I.

Einleitung – Rückkehren in die Rhetorik

Mit der Rhetorik war es disziplinär, d.h. als eine der sieben artes liberales im 18. Jahrhundert zu einem Ende gekommen. Das mißvergnügte, platonisierende Verdikt Immanuel Kants in der Kritik der Urteilskraft, der die Rhetorik (ars oratoria) als eine »hinterlistige[ ] Kunst« mißbilligt, weil sie darauf abzwecke, den Verstand »durch sinnliche Darstellung zu überschleichen und zu verstricken«, d.h. sich der »Schwächen der Menschen« zu ihrer Absicht bedientFootnote 1, zog einen Schlußstrich. Das alte Wissen der Rhetorik wurde jedoch teils in den neuen Wissenschaften, z.B. in der Ästhetik, Anthropologie oder empirischen Psychologie, neu verteilt, teils auf ›Wohlredenheit‹, d.h. literarische Stilistik, reduziert.Footnote 2

Den »Invektiven« gegen die Rhetorik, die zu ihrer »Abwertung« führtenFootnote 3, stehen seit der »Rhetorik-Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg«Footnote 4 vielfältige Um- und Neuwertungen, d.h. eine grundlegende Rehabilitation der Rhetorik entgegenFootnote 5, die Literatur und Philosophie gleichermaßen betreffen. Die Nennung von Namen wie Martin Heidegger, Ernst Robert Curtius, Heinrich Lausberg, Klaus Dockhorn, Chaïm Perelman oder Hans Blumenberg für solche »Rückkehren in die Rhetorik«, wie ich das einmal in einem Aufsatz zusammenfassend genannt habeFootnote 6, muß hier genügen. Was ›linguistic turn‹ genannt wird, ist in Wirklichkeit solche Rückkehr zur Rhetorik.

So wie man die Anthropologie nicht los wird, weil auch der, der vom Verschwinden des Menschen spricht, selbst ein sterblicher Mensch ist, wird man die Rhetorik nicht los, weil der, der spricht, bzw. die, die redet, oder alle, die schreiben, es stets nur in einem und aus einem bestimmten Diskursregime heraus tun. Natürlich ist die Wiederkehr der Rhetorik, die seit Jahrzehnten vielstimmig konstatiert wird, keine identische Reduplikation der alten, klassischen Systemrhetorik, die selbst nur eine nachträgliche, normative Synthese war. Eine solche Reduplikation klappt bestenfalls nur bei der Weitergabe der Erbinformation. So ist es nur ein Allgemeinplatz, daß solche ›Rückkehren‹ und Wiederholungen nicht Reproduktionen desselben sind, sondern es sich vielmehr um ›Transformationen‹ (Till), d.h. neue Formen rhetorischer Praxis und um neue Arten der Diskursanalyse handelt. Die Aussage, daß die neue Rhetorik nicht länger die Rhetorik der klassischen Tradition sei, ist daher trivial und die daraus abgeleitete These, daß die Moderne keine Epoche der Rhetorik, aber ein Zeitalter der Rhetorizität sei – »Modernism is an age not of rhetoric, but of rhetoricality, […]«Footnote 7 –, diese These aus einem vielzitierten Aufsatz von John Bender und David E. Wellbery erscheint allzu forciert, vor allem aber einseitig zu sein. Zwar trifft es zu, daß Nietzsches Rückkehr zur Rhetorik ein sprachliches Apriori zur Geltung bringt, wodurch sie bei ihm ihren instrumentellen Charakter verliert und stattdessen zur Bezeichnung für die Wurzellosigkeit menschlichen Seins wird.Footnote 8 Daraus eine »impossibility of rhetoric«Footnote 9 in der Moderne überhaupt ableiten zu wollen, führt jedoch in die Irre. Abgesehen davon, daß eine solche Anthropologisierung (oder gar Ontologisierung) des Rhetorischen wenig geeignet ist, gegenüber der alten Rhetorik die spezifische Modernität einer ubiquitären Rhetorizität geltend zu machen, sondern vielmehr dieses Charakteristikum entzeitlicht und zurück bis in die Vergangenheit der Sophistik einträgtFootnote 10 – Bender und Wellbery sind blind für die Einsicht, daß gerade solche Annäherungen an die Rhetorik, die ihren instrumentellen Charakter herausstellen, zu ihrer Rehabilitation in der Moderne entscheidend beigetragen haben.

