann dies auch übers Ziel hinausschießen, wenn die Meinungsfreude wichtiger ist als das gründliche Lesen, Verstehen und Analysieren der jeweiligen philosophischen Theorien und Probleme. Da kann das deutsche Philosophinnenherz, diszipliniert durch ausgiebiges Studieren von Primärtexten und sorgfältige Exegese, schon einmal etwas bluten. Andererseits ist die Lehre an einer niederländischen Universität auch eine lehrreiche Herausforderung und Lebensprüfung für uns Philosophen: Es reicht hier nämlich nicht, den vorher ausgeschriebenen Text einfach so vorzulesen, oder gemeinsam einen Originaltext zu studieren, oder Studentinnen Referate halten zu lassen, um dann lediglich moderierend oder erklärend einzuschreiten. Nein, hier wird eine vollständige Ausbildung in Kombination mit guter Unterhaltung erwartet, wie dies auch in anderen Ländern der Fall ist, die sich am anglo-amerikanischen Universitätssystem orientieren.

Manchmal zeigt sich auf Seiten der Studierenden eine gewisse Anspruchshaltung und Servicementalität, die möglicherweise auch mit den nicht ganz unwesentlichen Studiengebühren zusammenhängt: Man erwartet für sein Geld ein entsprechendes Angebot und einen gewissen Einsatz der Dozenten. Umgekehrt ist bei vielen Studierenden aber ebenfalls viel Einsatz zu beobachten, z. B. bei Teilzeit-Studierenden, die neben einem Vollzeitjob noch viel Energie und Zeit in ihr Studium investieren. Sehr engagiert sind auch die lebendigen philosophischen Studentenvereinigungen, die zahlreiche Veranstaltungen organisieren, von Pub-Lectures über philosophische Kinoabende bis zur Fakultätsreise oder dem feierlichen Abschluss des akademischen Jahres. Die Fakultät ist bei solchen Ereignissen eine große Familie. Und auch hier wird natürlich erwartet, dass die Lehrenden teilnehmen und Engagement zeigen, über die eigentlichen Grenzen der akademischen Anstellung hinaus.

Für die Lehre gilt, dass eine Vorlesung eine Geschichte erzählen muss, ein Narrativ und Kernbotschaften vermitteln, Anekdoten mit Fakten verbinden, historischen Überblick mit systematischer Theorie, Konzepte auf aktuelle Probleme beziehen, und die Relevanz des Vergangenen für die Gegenwart aufzeigen. Dabei wird man oft kritisch mit der Einseitigkeit des philosophischen Kanons und vor allem den eigenen oft verwendeten Beispielen konfrontiert. Dies ist insbesondere charakteristisch für Rotterdam, die Stadt mit der größten Diversität in den Niederlanden. Die Studentenpopulation ist – in jedem Fall hier in Rotterdam (noch mehr als beispielsweise im Ruhrgebiet) – erfreulicherweise um einiges vielfältiger als das meist homogene Bild deutscher Hörsäle, wo zumindest aus unserer Erfahrung noch immer das Bild vom weißen, oft männlichen Philosophiestudenten mit klassischem bildungsbürgerlichen Hintergrund überwiegt (auch zu sehen in der Überrepräsentation dieses Typus in den meisten Studienförderwerken). Kulturelle und religiöse Illustrationen wie ‚Weihnachten‘ oder Verweise auf einen vermeintlich allgemeine Bildungskanon wie ‚die Madeleine-Szene bei Proust‘ oder die Gestalt des ‚Mephisto bei Faust‘ sind nicht immer selbsterklärend und erreichen jeden in der gleichen Art und Weise.

