Einleitung

Wie gut ein Krankenhaus ist, hängt unter anderem davon ab, wie es mit moralischen Fragestellungen umgeht. Versorgungsqualität besitzt somit auch eine ethische Dimension (Wynia 1999; Fox et al. 2010; Foglia et al. 2012; Fox 2013). Klinischer Ethik kommt hierbei eine unterstützende Funktion zu: Sie zielt darauf ab, den Austausch über Moral in den alltäglichen Handlungen und Entscheidungen rund um die Versorgung von Patient:innen zu fördern und damit zum kompetenten Umgang mit ethischen Herausforderungen beizutragen (BÄK 2006, 2019; AEM 2010). Ihre Leistung besteht darin, Ethikkompetenzen zu bestärken, Reflexionsräume und -prozesse zu gestalten sowie ethisch-normative Standpunkte an den Stellen anzubieten, an denen dies für den Fortgang der Ethikreflexion förderlich erscheint (Woellert 2021).

Damit besitzt Klinische Ethik das Potenzial, Versorgungsqualität effektiv zu befördern. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sie mit ihren Angeboten diejenigen erreicht, die die Patient:innenversorgung tagtäglich gestalten. Der individuelle Nutzen einer Ethikintervention muss für die Beteiligten unmittelbar erfahrbar sein. Nur so kann klinische Ethikberatung zu einem professionellen Umgang mit ethischen Herausforderungen in den Regelprozessen des Krankenhausalltages beitragen (Arn 2007; Arn und Hug 2009; Dauwerse et al. 2014; Hartman et al. 2020). Die Gestaltung von Ethikberatung, die in diesem Sinne erfolgreich ist, erfordert ein theoriegeleitetes und methodenbewusstes Vorgehen. Neben einem fundierten Wissen über ethische Theorien und Reflexionsverfahren zählen dazu Kenntnisse über Methoden zur Steuerung von intra- und interpersonalen Prozessen.

Die Frage der Beratungsmethodik gerät bislang jedoch kaum in den Blick der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Themen der Klinischen Ethik. Zwar werden formale und die Struktur betreffende Fragen von Ethikberatung aufgegriffen (Agich 2001; Steinkamp und Gordijn 2010; May 2013; Flicker et al. 2014; Vollmann 2021) und Moderationsgeschick wird angemahnt (AEM 2019). Beratungsmethoden im engeren Sinne bleiben dagegen unberücksichtigt oder werden nur allgemein benannt (Orr und Shelton 2009; Simon 2021; Vollmann 2021). Das ist ein erstaunliches Desiderat: Ethikarbeit beginnt mit der ersten Kontaktaufnahme, Ethikberater:innen treten mit jedem Auftrag in eine Beziehung zum Klient:innensystem und in dieser entscheidet sich, ob Ethikberatung gelingt oder nicht. Dazu braucht es eine Verbindung von Fachwissen und Beratungstechniken. Die vorliegende Arbeit greift diese Problematik auf und geht dabei von der Hypothese aus, dass systemische Beratungskonzepte einen wichtigen Beitrag zu einer im obigen Sinne effektiven Ethikarbeit leisten können.

Die Systemik ist keine in sich geschlossene Theorie, sondern stellt eine bestimmte Sichtweise auf Systeme dar. Sie beschäftigt sich mit dem Wesen und der Funktionsweise von u. a. sozialen und psychischen Systemen sowie den Möglichkeiten, auf diese einen förderlichen Einfluss zu nehmen (Simon 2011; von Schlippe und Schweitzer 2012; Schwing und Fryszer 2012). Das bildet die Basis für ein spezifisches Methodenrepertoire, dessen Nutzen für die Aufgabenfelder der Klinischen Ethik bisher vereinzelt und mit unterschiedlicher Intensität thematisiert wurde (Silverman 2000; Foglia und Pearlman 2006; MacRae et al. 2008; Dinges 2010, 2014; Fox et al. 2010; Dinges und Simon 2010; Schermann 2010; Wallner 2022; Silva et al. 2018; Schuchter et al. 2021; Woellert 2021). Eine systematische Aufarbeitung steht dagegen noch aus.

Dieses Desiderat bildet den Ausgangspunkt für den vorliegenden Beitrag. Gegenstand der Darstellung ist eine systematische Auseinandersetzung mit dem Nutzen systemischen Denkens für die Belange von Ethikberatung. Konkret geht es um zwei Fragen: Erstens, welche systemischen Grundannahmen und Methoden eignen sich hierfür? Und zweitens, welche Auswirkungen hat deren Verwendung auf das Verständnis von der Rolle, den Aufgaben und der Qualifikation von Ethikberater:innen? Die Diskussion ist folgendermaßen aufgebaut: Zur Veranschaulichung der nachfolgenden Ausführungen werden einleitend zwei Fälle skizziert, welche zwei der drei klassischen Aufgabenfelder von Ethikberatung repräsentieren (BÄK 2006; AEM 2010) und dabei paradigmatische Fallstricke aufzeigen. Daran anschließend wird die Entwicklung des systemischen Denkens umrissen, um im nächsten Schritt zentrale systemische Grundannahmen und deren Bedeutung für die Klinische Ethik herauszuarbeiten. Darauf aufbauend wird eine Auswahl systemischer Methoden vorgestellt und auf eine Anwendung in der Ethikberatung überprüft. Abschließend wird das Potenzial diskutiert, welches der systemische Ansatz für die zukünftige Entwicklung von Ethikberatung bereithält.

Von den Tücken des Alltages Klinischer Ethik – paradigmatische Herausforderungen anhand zweier Fallbeispiele

Ethikberatung operiert klassischerweise auf drei Aufgabenfeldern: Fallberatung, Schulung und Leitlinienentwicklung (Rasoal et al. 2017). Die hier aufgeführten Fälle stehen beispielhaft für zwei der drei Bereiche. Beide Beispiele sind fiktiv und so gestaltet, dass in ihnen typische Herausforderungen zum Ausdruck kommen, auf die Ethikberatung eine Antwort finden muss.

Fall 1 – Herausforderungen im Verlauf einer Ethik-Fortbildung

Die Pflegeleitung einer onkologischen Station wendet sich an das Klinische Ethik-Komitee (KEK) mit dem Wunsch, im Behandlungsteam den Austausch über ethische Aspekte in der Versorgung einzelner Patient:innen zu verbessern. Vor allem geht es darum, wie angesichts eines schwierigen Krankheitsverlaufs in der terminalen Phase die Wünsche der Patient:innen angemessen Berücksichtigung finden können. Die Pflegeleitung möchte zu den ethischen Aspekten einen Impulsvortrag in einer regulären Fortbildungsreihe unterbringen und hat dafür auch die Unterstützung des leitenden Oberarztes. Beide verbinden damit die Hoffnung, auf diese Weise eine Verbesserung der Versorgungssituation anzustoßen.