Rhetorik ist bei Chaïm Perelman Werkzeug einer auf Argumentation hin angelegten praktischen Vernunft jenseits des Ideals apodiktischer Philosophie, bei Hans Blumenberg Theorie und Organ des Menschen außerhalb der Idealität und bei Marc Fumaroli argumentative und emotionale Ressource im fragilen Zwischenraum menschlicher Erfahrung – eingeklemmt zwischen der von Platon aufgerissenen Antithese zwischen Idee und Erscheinung.Footnote 11 Gerade weil diese drei Positionen, die für eine Wiederkehr der Rhetorik stehen mögen, die Diagnose einer anthropologischen ›Wurzellosigkeit unseres Seins‹, sei es überhaupt oder bloß in der Moderne, durchaus teilen, akzentuieren sie im Gegensatz zu Bender/Wellbery ihren persuasiven Organoncharakter. Um es mit Blumenberg zu sagen: Die Rhetorik ist »der Inbegriff dessen, was den consensus praktischer Axiome durch Überredung und Selbstüberredung ausmacht […].«Footnote 12 Solche Rhetorik ist instrumentelle Hilfsvernunft in dürftiger Zeit.

II.

Hauptteil – Rhetorik als literaturtheoretische Praxis

In den rhetorical turn fügen sich Poststrukturalismus und Dekonstruktion in noch näher zu bestimmender Weise ein. Das Interesse der Nouvelle Critique an der Rhetorik als einer Metasprache und die Versuche der modernen Linguistik, die rhetorische Formensprache strukturalistisch neu zu begründen, sind zwar früh beobachtetFootnote 13, aber selten zusammenhängend aufgearbeitet worden. Vielmehr wurde die Rhetorikrezeption in Post- bzw. Neostrukturalismus im Zuge der Rhetorikrenaissancen der 60er und 70er-Jahre im deutschen Raum entweder »summarisch« abgehaktFootnote 14 oder als »intellektuelle Mode«Footnote 15 abgetan. Darstellungen, die die antike Rhetorik als »Vorläufer der Textlinguistik« ernst nehmen, bleiben auf die deutschsprachige Forschungslandschaft begrenzt und sparen neben poststrukturalistischen und diskursanalytischen Ansätzen selbst Roland Barthes aus.Footnote 16 Nach einem gedrängten Forschungsbericht über die Poetik- und Rhetorikentwicklung in Frankreich seit 1945Footnote 17 und einem einschlägigen Artikel zur Dekonstruktion im Historischen Wörterbuch der RhetorikFootnote 18 ist es erst Martina Wagner-Egelhaaf, meiner Vorgängerin auf der Bochumer Professur für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, insbesondere Literaturtheorie und Rhetorik, gelungen, die »Spiel-Arten poststrukturalistischer Rhetorik«Footnote 19 im Anschluß an Nietzsches Sprachkritik im Blick auf Barthes, de Man, Foucault und Judith Butler (aber unter Aussparung Derridas) zusammenhängend zu umreißen. Als Gemeinsamkeiten von Rhetorik und Poststrukturalismus werden dabei die »Medialität der Sprache« und ein »nichtessentialistische[r] Denkansatz« akzentuiert.Footnote 20 Doch hatte freilich schon Saussure mit seinem Fazit, »daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt« (»que dans la langue il n’y a que des différences«), von »Substanz« auf »Form« umgeschaltetFootnote 21, d.h. entschieden nichtessentialistisch argumentiert – ein kritischer Denkansatz, der, wie gerade Derrida betont hat, den »differentiellen und formellen Charakter der semiologischen Funktionsweise«Footnote 22 hervorhob, den Zeichenbegriff entsubstanzialisierte und ihn gegen die metaphysische Tradition ausspielte. Derrida greift diesen Grundgedanken Saussures auf und radikalisiert ihn. Das ist der Grund, warum Manfred Frank nicht von Post-, sondern vielmehr von Neostrukturalismus spricht.Footnote 23

Das Rhetorikverständnis der zuvor genannten Ansätze steht teilweise, aber doch nicht ausschließlich in der Diskurstradition von Nietzsches Rhetorik. Das will ich im Blick auf Jacques Derrida, Paul de Man und Roland Barthes kritisch zu erläutern versuchen. Dabei ist zwar die »Metapher ein sicheres Anzeichen für das Wiederauftauchen der Rhetorik«Footnote 24 nach ihrem ›Schiffbruch‹ im 18. und 19. Jahrhundert, sie ist aber nur eines der Anzeichen, und vor allem: sie ist ›sicheres Anzeichen‹ vor allem für ein nur restringiertes Rhetorikverständnis.