Im Vergleich zur deutschen Tradition der Unterscheidung zwischen Vorlesung, Seminar oder Hauptseminar wird zunächst einmal oft eher klassischer Frontalunterreicht erteilt, andererseits wollen Studentinnen durchaus durch verschiedene Medien, Diskussionen, Quizfragen oder digitale Meinungsbilder mit einbezogen werden und erwarten dabei eine gut strukturierte online Lehrumgebung mit definierten Modulen, Inhalten und Lernzielen, und nicht zu vergessen: allen benötigten Lehrmaterialien und Texten, die im Voraus online bereitgestellt werden. Letzteres hat übrigens dazu beigetragen, dass zu Beginn des Corona-Lockdowns die Lehre von einem Tag auf den anderen beinahe reibungslos auf Onlinelehre umgestellt werden konnte. Auch hier wurde typisch niederländisch agiert: pragmatisch, effizient und, wenn es sein muss, auch einmal unkonventionell. Es gibt ein Verwaltungsteam für die gesamte Fakultät, das in solchen Krisenfällen und auch bei alltäglichen Problemen rund um die Organisation der Lehre die Lehrenden schnell und professionell unterstützt. Für alles, was die Vorbereitung und Aufbereitung der Lehrinhalte angeht, ist aber die oder der Lehrende, egal mit welchem Status, zunächst einmal selbst verantwortlich. Zwar werden bei großen Vorlesungen (z. B. im Second-Degree-Programm für Studenten anderer Disziplinen) Tutorinnen für die begleitenden Arbeitsgruppen eingesetzt, jedoch dürfen diese per Vertrag ausschließlich Aufgaben erfüllen, die direkt mit ihrem Tutorat in Verbindung stehen. Hierzu gehört sicher nicht die Unterstützung der Dozentinnen bei lästigen Aufgaben wie dem Zusammenstellen, Kopieren und Scannen von Lehrmaterial, Kommunikation mit Studierenden oder Betreuung der Online-Plattform, geschweige denn Hilfe bei der persönlichen Forschung der Dozenten (Korrekturlesen, Literaturrecherche, Übersetzen), wie dies in Deutschland für ‚Hiwis‘ oft üblich ist. Generell greifen alle auf einen gemeinsamen Pool von Tutoren zurück. Ob und wie viele Tutoren man zur Unterstützung erhält, hängt einzig und allein von der Anzahl der Studierenden ab, die an einer Lehrveranstaltung teilnehmen.

Flaches Land, flache Hierarchien

Hier wird denn auch schon ein wichtiges Merkmal deutlich, in dem sich die niederländische Universität und besonders die institutionelle Organisation der Philosophie von der deutschen unterscheidet: die (scheinbar) fehlende Hierarchie und radikale Demokratisierung aller Beratungs- und Entscheidungsprozesse innerhalb der Institute oder Fakultäten. Alle Fakultätsmitarbeiterinnen sowie auf Augenhöhe mit ihnen auch Studentenvertreter sind in zahlreichen „Commissies“ tätig. Zentral sind Kommissionen für Lehre und Examensregelungen. Aber auch für andere Zwecke – etwa die Entwicklung eines neuen Masterstudiengangs oder die Evaluierung der Arbeitsbelastung der Mitarbeiter – werden je nach Bedarf immer wieder Kommissionen gegründet und dann nach getaner Arbeit aufgelöst. Diese Kommissionen tagen sehr regelmäßig, erleichtern die direkte Mitbestimmung, verringern aber auch nicht gerade die Arbeitsbelastung. Zusätzlich besteht der Fakultätsrat, der aber im Vergleich zu deutschen Universitäten erstaunlich wenig demokratisches Mitspracherecht besitzt. Er ist eher ein beratendes Organ. Wesentliche Entscheidungen treffen letztlich der Dekan bzw. das Managementteam der Fakultät. Das Dekanat ist hier kein „Wanderpokal“, den man etwas unwillig auf sich nimmt, um sich dafür forschungsfreie Zeit zu verdienen, sondern eine Dekanin wird oft von extern berufen, arbeitet in enger Abstimmung mit der Universitätsleitung und verfügt über eine gewisse Machtfülle. Diese besteht unter anderem, weil sie oder er in vielen Fällen auch die- oder derjenige Vorgesetzte („Supervisor“) ist, mit der man einmal jährlich ein Personalgespräch führt und die im Anschluss daran die Leistungen der Kollegen protokolliert und evaluiert. Das kann z. B. entscheidend für Tenure-Track- oder Beförderungsverfahren sein. Idealerweise kann der Dekan wiederum auch ein starker Partner und Manager der Fakultät sein, der ihr Profil schärft und sie nach außen hin repräsentiert und verteidigt – eine Aufgabe, die bei eher kleineren geisteswissenschaftlichen Fakultäten im zunehmend auf Wirtschaftlichkeit gerichteten Universitätsbetrieb nicht ganz leicht ist. Die Philosophie als eigenständige Disziplin steckt in den Niederlanden im ständigen Überlebenskampf. Nur an den Universitäten Groningen und Rotterdam sind die Fakultäten noch vollkommen eigenständig, an allen anderen Unis sind sie bereits in größere Fakultätsverbünde eingebettet. [2]