Die Mitglieder des KEK sind erfreut über die Anfrage. Zufällig bearbeiten sie gerade das Thema Patient:innenwille und Therapiezieländerung am Lebensende. Am vereinbarten Termin sind außer der Pflegeleitung nur vier weitere Personen vor Ort – fast alles Pflegende. Der Oberarzt ist kurzfristig verhindert, die einzige anwesende Ärztin muss sich nach zehn Minuten bereits wieder entschuldigen. Während des Vortrages wirken die Teilnehmenden abwesend, und in der anschließenden Diskussion ist Verstimmtheit spürbar. Neben Wortbeiträgen zum Thema geht es immer wieder darum, wie wenige heute erschienen sind, obwohl doch alle die Fortbildung gewollt hätten. Der Vorsitzende des KEK ist seinerseits gereizt, weil dieses wichtige Thema keinen Anklang findet. Am Ende der Veranstaltung verlassen alle den Raum mit gemischten Gefühlen.

Das Beispiel zeigt: Um Effekte entfalten zu können, muss Klinische Ethik anschlussfähig sein und mit ihren Angeboten die anfragenden Personen erreichen (Krobath 2010, S. 563). In Fall 1 ist das augenscheinlich nicht gelungen. Weil die Teamdynamik alle Aufmerksamkeit band, fand das ethisch bedeutsame Thema kaum Beachtung und der gewünschte Anstoß zu einer Veränderung blieb aus. Dieser Falle kann Ethikberatung durch ein methodengeleitetes Agieren entgehen, für das die Systemik wichtige Anregungen bereithält.

Fall 2 – Herausforderungen im Verlauf einer Ethik-Fallberatung

Die Ethik-Fallberatung (EFB) erhält folgende Anfrage: Bitte um Begleitung bei der Klärung der Fragestellung: „Ist ein palliatives Therapieziel für einen nicht einwilligungsfähigen 55-jährigen Patienten angesichts einer noch unsicheren Prognose ethisch vertretbar?“ Hintergrund der Frage ist folgender: Der Patient wird nach einem schweren Schlaganfall seit 15 Tagen intensivmedizinisch versorgt. Die Prognose ist, bei aller Vorsicht in Hinblick auf den geringen zeitlichen Abstand zum Ereignis, eher ungünstig. Es muss mit dauerhaften motorischen und kognitiven Einschränkungen gerechnet werden, deren Ausmaß aktuell nicht bestimmt werden kann. Der Patient ist nicht einwilligungsfähig, hat weder eine Patientenverfügung noch eine Vorsorgevollmacht verfasst. Er lebt allein. Den Kontakt zu seiner Familie brach er schon vor langem ab. Es gibt aber einen stabilen Freundeskreis. Zwei seiner engsten Bezugspersonen wurden gerichtlich zu Betreuern ernannt. Sie sind zunehmend von Zweifeln geplagt, ob das momentane Vorgehen im Sinne des Patienten sei. Ihm seien Unabhängigkeit und Selbständigkeit außerordentlich wichtig. Trotz einer Vorerkrankung habe er „immer einen weiten Bogen um Ärzt:innen gemacht“. Selbst bei zunehmendem Unwohlsein im Zuge des Schlaganfalls habe er ärztliche Hilfe willentlich nicht in Anspruch genommen. Erst die Freunde hätten den Notarzt gerufen. Die beiden Betreuer können sich nicht vorstellen, dass ein Leben mit dauerhafter Pflegebedürftigkeit, selbst eine leichte, im Sinne des Patienten sei. Sie werden in ihrer Haltung vom Freundeskreis unterstützt.

Schon im Vorfeld der EFB wird deutlich, welches Konfliktpotential die Situation birgt: Einige Mitglieder des Behandlungsteams verweisen darauf, dass zum aktuellen Zeitpunkt eine überwiegende Erholung noch im Rahmen des Möglichen sei, und wollen dem Patienten diese Chance nicht vorenthalten. Die anderen pochen darauf, dass der (mutmaßliche) Wille auch in dieser Situation handlungsleitend sein müsse und von den Freunden gut vertreten werde. Auf Wunsch des Behandlungsteams soll die EFB vorerst ohne die Betreuer stattfinden. Die Diskussion ist hitzig und dreht sich im Verlauf immer wieder um medizinische Detailfragen sowie deren Auswirkungen auf die Prognose. Die Ethikberater:innen haben große Mühe, die Perspektive des Patienten und die ethische Dimension der Situation herauszuarbeiten.

Der Fall verdeutlich die Herausforderungen bei der Anleitung eines Reflexionsprozesses, der der Vielschichtigkeit einer komplexen ethischen Problematik gerecht wird. Hierfür ist das Beherrschen von geeigneten Beratungsmethoden erforderlich, denn es geht neben dem Was vor allem um das Wie des Aushandlungsprozesses (Krobath 2010). Strukturmodelle und Reflexionsverfahren bieten hierfür zwar eine Ordnungslogik an (May 2013), sie berücksichtigen aber nicht hinreichend die intra- und interpersonalen Dynamiken, die den Verlauf eines Reflexionsprozesses maßgeblich beeinflussen (Orr und Shelton 2009).

Die Entwicklung der Systemik und ihre Verbreitung in Therapie, Coaching, Supervision und Organisationsberatung

Die Systemik beschäftigt sich mit dem Wesen und der Funktionsweise von Systemen. Dahinter steht jedoch kein geschlossenes Theoriekonstrukt und keine in sich konsistente Methode, sondern ein bestimmtes Verständnis davon, was Systeme im Kern ausmacht und wie diese nachhaltig unterstützt bzw. beeinflusst werden können. In der einschlägigen Literatur ist die Rede von einer „systemischen Haltung“, von einem „systemischen Verständnis“ und „systemischer Praxis“ (Königswieser und Hillebrand 2015; Schwing und Fryszer 2012). Zudem gibt es ein spezifisches Methodenset, dass sich in der entsprechenden Fachliteratur nahezu durchgängig wiederfindet. Es lassen sich somit Elemente ausmachen, die in nahezu allen systemischen Therapie- und Beratungsvarianten in der einen oder anderen Form von Bedeutung sind. Und zugleich gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Umsetzungen: Im therapeutischen Zusammenhang (von Schlippe und Schweitzer 2012) stößt systemisches Denken auf andere Kontextbedingungen als dies im Rahmen von individueller Lebensberatung, Supervision, Personalführung, Unternehmensberatung oder Strategieentwicklung der Fall ist (Ebbecke-Nohlen 2020; Königswieser und Hillebrand 2015; Nagel und Wimmer 2015; von der Oelsnitz 2012). Die Schnittmenge der geteilten Grundannahmen, Haltungen und Methoden bilden das, was mit dem Terminus „Systemik“ zusammengefasst wird.