1. Metapher – Jacques Derrida

Anders als der Literaturwissenschaftler Paul de Man herausstellen wird, daß im Blick auf die Bildlichkeit der Sprache alle Philosophie in dem Maß, wie sie von ›uneigentlicher‹ Sprache abhängt, verurteilt ist, literarisch zu sein und umgekehrt: alle Literatur philosophisch istFootnote 25, zielt der Philosoph Jacques Derrida darauf, zu erweisen, daß jede Philosophie in erster Linie nicht wegen ihrer Metaphorik literarisch ist, sondern weil sie Katachresen, d.h. Fälle, wo ein verbum proprium fehlt (wie z.B. bei ›Motorhaube‹, ›Tischbein‹, ›Atomkern‹ oder ›Grund‹ etc.), nicht vermeiden könne. In einem Interview mit Derrida heißt es dementsprechend: »I have always tried to expose the way in which philosophy is literary, not so much because it is metaphor but because it is catachresisFootnote 26 Die Philosophie ist nicht deswegen literarisch, weil sie metaphorisch, sondern weil sie katachretisch ist. Die Katachrese, d.h. der Fall der verblaßten Metapher bzw. der Fall, wo die Metaphorizität der Wendung nicht mehr bewußt ist, bezeichnet keinen Mißbrauch der Sprache, keine abusio, sie repräsentiert keinen Sonderfall, sondern die Katachrese repräsentiert den sprachlichen Regelfall unvermeidbarer rhetorischer Bildlichkeit. Hierin besteht die Rhetorizität, d.h. die nicht hintergehbare Figuralität jeder Rede. Mit solcher »Latenz der Rhetorik in der Philosophie«Footnote 27 übt die Rhetorik mit ihrer, wie Nietzsche bei seinem rhetorischen Gewährsmann Gustav Gerber lesen konnte, »unreinen Vernunft«Footnote 28 eine späte Revanche an dem Rhetorikverdikt durch die Philosophie Platons. Bei allen Gattungsunterschieden zwischen Philosophie und Literatur konvergieren beide Redearten bzw. ›Diskursuniversen‹ darin, jeweils aus »Gruppe[n] von Texten«Footnote 29 zu bestehen.

Die Dekonstruktion der Unterscheidung zwischen verba propria und verba translata betreibt Derrida in dem großen Aufsatz La mythologie blanche. La métaphore dans le texte philosophique. Es ist bezeichnend, daß dieser Aufsatz zuerst in dem Schwerpunktheft Rhétorique et philosophie der Zeitschrift Poétique (no 5, mars 1971) erschien, das durch die auszugsweise Übersetzung von Nietzsches Vorlesung Darstellung der antiken Rhetorik aus dem Sommersemester 1874Footnote 30 durch Jean-Luc Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe unter dem Titel Rhétorique et langageFootnote 31 die französischen Intellektuellen erstmals mit Nietzsches rhetorischen Anschauungen konfrontierte – bevor diese per ›Huckepackrezeption‹ in den deutschen Raum reimportiert wurden.Footnote 32 Schon der Publikationsort markiert »[d]en nietzscheanischen Hintergrund«Footnote 33 der Argumentationsrichtung Derridas und konfrontiert mit der methodologischen Prämisse, daß auch die Bedeutung poststrukturalistischer Texte aus der situativen Konstellation heraus gelesen bzw. interpretiert werden muß, in der diese Texte geäußert und nicht nach Maßgabe dekontextualisierender Sammelbände, in denen sie wiederholt werden.

Nietzsche destruiert in seiner Rhetorikdarstellung, die einen dichten Intertext aus seinerzeitiger Sprachphilosophie (u.a. Gustav Gerber) und altphilologischer Rhetorikforschung (u.a. Richard Volkmann) webtFootnote 34, die Vorstellung einer ›Normalsprache‹, die der Unterscheidung zwischen wörtlicher und davon abweichender, d.h. rhetorischer Sprachverwendung zugrunde liegt. Demgegenüber macht Nietzsche unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die in der Sprache liegende »Kraft« (δύναμις [dynamis], vis) geltend, »daß die Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist« und es daher »gar keine unrhetorische ›Natürlichkeit‹ der Sprache, an die man appelliren könnte« bzw. keine »›eigentliche Bedeutung‹, die nur in speziellen Fällen übertragen würde«, gibt. In der Sprache ist »alles Figuration«, so daß der klassischen Auffassung, eine metaphorische Redeweise sei bloßer »Schmuck« (ornatus), mit einem folgenreichen Zitat Jean Pauls, wonach »›jede Sprache in Rücksicht geistiger Beziehungen ein Wörterbuch erblaßter Metaphern‹« sei, widersprochen wird.Footnote 35