Ständig evaluiert werden sowohl die einzelnen Fakultäten und Studiengänge – von externen Kommissionen – als auch die individuellen Mitarbeiter – intern, teils auch extern. Für die Fakultäten heißt das, dass es immer wieder neue Visionen und Strategien zu erarbeiten gilt, um sich auf dem Markt – auch ganz konkret im Anwerben von Studierenden – zu positionieren. Das eröffnet Gestaltungsspielräume und hält viel in Bewegung. Manchmal kann es aber auch zum Selbstläufer werden, wo dann die Vision mehr zu zählen scheint als die Umsetzung, die Vermarktung oder Verpackung mehr als der Inhalt. Auf individueller Ebene gilt: Niemand, auch nicht der ‚Hoogleraar‘ oder ,Full Professor‘, hat einen unverrückbaren Beamtenstatus, es herrscht ein sehr klares Leistungsprinzip. Das erzeugt Druck, im positiven wie im negativen Sinne. Es ermöglicht auch Durchlässigkeit.

Die philosophischen Fakultäten in den Niederlanden haben eine Umstrukturierung vom Lehrstuhlsystem zur Departementstruktur hinter sich, meist mit der klassischen angloamerikanischen Laufbahn von Assistent Professor zu Associate und schließlich Full Professor. Neben Tenure Trackern gibt es aber auch häufig noch dauerhafte Anstellungen als „Universitair docent“ oder „Universitair hoofddocent“. Das entspricht dem klassischen Mittelbau, allerdings mit dem Unterschied, dass diese Mitarbeiter nicht einem Lehrstuhlinhaber untergeordnet sind, sondern ebenso frei und eigenständig forschen und lehren wie diese und als gleichberechtigte Wissenschaftler anerkannt werden. Manchmal gibt es noch seltsame Mischformen in den Strukturen der Fakultäten, die Machtposition der Lehrstuhlinhaberin ist dann nicht ganz klar. Aber äußerlich sind auch hier die flachen Hierarchien deutlich sichtbar: Kein Lehrstuhlinhaber hat ein eigenes Sekretariat – aber alle profitieren vom professionellen Verwaltungsteam, eigene Hilfskräfte gibt es nur für bestimmte Projekte, im Regelfall teilt jede ein Büro mit mindestens einem Kollegen. Der Hauptunterschied liegt (neben dem Gehalt) im Promotionsrecht, das nur Lehrstuhlinhaber besitzen. Wer bereits habilitiert aus Deutschland kommt und eine Stelle als Assistant oder Associate Professor antritt, besitzt in den Niederlanden kein Promotionsrecht. Häufig ist aber trotzdem jemand auf diesem Karrierelevel im Alltag der Hauptpromotionsbetreuer (Daily Supervisor), und das wird dann zum Glück auch anerkannt.

Philosophen unter Händlern

Das akademische System in den Niederlanden zeichnet sich insgesamt durch seine (neo)liberale Struktur, im positiven wie negativen Sinne, aus. Positiv, da es weniger Kontakte oder die Zugehörigkeit zum richtigen Stall oder Geschlecht, sondern Leistung und Ideen belohnt. Positiv, da es Unabhängigkeit fördert und nicht die Abhängigkeit zu höhergestellten Professorinnen oder Lehrern zementiert; etwa dadurch, dass Post-Docs und Assistant-Professoren als Principal Investigator Forschungsprojekte selbst anfragen und für diese auch verantwortlich sind, während es in Deutschland noch oft geschieht, dass Mitarbeiter im Namen von Professorinnen Anträge für Projekte schreiben, in denen sie dann (bei Bewilligung) lediglich als Mitarbeiter angestellt werden. Dies macht das niederländische System durchlässig und daher attraktiv für junge Akademikerinnen aus anderen europäischen Ländern oder Akademiker aus noch wenig repräsentierten sozialen oder kulturellen Milieus.