Seinen Ursprung hat dieser Ansatz in den 1950er-Jahren, als mit der Weiterentwicklung der Familientherapie in therapeutischen Prozessen erstmals das soziale Bezugssystem der Patient:innen einbezogen und Störungen in ihrer Funktion im jeweiligen sozialen Kontext wahrgenommen wurden (von Schlippe und Schweitzer 2012, S. 32 ff.). In der Folge gewann systemisches Denken auch in anderen Therapiefeldern an Bedeutung. Mittlerweile handelt es sich hierbei um einen etablierten Ansatz, der seit 2008 als wissenschaftlich begründetes Verfahren anerkannt wird und seit 2020 als Leistung über die gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden kann (Levold et al. 2020, S. 3–5). Außerhalb des therapeutischen Anwendungsfeldes wuchs der Einfluss des systemischen Denkens mit einiger Verzögerung und ging schließlich auch in pädagogische Konzepte, in Coaching, Supervision und Mediation sowie in das weite Feld der Organisationsberatung und -entwicklung ein (von Schlippe und Schweitzer 2012, S. 32–34).

Heute gehört dieser Ansatz in vielen Beratungsfeldern zum festen Methodenrepertoire; für das Feld der Ethikberatung im Gesundheitswesen gilt dies jedoch nicht – abgesehen von wenigen Ausnahmen (Silverman 2000; Foglia und Pearlman 2006; MacRae et al. 2008; Dinges 2010, 2014; Fox et al. 2010; Dinges und Simon 2010; Schermann 2010; Wallner 2022; Silva et al. 2018; Schuchter et al. 2021; Woellert 2021). Dabei handelt es sich bei Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen, etc. um hyperkomplexe Systeme, deren Binnendynamik gut mit Hilfe der Systemik beschreibbar ist (Czerwick 2012). Die Patient:innenversorgung erfolgt in der Interaktion zwischen Individuen und Kleingruppen und ist zugleich eingebettet in einen organisationalen Kontext (Grossmann und Lobnig 2013). Zwischen beidem besteht ein Zusammenhang, was für das Verständnis von Ethikarbeit relevant ist: Die von der Ebene der Organisation vorgegebenen Regeln des Miteinanders bilden den Rahmen für individuelles Entscheiden, geben Orientierung (beispielsweise in Form von Ethikkodizes), schaffen Handlungsregeln und prägen eine Kultur des Miteinanders (Foglia und Pearlman 2006; Wehkamp und Wehkamp 2017; Hellmann 2015; Schuchter et al. 2021; Silverman 2000; Silva et al. 2018; Woellert 2021). Klinische Ethik muss diesen Zusammenhang berücksichtigen, will sie effektive Interventionen gestalten. Das Instrumentarium der Systemik bietet sich dafür an.

Systemische Grundannahmen und ihre Auswirkungen auf die Klinische Ethik

Systemisches Denken lässt sich auf zwei Metatheorien zurückführen: Die Systemtheorie und den Konstruktivismus (von Schlippe und Schweitzer 2012). Beide beschreiben eine bestimmte Art der Wahrnehmung und des Verständnisses von Wirklichkeit, die im Laufe der Zeit Wandlungen durchliefen, Ergänzungen sowie Weiterentwicklungen erfuhren und mit denen unter anderem Namen wie Nobert Wiener, Ludwig von Bertalanffy, Gregory Bateson, Heinz von Foerster und Niklas Luhmann verbunden sind (Baecker 2016; Lutterer 2021). Viele Kerngedanken, die diesen Metatheorien zuzuordnen sind, fanden Eingang in das systemische Denkgebäude. Nachfolgend wird eine Auswahl der für das systemische Denken zentralen Grundannahmen skizziert und in einen Zusammenhang zu den Anforderungen an klinische Ethikarbeit gestellt.

Operationale Geschlossenheit – System-Umwelt-Differenz – strukturelle Kopplung

Die Systemtheorie beschäftigt sich u. a. mit Charakter und Dynamik sozialer Verbände. Diese werden als in sich geschlossene Gebilde verstanden, die eine charakteristische Binnenstruktur (operationale Geschlossenheit) aufweisen (Baecker 2012b). Systemische Ansätze fragen nach dieser inneren Logik von Systemen. Sie achten auf Muster und Regeln des Handelns, Verhaltens und Denkens – etwas, das auch für die Ethikberatung hilfreich ist (Dinges und Simon 2010). In beiden Beispielen lassen sich die Behandlungsteams als soziale Systeme mit einer operationalen Geschlossenheit und einer spezifischen Binnenstruktur beschreiben. In beiden Fällen bleib aber offen, ob ärztliche, pflegerische und therapeutische Kolleg:innen sowie Patient:innen und Angehörige gleichermaßen als Systemmitglieder anzusehen sind oder ob eine Binnendifferenzierung für das Verständnis der Situation und der ihr innewohnenden Problematik sinnvoller erscheint. Die Auseinandersetzung mit den charakteristischen Systemdynamiken- und -mustern führt zu einem tieferen Verständnis von den strukturellen Zusammenhängen, in denen ein moralisches Dilemma angesiedelt ist – eine wichtige Voraussetzung für die Konzeption wirksamer Ethikinterventionen (Woellert 2021, S. 42). Auf diese Weise ließe sich in Fall 2 die skeptische Einstellung des Patienten gegenüber medizinischer Unterstützung besser einordnen, was eine Annäherung an den mutmaßlichen Willen unterstützen könnte.

Des Weiteren interessieren sich systemische Beratungsangebote für die relevanten Umwelten und den Kontextbezug von Systemen. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass diese in Abgrenzung von ihrer Umwelt existieren (System-Umwelt-Differenz) und zugleich mit ihr in einer Wechselwirkung (strukturelle Kopplung) stehen (Hoegl 2012). Im systemischen Denken kommt dem Blick auf Systemgrenzen und Vernetzungsstrukturen daher eine hohe Bedeutung zu. Es geht darum, ein Verständnis von den Wechselwirkungen zwischen System und Umwelt zu erlangen, von den Beziehungsstrukturen und den ihnen immanenten Hierarchien, Dynamiken und Koalitionen (von Schlippe und Schweitzer 2012, S. 116–117). In Fall 1 wird eine strukturelle Kopplung in der Interaktion zwischen KEK und Behandlungsteam deutlich: Letztere haben eine spezifische Erwartung an die Ethik-Schulung, die sich nicht erfüllt. Die Mitglieder des KEK wiederum verfolgen mit der Schulung ihrerseits eine bestimmte Zielvorstellung, die sich ebenfalls nicht realisieren lässt. Die Verflechtung reziproker Vorannahmen und Erwartungshaltungen hat einen Einfluss auf den unglücklichen Verlauf der Veranstaltung. In Fall 2 lassen sich der Patient und sein Freundeskreis als ein System beschreiben, zu dem das Behandlungsteam in einer strukturellen Kopplung steht, was in der EFB deutlich zu Tage tritt: Die Aussagen der Freunde nehmen nicht nur Einfluss auf die Stimmungslage im Verlauf der EFB, sondern wirken sich auch auf die ethische Bewertung der anstehenden Therapieentscheidung aus.