Dieser Vorgabe folgt Derrida, insofern er unter Berufung auf eine »énergie tropique« den Doppelsinn des französischen Worts »usure«Footnote 36, das gleichermaßen ›Wuchern‹ und ›Abnutzung‹ bedeutet, nutzt, um das Wuchern abgenutzter Metaphern, d.h. der Katachresen in philosophischen Texten herauszustellen. Zur Veranschaulichung greift er auf ein beziehungsreiches Beispiel der Literatur zurück. In dem Dialog Le Jardin d’Épicure (1894) von Anatole France war die Metaphysik als »mythologie blanche« bezeichnet worden, weil die Philosophen mit ihrer Begrifflichkeit Scherenschleifern glichen, die z.B. Münzen solange schliffenFootnote 37, bis der besondere Prägestempel, d.h. das ursprüngliche Sprachbild, verblasse und nur mehr blankes Metall, also der abstrakte philosophische Begriff, der den Logos der abendländischen Kultur bildet, sichtbar übrigbliebe. Dieser Vergleich, der als Allegorie der Katachrese fungiert, ist der Ausgangspunkt für Derridas Aufweis einer »metaphorischen Aktivität im theoretischen und philosophischen Diskurs«.Footnote 38 Die Interpretation der literarischen Textstelle wird mit Nietzsches nachgelassener Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne verknüpft. Die zentralen Tropen dieser Schrift umrahmen die anschließenden Auseinandersetzungen mit einschlägigen Theoretikern (von Aristoteles bis zu den französischen Klassikern der rhetorischen Tropen- und Figurenlehre, Du Marsais [1676–1756] und Fontanier [1765–1844], die Genette kurz zuvor, 1967 und 1968, erst wieder zugänglich gemacht hatte). Sie führen zu dem Ergebnis, daß Metapherndefinitionen stets in neue Metaphern einmünden. Nietzsches Operationen, die aufdecken, daß Wahrheiten Metaphern, die »abgenutzt« bzw. Münzen, die ihr Bild verloren haben, sind, mithin der wissenschaftliche Begriff eine »Begräbnisstätte der Anschauung« istFootnote 39, sind nur unter der Voraussetzung einer »Kontinuität zwischen Metapher und Begriff« denkbar, sodaß das Begreifen der Metapher nicht zur Begrifflichkeit zurück-, sondern wie in einer mise en abyme nur weiter in die »Metaphoriziät des Begriffs« hineinführt.Footnote 40

2. Rhetorizität – Paul de Man

Paul de Man, um den es im Theoriezirkus der vergangenen Jahre unter dem Vorwand seines ›Wartime Journalism‹Footnote 41 und aufgrund der Verkulturwissenschaftlichung der Literaturwissenschaft still geworden ist, gilt als einer der führenden Vertreter der Dekonstruktion. Zutreffender wäre, seine Herangehensweise als ›rhetorische Lektüre‹ zu bezeichnenFootnote 42, da seinem Ansatz ein rhetorisches Apriori zugrunde liegt. Unterstellt wird eine unhintergehbare Rhetorizität von Texten, wobei de Man nicht zögert, die rhetorische, d.i. für ihn immer: bildliche Macht der Sprache mit Literatur selbst gleichzusetzen.

Dadurch, daß er de Mans Sammelband Allegorien des Lesens eröffnet, bekommt der Aufsatz Semiologie und Rhetorik eine programmatische Stellung.Footnote 43 Die Argumentation verfolgt eine Art binomischer Spaltungsrhetorik, insofern eine Reihe von Unterscheidungen vorangetrieben werden: Außen/Innen, Semantik/Semiologie, Grammatik/Rhetorik, buchstäbliche Bedeutung/figurative Bedeutung. Die einzelnen Unterscheidungen, die einer dissoziativen Rhetorik folgen, zielen darauf, jeweils das linke (Außen, Semantik, Grammatik, buchstäbliche Bedeutung) zugunsten des rechten Unterscheidungsglieds (Innen, Semiologie, Rhetorik, figurative Bedeutung) abzuwerten und im Sinne einer dekonstruktiven Lektüre zu eliminieren.