Um sozusagen wettbewerbskompatibel zu bleiben oder erst noch zu werden, werden etwa für Frauen an allen Universitäten Mentoring-Programme angeboten, die bei den angestrebten Beförderungen helfen sollen (vom Assistant zum Associate oder vom Associate zum Full Professor). Das erst kürzlich gestartete Mentoring-Programm an der Erasmus-Universität heißt 25/25, nach dem angestrebten Ziel der Initiative, nämlich bis 2025 einen Prozentsatz von 25 % der Professuren mit Frauen zu besetzen. Die Universität Rotterdam schnitt hier in der Vergangenheit im Vergleich eher unterdurchschnittlich ab. Bei im Schnitt 23 % weiblichen Professoren in den Niederlanden kam Rotterdam lediglich auf 15 %. Wie auch in anderen Ländern lässt sich in den Niederlanden ein sogenannter Flaschenhals (Bottleneck) mit Bezug auf das Verhältnis von niedrigen zu hohen akademischen Positionen beobachten. So sind im Landesdurchschnitt 43 % der Doktoranden, 41,8 % der Universitätsdozenten (Assistant Professors), aber nur 28,4 % der Universitätshauptdozenten (Associate Professors) und 23 % der Professoren (Full Professors) weiblich. [3] Im Vergleich zu Deutschland schneiden die Niederlande also mit Blick auf den Frauenanteil der Vollprofessuren (C4/W3), der in Deutschland im Jahr 2019 bei 11,7 % lag, deutlich besser ab. Dies gilt auch für weibliche Professoren unter W1/2, deren Prozentanteil bei 25,6 liegt (Quelle: Statistisches Bundesamt).

Soweit die positiven Aspekte. Die strikte Leistungsorientierung kann sich auch negativ auswirken, wenn Quantität (Anzahl der Publikationen in Journals mit hohem Impact-Faktor, eingeworbene Mittel etc.) manchmal mehr wiegt als Qualität. Zudem kann niemand sich seiner Position ganz sicher sein. Die konstante Evaluation und der Legitimationsdruck der eigenen Forschung gelten auch für die Disziplin als Ganze. So steht das Fach Philosophie, nicht gerade bekannt für seine Wirtschaftsrelevanz, im stetigen Überlebenskampf zwischen Fakultäten, die möglichst aus sich selbst heraus finanziell tragfähig sein sollen. Vor lauter ‚Social Impact‘ und dem Ruf nach technischen und wissenschaftlichen Innovationen bleibt der Philosophie oft nur eine unterstützende Rolle: entweder als analytische Reinigungskraft, um die Konzepte und Ergebnisse der Wissenschaften zu prüfen, zu ordnen, zu optimieren oder ins rechte Licht zu rücken, oder als ethischer Dekorateur, der auf technologische Innovationen im Nachhinein reflektiert und diese bestmöglich ethisch legitimiert. Wenn gesellschaftlicher Nutzen, auch in Forschungsanträgen, eine so große Rolle spielt, wer kann da noch in die Tiefen der Geschichte der Philosophie einsteigen, metaphysische Grundfragen klären oder neue philosophische Visionen entwickeln? Hier kann das Nutzenprinzip mit seiner einseitigen Zukunftsorientierung paradoxerweise dafür sorgen, dass kein Raum für wirkliche Innovationen oder neue Visionen bleibt. Jeder kämpft darum, seine Forschung so gut möglich verkaufbar und nutzbar zu machen, d. h. an bereits bestehende Standards anzupassen. Anstatt eines langfristigen Buchprojektes schreibt man lieber die (mindestens zwei) Peer-Review-Artikel per Jahr, um den erwarteten Leistungsstandards zu entsprechen. Anstatt sich in neue Literatur einzulesen und neuen Ideen zu öffnen, orientiert sich die Philosophin im Überlebenskampf lieber daran, was gerade gefragt ist und gebraucht wird. So entsteht das Paradox, dass man in der Lehre die Notwendigkeit des freien, d. h. dann auch manchmal unbequemem, Denkens vermitteln will, jedoch in der Forschung oft hauptsächlich Auftragsarbeit erledigen muss.