Dynamische Stabilität – Autopoiese

Soziale Systeme sind nach systemtheoretischen Vorstellungen nicht-triviale, hyperkomplexe Gebilde (Czerwick 2012; Simon 2011). Sie stehen in Abgrenzung zu trivialen oder auch technischen Systemen. Letztere sind mechanisch steuerbar; eine Einwirkung von außen führt sicher zu einer vorhersehbaren Wirkung, ein Ist-Zustand kann gezielt in einen Soll-Zustand überführt werden. Bei den nicht-trivialen oder auch komplexen Systemen ist gerade das anders. Bei ihnen kann ein Einwirken von außen durch eine Vielzahl von Verknüpfungsmustern und Dynamiken unterschiedliche und vor allem nicht vorhersagbare Reaktionen hervorrufen, die schließlich in einen neuen Zustand der Ordnung münden (dynamische Stabilität) (von Schlippe 2015; Ebbecke-Nohlen 2020, S. 46–50; von Foerster 1988, S. 19–33).

Soziale Gruppe wie Familien, Behandlungsteams, Organisationen oder Netzwerke gelten in diesem Sinne als selbstreferenzielle Gebilde mit einer grundsätzlichen Unvorhersehbarkeit an Verhaltensweisen. Sie besitzen außerdem einen zeitlichen Bezug beziehungsweise einen historisch gewachsenen Eigensinn. Sie sind das Ergebnis von Struktur- und Prozessmustern, die eine hohe Stabilität aufweisen. Komplexe Systeme sind bemüht, ihren momentanen Zustand zu erhalten. Das bedeutet, dass sie sich zum Erhalt ihres Eigensinns kontinuierlich an sich verändernde Anforderungen anpassen. Dabei reagieren sie nur bedingt auf Einwirkungen von außen, aber zu einem Großteil auf den eigenen inneren Zustand und das mit einer ihnen eigenen, nicht präzise vorhersagbaren Dynamik. Nach Möglichkeit nehmen sie Änderungen in einem Maße auf, der ihren Eigensinn nicht substantiell gefährdet. Das bedeutet, dass sich Veränderungen immer am grundsätzlichen Erhalt der Funktionsfähigkeit des Systems orientieren. Das macht soziale Systeme zu sich selbst regulierenden Entitäten (Autopoiese) (Baecker 2012a; Varela et al. 1974).

Diese Eigenart liefert auch eine Erklärung dafür, warum das Schulungsangebot in Fall 1 vordergründig zu einem Misserfolg geriet. Das Stationsteam reagierte hier mit einer dynamischen Stabilität. Die Mitglieder des Behandlungsteams waren, mit den Worten der Systemik gesprochen, bemüht, ihre Ordnung zu erhalten. Und das bedeutet konkret, dass auf die Irritation des Schulungsangebots hin zunächst einmal nicht viel erfolgt, was sich in diesem Fall an der geringen Teilnahmebereitschaft zeigt. In dieser für das KEK unangenehmen Erfahrung drückt sich die Selbstregulationskraft sozialer Systeme aus, die Autopoiese. Überspitzt gesagt: Eine Schulung führt nicht zwangsläufig zu einer angemesseneren Berücksichtigung des Patientenwillens. Viel wahrscheinlicher ist es, dass ein System im vertrauten Muster reagiert. Im Beispiel wird dies am Unwillen über die Abwesenden deutlich, welche mehr Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt als die Auseinandersetzung mit der in der Schulung angesprochenen ethischen Problematik. Die Grundcharakteristik von Systemen bestimmt somit maßgeblich, in welcher Form Individuen und Gruppen ethische Fragen reflektieren und ihr Handeln danach ausrichten. Mit dem Wissen um diese Zusammenhänge lässt sich Ethikarbeit anders gestalten. Die autopoietische Dynamik kann dann bei der Planung und Durchführung konsequent berücksichtigt und die Aufmerksamkeit auf die normative Dimension einer Fragestellung gelenkt werden. Eine Ethikintervention gerät dadurch weniger zu einem von außen an ein Team herangetragenes Angebot, sondern entsteht bereits in der Planungsphase unter Rückbezug auf die spezifischen Systemdynamiken und wird dadurch anschlussfähig (Woellert 2021, S. 42). Eine wichtige Methode bildet in diesem Zusammenhang die Auftragsarbeit (s. unten).

Multiperspektivität – Zirkularität

Das systemische Denken basiert des Weiteren auf der Ideenwelt des Konstruktivismus, demzufolge Wahrnehmung von Wirklichkeit durch soziale Interaktionsprozesse entsteht, was zu einer Vielzahl unterschiedlicher Weltsichten führt und wodurch Wahrheit einen multiperspektivischen Charakter erhält (Gergen und Gergen 2009; Ebbecke-Nohlen 2020). Die Frage nach dem objektiv Richtigen stellt sich so gar nicht erst. Von hoher Bedeutung ist dagegen der Erkenntnisakt als solcher, der immer von einer Person durchlaufen wird, die ihrerseits Teil dieser Wahrnehmung ist. Das dadurch entstehende Bewusstsein von Wirklichkeit basiert auf einer Selbstreferenzialität von Erkenntnis und vollzieht sich in einem zirkulären Prozess. Deshalb wird im systemischen Denken die Position der Beobachtenden in die Reflexionsprozesse mit einbezogen: Es geht um die Beobachtung der Beobachtung (von Schlippe und Schweitzer 2012, S. 114–116).