Gleich eingangs wird eine Innen/Außen-Metapher genutzt, um verschiedene literaturwissenschaftliche Ansätze scheinbar bloß zu typisieren, tatsächlich jedoch mit Hilfe der Unterscheidung zu werten und zu hierarchisieren, d.h. ›außerliterarische Wege‹ gegenüber ›innerliterarischen Methoden‹ der Literaturwissenschaft diskriminieren zu können. Die Unterscheidung selbst übernimmt de Man aus Wellek/Warrens Theory of Literature (1949).Footnote 44 Einige Literaturwissenschaftler setzten auf die »Relevanz« der Literatur, betrieben also eine Art ›Innenpolitik‹, insofern sie innere Gesetze und die innere Ordnung literarischer Werke untersuchen, d.h. sich auf die »internen, formalen und privaten Strukturen der literarischen Sprache« (31–32) konzentrierten. Als Beispiel hierfür wird der New Criticism mit seinem ›close reading‹ genannt. Andere Literaturwissenschaftler setzten auf »Referenz«, betrieben also eine Art »Außenpolitik der Literatur« (31), insofern das literarische Werk mit seinem »nichtsprachliche[n] Außen« in Verbindung gebracht und nach seinen »externen, referentiellen und öffentlichen Wirkungen« befragt würde (32).Footnote 45

Obwohl de Man vorgibt, keine der beiden Positionen bewerten zu wollen, verrät doch eine Analogie, was er von dem letztgenannten Literaturverständnis hält, indem er eine diätetisch-hygienische Passage aus Prousts Recherche-Roman nutzt, ein solches Literaturverständnis lächerlich zu machen. So wie die Großmutter den jungen Marcel, schreibt de Man, »unablässig aus dem ungesunden Innenraum seines eingeschlossenen Lesens hinaus in den Garten treibt, so rufen die Literaturwissenschaftler nach der frischen Luft der referentiellen Bedeutung.« (33) Obwohl de Man Wertungsenthaltung predigt, praktiziert doch sein Text das Gegenteil. Ich wende hier seine Methode, die übertragene gegen die buchstäbliche Bedeutung zu kehren, auf ihn selbst an. Die Passage bietet nämlich ein gutes Beispiel für jenes im Text später, ebenfalls an einer Proust-Passage herausgearbeiteteFootnote 46 Gegeneinander von ›Predigt‹ und ›Praxis‹. Als Resultat einer »rhetorischen Lektüre« (45), genauer: der figuralen ›Lektüre‹ einer sommerlichen Leseszene, die de Man in dem Aufsatz Lesen (Proust)Footnote 47 ausführlicher vollzieht, hält er fest, daß die im Text behauptete »Vorherrschaft der Metapher über die Metonymie ihre Überzeugungskraft dem Gebrauch metonymischer Strukturen verdankt« (45). Dieses Diskrepanzmuster (»pattern of discrepancy«Footnote 48), daß Prousts figurative Praxis und seine metafigurative Theorie nicht konvergieren, faßt de Man in die Faustformel, »daß der Text nicht praktiziert, was er predigt.« (45)

Gepredigt wird Wertungsenthaltsamkeit im Blick auf den Vergleich zwischen ›referentiellen‹ und ›relevanten‹ literaturwissenschaftlichen Ansätzen, tatsächlich wird die methodologische Richtung, die ein Außerhalb des Textes unterstellt, jedoch mit Hilfe einer Figur ridikülisiert, insofern die Vertreter einer solchen Literaturwissenschaft mit Prousts vitalistischer ›Großmutter‹ in Analogie gesetzt werden.

Schlägt man die Stelle bei Proust nach, wird überdies deutlich, daß de Mans Lektüre der Großmutterpassage ungenau ist. Unterschlagen wird nämlich, daß im Unterschied zu de Mans Umschreibung, die die Großmutter sprechen läßt, die Passage bei Proust vielfach gebrochen ist, insofern es sich um die in Ich-Form niedergeschriebenen Erinnerungen Marcels handelt, Vergangenes mithin aus seiner Perspektive vergegenwärtigt wird, wobei die Erinnerung nicht der Großmutter selbst gilt, sondern vielmehr einem Konflikt, in dem sich der Vater, der den Jungen bei Regen immer zum Lesen in den Salon schickt, und die Großmutter gegenüberstehen, die den Vater gemahnt: »›Ce n’est pas comme cela que vous le rendrez robuste et énergique, disait-elle tristement, surtout ce petit qui a tant besoin de prendre des forces et de la volonté.‹«Footnote 49 Erst dadurch, daß de Man sowohl die Perspektivierung als auch den Konflikt zwischen Vater und Großmutter ignoriert und stattdessen die Stimme der Großmutter unmittelbar an den jungen Marcel richten läßt, greift seine Analogie, mit der die Literaturwissenschaftler dadurch lächerlich gemacht werden, weil sie wie die Großmutter »nach der frischen Luft der referentiellen Bedeutung« riefen.