Dies ist sicher nicht nur ein Problem in den Niederlanden, sondern ein grundsätzliches Problem der Rolle der Philosophie – einer Disziplin, die im Kern aus einer Suche und Frage besteht, und sich dadurch aus Prinzip einem auf Leistung und Resultaten beruhendem Dogma entzieht.

Philosophie vom pragmatischen Standpunkt

Trotzdem muss man den Niederländern zu Gute halten, dass sie das philosophische Fragen durchaus ernst nehmen oder zumindest seine Notwendigkeit und seinen Nutzen für Wissenschaft, Technologie, aber auch für die alltägliche Gesellschaft, erkennen und fördern. Philosophische Fragen werden durch unzählige Initiativen und interdisziplinären Zusammenarbeiten aus dem Elfenbeinturm der Akademie hinausgetragen. Nicht nur an den Universitäten sowie im Kultur- und Kunstsektor, sondern auch in Schulen, Berufsausbildungen und sozialen Initiativen.

Oft stecken hinter solchen Initiativen kreative und engagierte Philosophinnen und Philosophen wie z. B. unser ehemaliger Kollege und Professor Henk Osterling, der die Initiative Rotterdam vakmanstad (Handwerkerstadt Rotterdam) aufgebaut hat, oder die Initiative einer unserer Studenten Erasmus verbindt (Erasmus verbindet). Rotterdam vakmanstad bietet praktische Bildungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche aus sozial schwachen Gegenden. Beim gemeinsamen Philosophieren bis hin zur nachhaltigen Gartenarbeit soll Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geboten werden, sich selbst zu entwickeln, indem sie aufgefordert werden, ihr Wissen zu erweitern und ihre Fähigkeiten zu verbessern. Erasmus verbindt ist eine Initiative, die die Wissenschaft in einen lebendigen Dialog mit verschiedenen Interessenvertretern der Stadt Rotterdam bringen möchte; ähnliche Initiativen und Tendenzen gibt es an anderen Universitäten, die ein Philosophiestudium anbieten, wie Amsterdam, Groningen, Tilburg, Utrecht, Nijmegen und Leiden. [4]

Die oben genannten Einflüsse einer Philosophie mit pragmatischem Standpunkt spiegeln sich auch in den Forschungsthemen und -bereichen der Philosophie in den Niederlanden. Ethik wird beispielsweise oft stark anwendungsbezogen praktiziert, insbesondere als Wirtschafts-, Technologie- und Medizinethik. Klassischerweise war die Disziplin der Ethik eher in der Theologie angesiedelt. Teilweise hat sie noch den Ruf, dogmatisch vorzuschreiben, was man tun und lassen sollte, statt offen über normative Fragen menschlichen Handelns zu reflektieren. Wer praktische Philosophie in einem solchen weiteren Sinne versteht und vermittelt, hat hier in den Niederlanden überraschend oft einen deutschen Hintergrund. Neben der Technologieethik (zentral ist hier häufig das Thema künstlicher Intelligenz) ist die Technikphilosophie als Reflexion über das Verhältnis zwischen Technologie und Mensch generell sehr stark, sowohl durch individuelle Forschungsleistungen als auch in großen Forschungsverbünden, häufig in der Tradition der Postphänomenologie. Klassische philosophiehistorische Ansätze haben es aktuell schwerer (vielleicht auch, weil das Geschichtsbewusstsein für die gegenwarts- und zukunftsorientierten Niederländer generell eine weniger wichtige Rolle spielt als in Deutschland), es sei denn, es geht um klassische Editionsprojekte oder den Versuch, historische Positionen in einen aktuellen Kontext einzuordnen. Insgesamt wird Interdisziplinarität groß geschrieben und, wie bereits deutlich geworden sein sollte, schnelle Reaktionen auf aktuelle Themen verlangt, nicht nur in den klassischen Feuilletons, sondern mit Breitenwirkung. Im Zuge der Coronakrise waren die Stimmen zahlreicher Philosophinnen und Philosophen in Bezug auf damit verbundene ethische, soziale und existenzielle Fragen deutlich vernehmbar, zuweilen auch zur besten Sendezeit. Die bereits erwähnte Onlineplattform der OZSW, die Ansprechpartner für Medien und Institutionen vermittelt, wurde blitzschnell um verschiedene Expertisen in Sachen Corona erweitert.