Für die Klinische Ethik hat das zwei Folgen: Erstens erfolgt auch die Wahrnehmung von ethischen Problemen und von deren Bewältigung multiperspektivisch. Nach der Logik der Systemik dient Ethikberatung nicht der Begründung einer abschließenden Wahrheit über einen ethischen Sachverhalt, sondern folgt den an sie herangetragenen Anliegen, befasst sich mit den unterschiedlichen Wirklichkeitskonstrukten der um Rat ansuchenden Personen und unterstützt diese bei einer ethisch fundierten Entscheidung. Je nach Beobachtungsperspektive und Deutung der Beobachtung fällt das Urteil über Entwicklungsziele (Fall 1) oder die ethische Vertretbarkeit einer Handlung (Fall 2) unterschiedlich aus. Ethikberatung hat dabei die Aufgabe, Multiperspektivität sichtbar zu machen, in Konflikten zu vermitteln und Reflexionsprozesse zu steuern. Verbunden mit dem Gedanken der Autopoiese spricht das dafür, die anvisierten Ziele nur durch den oder die Betroffenen selbst bestimmen zu lassen und von der Formulierung einer Empfehlung abzusehen (Schmitz et al. 2021). Methodische Umsetzung erfährt dies u. a. durch einen konsequenten Auftragsbezug und in einer allparteilichen und neutralen Grundhaltung.

Zweitens folgt aus Multiperspektivität und Zirkularität, dass der oder die Ethikberater:in im Verlauf eines Beratungsprozesses konsequent die eigene Wahrnehmungsposition reflektieren sollte, verbunden mit der Frage, inwieweit das die Deutung der ethischen Problematik beeinflusst. Hätten die KEK-Mitglieder in Fall 1 das berücksichtigt, wären sie möglichweise aufmerksamer gewesen gegenüber den eigenen Anliegen an die Ethik-Schulung. Wichtig ist aber auch der Blick darauf, wie andere Beteiligte ethische Fragestellungen formulieren und aus welcher Position heraus sie das tun. Methodisch aufgreifen lässt sich dieser Zusammenhang durch den bewussten Umgang mit Hypothesen und im Hinwirken auf Komplexitätsexpansion bzw. -reduktion.

Kommunikation

Und schließlich basiert das systemische Denken auf der zentralen Bedeutung von Kommunikation. Soziale Systeme konstituieren sich demnach über den Austausch von Informationen im weitesten Sinn und die damit verbundenen Prozesse der gegenseitigen Wahrnehmung und Beziehungsgestaltung (Simon 2011, S. 82–86). Kommunikationsvorgänge bilden die konstituierenden Elemente sozialer Systeme, weil nur über sie Sinngebung erfolgt und ein Bewusstsein von Wirklichkeit entsteht. Entscheidend ist dabei, dass diese Prozesse unterschiedlicher Gestalt sein können und nicht nur das gesprochene oder geschriebene Wort umfassen, sondern alle Wege des Transportes von Informationen. Nach Watzlawick et al. (2017, S. 63) ist es nicht möglich, nicht zu kommunizieren. Auch die Anwesenheit von bestimmten Personen ist für das Entstehen von Kommunikation nicht zwingend erforderlich. Soziale Systeme bestehen zwar aus Menschen, existieren aber unabhängig von ihnen. Das bedeutet, dass die ein System begründende Kommunikation zwar durch die eingebundenen Menschen gepflegt wird, dabei aber eigenständigen Strukturen, Verbindungen und Dynamiken unterliegt, die auch ohne die Anwesenheit bestimmter Personen Bestand haben und die Systembeschaffenheit begründen.

Die Auseinandersetzung mit den Kommunikationsstrukturen und -dynamiken bildet daher eine weitere Grundkonstante im systemischen Denken (Königswieser und Hillebrand 2015; Krobath 2010). In Fall 1 wird dieser Zusammenhang unter anderem dadurch deutlich, dass die Abwesenheit einzelner Teammitglieder einen kommunikativen Akt bildet, der im Moment der Durchführung der Schulung eine deutliche Wirkung entfaltet. Auch die Reaktion des Vortragenden auf die daraus resultierende Unruhe stellt in diesem Sinne Kommunikation dar, die Einfluss nimmt auf den Verlauf der Schulungseinheit. In Fall 2 wiederum lässt sich die Diskussion, die um diagnostische Detailfragen kreist, als eine kommunikative Vermeidungsstrategie interpretieren, denn die Aufmerksamkeit auf medizinische Teilaspekte lenkt ab von der Auseinandersetzung mit dem Autonomie-Fürsorge-Konflikt. Damit bewegen sich die Handelnden gewissermaßen auf sicherem Terrain und umkreisen so zugleich die eigentlich zentrale Frage, nämlich wie die Informationen über die Behandlungspräferenzen des Patienten zu bewerten seien.

Die Bedeutung systemischer Methoden für die Klinische Ethik

Die im vorhergehenden Abschnitt skizzierten systemischen Grundannahmen bilden den Ausgangpunkt für die Entwicklung eines spezifischen Methodenrepertoires. Dessen Nutzen für Belange der Klinischen Ethik wird nachfolgend diskutiert. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den Auswirkungen, die dessen Anwendung für das Grundverständnis von Ethikberatung hat, wozu insbesondere die angemessene Gewichtung von Neutralität und Parteinahme sowie der Frage nach dem rechten Maß für eine normative Positionierung zählen.

Allparteilichkeit – Neutralität – Interessenvertretung

Im systemischen Denken folgt aus der Annahme, dass Wirklichkeitskonstruktion multiperspektivisch erfolge, u. a. ein überparteiliches Agieren. Dabei wird zwischen Neutralität und Allparteilichkeit unterschieden: Erstere beschreibt eine wertfreie Haltung gegenüber Personen, Beziehungen, Wirklichkeitskonstrukten, Problemen, Prozessen und Ergebnissen, Letztere steht für den gleichberechtigten Einsatz für die Interessen aller Beteiligten (Schwing 2012; von Schlippe und Schweitzer 2012, S. 205–208; Schwing und Fryszer 2012, S. 85–87). Im systemischen Arbeiten werden beide Anteile abhängig vom Anwendungskontext eingesetzt. Obwohl es sich also um einen zentralen Grundsatz handelt, so ist dieser gleichwohl nicht unumstritten (Schwing und Fryszer 2012, S. 73–75). Das beruht erstens auf der Beobachtung, dass neurophysiologisch betrachtet jede Wahrnehmung mit einer emotionalen Wertung verbunden ist, was es unmöglich macht, einem Sachverhalt vollkommen wertneutral zu begegnen (Schwing 2012). Als Konsequenz kommt im systemischen Denken der Reflexion der eigenen Werte und Sichtweisen eine herausragende Bedeutung zu. Aus diesem Grund werden eigene Positionen als solche kenntlich gemacht und ggf. als Möglichkeit angeboten. Das soll verhindern, dass das Eigene der Ethikberater:innen entscheidungsleitend bei der Gestaltung von Beratungsprozessen wird. Der zweite strittige Punkt bezieht sich auf die Frage einer Pflicht zur Parteilichkeit, sofern im Rahmen von systemischer Arbeit die Interessen Abhängiger oder Abwesender verletzt werden. Im Kern führt das zum Grundsatz, dass Neutralität dort enden müsse, wo Vulnerabilität sichtbar werde (Schwing 2012).

Diese Kontroverse ist auch auf dem Feld der Gesundheitsethik Gegenstand aktueller Fachdebatten, bei denen es im Kern um drei Fragen geht: Erstens, wie sich Universalität und Diversität von Moralität zueinander verhalten und wie ethische Expertise (z. B. von Klinischen Ethiker:innen) diesbezüglich zu verstehen sei (Iltis und Sheehan 2016; Rasmussen 2016, 2018; Brummett und Ostertag 2018). Zweitens, in welchem Umfang es zulässig und notwendig sei, seitens der Ethikberater:innen normative Positionierung einzubringen (Reiter-Theil 2009). Und drittens, ob im Zweifelsfalls die Anwaltschaft für vulnerable Interessen übernommen werden müsse (Rasmussen 2012; Tarzian et al. 2015; Parker 2018; Gasparetto et al. 2018). Aus dem Blickwinkel der Systemik lautet die Antwort, dass auch bei ausgewiesener Expertise für die Begründung ethischer Urteile diese in eine Beratung im Grundsatz nur als normative Angebote eingebracht werden sollten, um damit die Anwesenden bei der Formulierung einer eigenen Einschätzung im Sinne der autopoietischen Selbstregulation zu unterstützen. Das allerdings unter der Voraussetzung, dass für vulnerable Parteien dann Anwaltschaft ergriffen werden müsse, wenn dies nicht von anderen übernommen werde (Fiester 2013; Tarzian et al. 2015). Ein Konsens ist dabei nicht zwangsläufig das Beratungsziel, sondern wird dazu erst bei einem entsprechend formulierten Anliegen (Haltaufderheide et al. 2022). Systemisch argumentiert zählen zur Expertise von Ethikberater:innen daher gleichermaßen Kenntnisse über ethische Theorien, die Fähigkeit, diese förderlich in einen Beratungsprozess einzubringen, das Beherrschen von Methoden zur Steuerung von Gruppenprozessen und die Bereitschaft zu einer kritischen Selbstreflexion.

Welche Konsequenzen das für die Ethikarbeit birgt, lässt sich an beiden Fällen nachvollziehen: Im ersten verhalten sich die KEK-Mitglieder weder neutral noch allparteilich, sondern bringen ihre eigene Agenda (die aktuelle Beschäftigung mit dem angefragten Thema, dem sie hohe Bedeutung beimessen) bereits in die Vorbereitung zur Schulung ein. Das macht sie unempfänglich für die Anliegen des Behandlungsteams und führt zur Gestaltung eines Schulungsangebotes, für das kein klarer Auftrag vorliegt und welches folglich misslingt. Zwar ließe sich argumentieren, dass das Thema der Schulung – die Wahrung der Interessen einer vulnerablen Patient:innenkohorte – ein hochrangiges ethisches Ziel darstelle und der Einsatz dafür im Sinne einer Anwaltschaft zu den moralischen Pflichten von Ethikberatung gehöre (Rasmussen 2012). Nur führt das Agieren ohne Mandat der Anwesenden auf der Ebene der Beratungsdynamik zum Misserfolg. In Fall 2 fällt auf, dass die EFB ohne Einbezug der Freunde des Patienten stattfand. Zwar handelte es sich hierbei um den Wunsch des Behandlungsteams und somit um einen Auftrag an die EFB, dem ganz im Sinne von Neutralität gegenüber dem Prozess entsprochen wurde. Das aber hatte weitreichende Folgen: Der Patient blieb unterrepräsentiert, was dem Behandlungsteam Raum gab, sich in Diagnosedetails zu verlieren. Das erschwerte den Zugang zur Auseinandersetzung mit dem Autonomie-Fürsorge-Konflikt. Wo Fall 1 ein Beispiel ist für ein Zuviel an Parteinahme (oder der Unehrlichkeit gegenüber den eigenen Motiven), verdeutlicht Fall 2 die Folgen eines Zuwenigs an Anwaltschaft und der damit verbundenen ethischen Positionierung.

Konsequenter Auftragsbezug

Systeme verändern sich nicht gegen die autopoietische Dynamik. Erfolgreiche Entwicklungsprozesse basieren auf der Bereitschaft eines Systems sich darauf einzulassen. Dem konsequenten Auftragsbezug kommt daher eine Schlüsselrolle zu. Im systemischen Arbeiten geht die Auftragsklärung jedem Beratungsprozess voraus und wird im Verlauf stetig evaluiert (Ludewig 2012; von Schlippe und Schweitzer 2012, S. 235–248). Dabei gelten alle von einer Ethikintervention betroffenen Personen potenziell als Auftraggebende und nicht nur diejenigen, die offen in Erscheinung treten. Ein Auftrag kann mehrgestaltig sein. Vereinfacht gesagt gibt es eindeutige, verdeckte, ambivalente und widersprüchliche Aufträge. Eine Anfrage kann mit unterschiedlichen Auftragscharakteristika verbunden sein. Dies in Erfahrung zu bringen bildet das Ziel der Auftragsklärung. Orientierung geben dabei unter anderem die Fragen: Wer will was, von wem, zu welchem Zweck, bis wann, gegen wen (von Schlippe und Schweitzer 2012, S. 237)?

In der Klinischen Ethik ist der Auftragsbezug methodologisch bislang kaum aufgearbeiteten. Zwar spiegelt sich dieser Grundsatz in der einschlägigen Fachliteratur wider, es fehlt bisher aber eine Auseinandersetzung über ein dafür geeignetes Methodenrepertoire (BÄK 2006; Orr und Shelton 2009; AEM 2010, 2019, S. 9; Rasoal et al. 2017; Simon 2020). Das ist insofern problematisch, als dass hierin eine methodische Antwort auf viele Herausforderungen im Rahmen von Ethikarbeit liegt (Dinges und Simon 2010; Woellert 2021, S. 43–49). Die beiden Fälle geben einen Eindruck von typischen Fallstricken: die mangelnde Bereitschaft, sich auf eine Ethikintervention überhaupt erst einzulassen (Fall 1), oder die Steuerung des Diskussionsverlaufs im Rahmen einer Ethik-Fallberatung (Fall 2). Ob Klinische Ethik erfolgreich ist, entscheidet sich in beiden Fällen nicht allein an der Qualität der ethischen Argumentation, sondern auch am Geschick bei der Gestaltung eines Reflexionsraumes (Walker 1993). Dafür ist ein Rückbezug auf das Anliegen unabdingbare Voraussetzung, denn Ethikarbeit zielt auf einen Zustand, welcher in der Wahrnehmung der Betroffenen funktional und ethisch vertretbar ist. Es liegt somit weitestgehend in der Urteilshoheit der ratsuchenden Person darüber zu befinden, welche Fragestellung im Rahmen einer Ethikintervention bearbeitet werden soll, welche Themen dabei zur Sprache kommen dürfen und was ein stimmiges Ergebnis bzw. Entwicklungsziel darstellt (BÄK 2006). Eine gewisse Einschränkung ergibt sich auch hierbei aus dem Grundsatz der Parteinahme für vulnerable Interessen (Rasmussen 2012; Tarzian et al. 2015).