Die Philosophie in den Niederlanden entspricht also alles in allem einer Grundhaltung, die sich an dem orientiert, was liberal, praktisch und pragmatisch für alle ist. Es gibt viele individuelle Freiräume, viel Eigenverantwortung – an die wurde auch gesellschaftlich im Zuge der Coronakrise gebetsmühlenartig appelliert, bevor dann doch Lockdown-Maßnahmen verschärft werden mussten. Gezelligheid ist hier ein großes Gut, das man nicht leichtfertig aufgibt, so gab es viele Stimmen von selbst älteren Philosophen und Ärztinnen, dass man die sozialen Möglichkeiten der Jugend nicht zu Gunsten des Schutz der Alten unnötig einschränken sollte. [5] Jedoch wurde auch lauthals von der Regierungsspitze auf die asozialen Jungen wie Alten geschimpft, die trotz der Lage noch zahlreich bei heimlichen Techno- oder Familienpartys zusammentrafen; und das, obwohl der Minister für ‚Volksgezondheid‘ selbst dabei ertappt wurde, seine eigenen Regeln bei einer Familienfeier im Sommer nicht ganz so genau zu nehmen, was dafür wiederum mit großer Häme von Seiten seines ‚Volkes‘ quittiert wurde.

Und so konsensorientiert die Poldermentalität auch ist – die Durchsetzung der Maskenpflicht war ein endloses Streitthema mit weniger radikalen Protesten als in Deutschland, aber mit längeren Diskussionen und äußerst sturen individuellen Positionen und Entscheidungen. Konsens ist dabei immer das Ziel, sich gemeinsam über Wasser zu halten, sowie Fatsoen, eine geteilte Normalität trotz unterschiedlicher gesellschaftlicher Strömungen (ursprünglich erlernt in religiösen Konflikten). Dies verlangt Raum für Toleranz, sofern man dem anderen mit seiner Lebensweise nicht auf die Füße tritt, ihm (im Sand) eine Grube gräbt oder die gemeinsamen pragmatischen Anstrengungen untergräbt. Es ist aber auch klar, dass dem Konsens erhitzte Debatten, provokative Positionen, auch ein freier Austausch spielerisch kreativer, bisweilen anarchischer Ideen vorausgehen. Die Philosophie muss in den Niederlanden der indirekten Anspruchshaltung entsprechen, der Allgemeinheit zu nützen. Aber es wird auch respektiert, dass sie dies häufig nur dadurch leisten kann, dass sie widerständig, streitlustig, kontrovers bleibt und klar und deutlich ihre Stimme erhebt.

Mit welchen Worten würde sich die niederländische Philosophie an die Philosophietreibenden in Deutschland wenden? Vielleicht mit diesen: Seid mutig, kommt heraus aus euren schützenden Gräben, lasst eure Stimme hören, aber hört vor allem auch auf andere Stimmen; ziert euch nicht, komplexe Dinge auch einmal klar und einfach zu sagen, habt keine Angst vor Anwendbarkeit und Interdisziplinarität. Seid laut, radikal und kritisch, aber verliert nicht den Blick auf das Gemeinsame und pflegt einen gesunden Pragmatismus. Denn weder Philosophie noch Gemeinsamkeiten sind etwas, was wir einfach so voraussetzen können, sondern müssen immer neu in Frage gestellt und auch erarbeitet werden.

Und zuletzt, vielleicht nicht ganz einfach im Jahr 2020/21: Entspannt euch, nehmt euch nicht zu ernst, und habt Spaß am gemeinsamen Philosophieren!

In diesem Sinne senden einen herzlichen Gruß – hartelijke groet – aus den Niederlanden

Katharina Bauer und Maren Wehrle

Literatur

Huijer, M. (2020), Open de Cafés. Ophokken schaadt de sociale cohesie, in: Trouw (4.12.2020), 4–5.Search in Google Scholar

Huijer, M., u. Tongeren, P. v. (2020), Hoe begrens je een levenswens?, in: Trouw (26.11.2020).Search in Google Scholar

Published Online: 2021-06-17
Published in Print: 2021-06-25

© 2021 Wehrle, publiziert von De Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Downloaded on 25.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/dzph-2021-0038/html
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