Eine in diesem Sinne sorgfältige Auftragsklärung hätte in Fall 1 dazu beigetragen, die verschiedenen Erwartungshaltungen der Pflegeleitung, des Oberarztes und der Teammitglieder im Zusammenhang mit der geplanten Schulung in Erfahrung zu bringen sowie deren jeweilige Bereitschaft bzw. Möglichkeit, zum Erreichen der Entwicklungsziele einen Beitrag zu leisten. Im Fall 2 ließe sich in dem Moment, in dem sich die Debatte in der Klärung medizinischer Detailfragen verliert, der Beratungsprozess mit einem Rückbezug auf den initialen Auftrag in lösungsorientierte Bahnen lenken, beispielsweise mit Fragen wie: „Lassen Sie uns noch einmal darauf zurückkommen, welchem Ziel diese EFB dient. Steht nach wie vor die Frage eines ethisch vertretbaren Therapieziels im Vordergrund? Oder braucht es zuvor eine weitere Abklärung prognostische Detailfragen und wer könnte was dazu beitragen?“

Ressourcen- und Lösungsorientierung, Hypothetisieren, Kontextualisieren

Die im systemischen Denken bedeutsame ressourcen- und lösungsorientierte Haltung geht vor allem auf die Postulate von dynamischer Stabilität und Autopoiese zurück. Das führt zu der Annahme, dass Individuen und soziale Systeme die Fähigkeit zu einer lösungsorientierten Entwicklung besitzen. Das Ziel systemischen Handelns besteht nicht darin, aufgrund einer fachlichen Expertise Ratschläge oder gar Weisungen zu erteilen. Ein System würde sie im Zweifelsfall nicht befolgen. Es geht stattdessen darum, autopoietische Prozesse zu unterstützen und die Urteilskraft der Ratsuchenden zu stärken (Baumfeld et al. 2014, S. 59–62; von Schlippe und Schweitzer 2012, S. 209–211). Dieser Gedanke lässt sich auf die Anforderungen von Ethikberatung übertragen, in der es ja um Entscheidungs- oder Entwicklungsprozesse geht, die durch Patient:innen, Angehörige sowie Behandlungsteam verantwortet und umgesetzt werden. Ethikberatung unterstützt das durch die Gestaltung eines Reflexionsraumes (moral space), den diejenigen nutzen, die die infrage stehende Entscheidung treffen oder ausführen müssen, und der bestenfalls zu einer konsensualen Lösung beiträgt (Walker 1993). Nach systemischer Anschauung gelingt dies am besten, wenn dabei die autopoietische Dynamik von Systemen berücksichtigt wird.

Methodisch umsetzen lässt sich das beispielsweise durch den bewussten Einsatz von Hypothesen, die normativer oder deskriptiver Natur sein können. Sie sollen Denkanstöße geben, alternative Sichtweisen anbieten und Möglichkeitsräume schaffen (Pfeifer-Schaupp 2012; Schwing und Fryszer 2012, S. 72–75, S. 129–141). In Fall 2 wäre dies eine denkbare Reaktion auf den festgefahrenen Beratungsprozess. Die Ethikberater:innen könnten angesichts der nachhaltigen Fokussierung auf medizinische Details folgende Hypothese anbieten: „Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Ich habe verstanden, dass die Beurteilung der Prognose mit Unsicherheiten verbunden ist. Aus dem bisher Gehörten habe ich den Eindruck gewonnen, dass zumindest eine dauerhafte leichte Pflegebedürftigkeit wahrscheinlich ist. Mir scheint, dass das im Konflikt mit dem steht, was bislang über die Präferenzen des Patienten bekannt ist. Meines Erachtens liegt darin der Grund für das moralische Dilemma. Mein Vorschlag wäre, dass Sie diesen Punkt ausführlicher beleuchten.“ Eine solche Intervention zielt darauf ab, den Reflexionsprozess auf die normative Dimension zu lenken (Reiter-Theil 2009). Ethische Deutungen werden zu diesem Zweck als Angebote formuliert, um mögliche Sichtweisen herauszuarbeiten. Es ist jedoch nachrangig, ob sie im weiteren Austausch Bestand haben (Pfeifer-Schaupp 2012). Normative Hypothesen stellen kein normatives Urteil dar, sondern dienen der Verständigung über ethische Sachverhalte vor dem Hintergrund eines moralischen Pluralismus und den damit verbundenen Unsicherheiten (Rasmussen 2016).

Einem ähnlichen Ziel dient der Einsatz von Perspektivwechseln, denn in der Logik der Systemik erhalten Verhaltensweisen oder Beziehungsdynamiken ihren funktionalen oder dysfunktionalen Charakter erst durch den jeweiligen Kontext. Ein Sachverhalt ist nicht grundsätzlich „problematisch“, sondern wird dazu nur durch die Wechselwirkung mit der ihn umgebenden Umwelt. Im Umkehrschluss kann durch eine veränderte Wahrnehmung von der Umwelt auch die Beurteilung eines Sachverhaltes anders ausfallen. Systemische Praxis geht diesen Zusammenhängen nach und nutzt sie, indem sie auf Kontextualisierung abzielt (Foglia und Pearlman 2006; von Schlippe und Schweitzer 2012, S. 149–151). Dieser Ansatz wirkt auch in der Ethikberatung. Das zeigt sich anhand der konflikthaften Gruppendynamik in Fall 1, die verhindert, dass der Vortrag Wirkung entfalten kann. Das Beispiel fällt in den Grenzbereich von Supervision und Ethikberatung, wobei die reine Reflexion des professionellen Handelns ein Thema für erstgenannte ist (Bannert 2012; Mitzscherlich und Reiter-Theil 2017; Stets 2021). Aber auch Ethikberatung muss eine Antwort auf schwierige intra- und interpersonale Dynamiken haben, um den Boden für eine Verständigung über die normative Dimension zu bereiten. Dafür eignet sich als Methode u. a. der Perspektivwechsel, der sich in Fall 1 folgendermaßen einsetzten lässt: „Ich verstehe Ihre Enttäuschung darüber, dass so wenige Personen erschienen sind. Das hat vermutlich viele Gründe. Wie haben Sie als Team es geschafft, trotz widriger Umstände diese Schulung zu planen? Was davon kann Ihnen dabei helfen, die Wünsche von Patient:innen bei Therapieentscheidungen am Lebensende besser zu berücksichtigen?“

Komplexitätsexpansion und -reduktion

Das Postulat einer Multiperspektivität von Wirklichkeit ist auch die Ursache dafür, dass im systemischen Arbeiten die Aufmerksamkeit auf der Gestaltung von Vielfalt liegt, mit dem Ziel, den Blick auf alternative Deutungsmuster zu richten (Komplexitätsexpansion). Ähnlich wie beim Hypothetisieren und Kontextualisieren geht es auch hier darum, die Anzahl an Möglichkeiten zu vergrößern (von Schlippe und Schweitzer 2012, S. 200–201). Konkret bedeutet dies, dass bei Entscheidungskonflikten die (dann oft eingeschränkte) Wahrnehmung eines Entweder-oder um weitere Handlungs- oder Deutungsoptionen (beides/keines von beidem) erweitert und die dadurch gewonnene Vielfalt nutzbar gemacht wird (Varga von Kibéd und Sparrer 2014). Bei dieser Beratungstechnik zielt Fachexpertise nicht auf die Klärung eines Sachverhaltes ab, sondern dient als Grundlage für die Formulierung einer alternativen Deutung. In diesem Sinne folgt beispielsweise auf die Formulierung einer ethischen Norm nicht zwangsläufig die Klärung eines moralischen Problems, sondern in erster Linie ein Zugewinn an Sichtweisen, Deutungen und Schlussfolgerungen (Schwing 2012). Mitunter ist für die Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit aber eine gegenteilige Intervention, die Reduktion von Komplexität, zielführender. Das gilt beispielsweise für Fälle, in denen sich die Beteiligten in der Detailfülle und damit der Multiperspektivität von Wissen verlieren (Czerwick 2012).

In der Ethikberatung hilft dieser Ansatz bei der Prozesssteuerung (Dinges und Simon 2010, S. 923–924). Bezogen auf Fall 2 hieße das beispielsweise, dass seitens der Ethikberater:innen eine Offenheit gegenüber alternativen Deutungen der geschilderten Problematik und ihrer normativen Bewertung besteht. Die Frage, welche Personen(gruppen) in welcher Form betroffen sind, weitet den Blick und trägt zur Verdeutlichung der Multidimensionalität der Situation bei. Denn es geht hier nicht nur um die Belange des Patienten, sondern auch um die des Freundeskreises und der Teammitglieder, die die jeweilige Sicht auf das im ethischen Sinne richtige Handeln prägen. Im besten Fall führt das zu einem differenzierteren Verständnis von der Konfliktdynamik und der ethischen Problematik. Der Situation ließe sich aber auch mit einer gegensätzlichen Intervention begegnen: Komplexitätsreduktion hieße in Fall 2 die Diskussion vom Kreisen um diagnostische Details (und damit einer übermäßigen Komplexität) hin zur normativen Bewertung der Situation zu lenken und damit die Aufmerksamkeit auf das verbindende Gemeinsame zu richten – zum Beispiel das geteilte Ziel, im besten Interesse des Patienten zu handeln (Moss et al. 2020).

Zusammenfassung und Ausblick

Die zentrale Aussage dieser Abhandlung lautet: Damit Ethikberatung einen effektiven Beitrag zum Umgang mit moralischen Dilemmata und konfligierenden Wertehaltungen leisten kann, muss sie auf intra- und interpersonale Dynamiken eine methodische Antwort kennen. Damit sind zwei Ebenen angesprochen, die in einer engen Verbindung zueinanderstehen: die der normativen Deutung und die der Prozessgestaltung. Klinische Ethik muss beide beherrschen. Ethikberatung dient dem Ziel, im klinischen Kontext zur Lösung von Problemen mit ethisch-normativem Bezug beizutragen. Das gelingt aber nur, wenn sie über ein Methodenrepertoire verfügt, welches neben der inhaltlichen und auch die Beziehungs- und Prozessebene adressiert. Die Ausführungen zeigen, dass das systemische Denken hierfür ein breites Instrumentarium bereithält.

Der Einsatz systemischer Methoden hat allerdings Konsequenzen für das Grundverständnis von Ethikberatung sowie für die Aufgaben und Pflichten von Ethikberater:innen. Die Expertise für das „ethisch Richtige“ in einer bestimmten Situation wird im systemischen Denken im Grundsatz klar aufseiten der Fallgeber:innen gesehen. Nach systemischer Anschauung hat Ethikberatung keine normative Funktion, sondern zielt darauf ab, die Ratsuchenden darin zu unterstützen, auf eine ethische Problematik eine normative Antwort zu finden. Das Neutralitätsgebot erfährt im systemischen Ansatz jedoch eine Einschränkung durch die Pflicht, vulnerable Interessen zu benennen und ggf. anwaltschaftlich zu vertreten. Damit sind Aspekte berührt, die im medizinethischen Fachdiskurs kontrovers diskutiert werden (Rasmussen 2012; Tarzian et al. 2015; Parker 2018). Eine systemische Sicht auf Ethikberatung muss sich dazu verhalten. Die Ausführungen bieten dafür eine erste Annäherung. Für eine umfassende Betrachtung bedarf es dagegen weiterführender Forschung.

Die Ausführungen zeigen auch, welche Bedeutung der Wahl der geeigneten Beratungstechnik zukommt, wenn es um die Gestaltung von effektiven Ethikinterventionen geht. Das führt abschließend zu dem Plädoyer, die Beratungsmethodik als solche stärker in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung zu rücken. Ein Blick auf das diffuse Feld der Beratungswissenschaften zeigt, wie vielfältig die Fachdebatten in diesem Bereich zwischenzeitlich geworden sind (Bergknapp 2009). Klinische Ethik sollte sich daran ein Beispiel nehmen. Es braucht nicht nur einen Fachdiskurs darüber, ob wir eine Ethikintervention verstehen (Schildmann et al. 2019). Viel weitgehender geht es um die Frage, welche beraterische Handlung zu welchem Zweck eingesetzt werden kann und welche Wirkung sich damit erzielen lässt. Nur über substantielle Forschung zur Steuerung von ethischen Reflexionsprozessen lässt sich diese in ihrer Komplexität verstehen und nachhaltig verbessern (Haltaufderheide et al. 2022) – eine elementare Voraussetzung für die Gestaltung einer effektiven Ethikberatung.