In einem zweiten Schritt wird die Priorisierung der Sprache gegenüber der Bedeutung, der Ausdrucks- gegenüber der Inhaltsebene, das Wie gegenüber dem Was, mit der Semiologie auf den Begriff gebracht, da sie gegenüber einer »themenorientierten Literaturwissenschaft« (35) – gedacht wird wohl an die thematologisch orientierte Komparatistik der Pariser Schule mit ihren Themen‑, Stoff- und Motivvergleichen, der auch die Kritik des jungen Roland Barthes galt – für »semiologische Hygiene« (35) gesorgt habe. Gemeint ist mit dieser nicht unproblematischen Wendung, die eine Reinheitsideologie impliziert, daß die Semiologie mit ihrer Bezugnahme auf die Ausdrucksebene der Signifikanten (»signs as signifiers«Footnote 50; die deutsche Übersetzung verdreht die Bedeutung der Stelle, wenn es hier fälschlich »Zeichen als Signifikate« heißt) die favorisierte Priorisierung der Sprache gegenüber der Bedeutung ratifiziert, da sie nicht danach fragt, »was Wörter bedeuten, sondern wie sie bedeuten.« (34)

Die entscheidende, im Aufsatztitel genannte Differenz zwischen Semiologie und Rhetorik wendet de Man nun gegen die zuvor eigens herausgestellte puristische ›Hygiene‹ der Semiologie selbst, da diese nur die grammatische, nicht jedoch die rhetorische Dimension der Sprache berücksichtige.Footnote 51 Diese Bruchstelle ähnelt Ricœurs Unterscheidung zwischen semiotischer Erklärung und semantischer Interpretation, die bei ihm freilich zu einem ›hermeneutischen Bogen‹ zusammengespannt (s.u. Exkurs) und nicht wie bei de Man gegeneinander ausgespielt werden. Im Blick auf die Figur der rhetorischen Frage spielt de Man eine »Epistemologie der Grammatik«, der die Semiologie verhaftet bliebe, gegen die »Epistemologie der Rhetorik« aus, da – wie an zwei Beispielen herausgearbeitet wird – »ein vollkommen klares syntaktisches Paradigma (die Frage) […] einen Satz [erzeugt], der mindestens zwei Bedeutungen hat, von denen die eine ihren eigenen illokutiven Modus bejaht und die andere ihn verneint.« (39) Dafür, daß bei der rhetorischen Frage durch einen Fragesatz eine forcierte Aussage erfolgt, wird neben dem abschließenden Vers aus der letzten Strophe von William Butler Yeats’ Gedicht Among School Children (»How can we know the dancer from the dance?«) die amerikanische Sitcom-Figur Archie Bunker bemüht, der von seiner Frau gefragt, ob er seine Bowling-Schuhe drüber oder drunter geschnürt haben wolle, barsch mit der Frage »›Was is’ der Unterschied?‹« seiner Frau zum Ausdruck bringt, daß er auf den ausführlich erläuterten Unterschied pfeift (38 f.).Footnote 52 In beiden Fällen kann die Frage buchstäblich oder figurativ gelesen bzw. verstanden werden, ohne daß aufgrund der Syntax entschieden werden könne, welche Lektüre bzw. Interpretation die richtige sei. Aufgrund dieser Unentscheidbarkeit begreift de Man Rhetorik als »radikale Suspendierung der Logik« und zögert nicht, diese »rhetorische, figurative Macht der Sprache mit der Literatur selber gleichzusetzen.« (40) Deutlich wird hier de Mans Verkürzung des Rhetorikverständnisses auf »figural language«, d.h. auf den Ausschnitt der Tropen- und Figurenlehre im Rahmen der (Mikro‑)Ebene der elocutio – ein Verständnis, das auch explizit herausgestellt wird: »Tropen und Figuren (sie sind es, die der Begriff Rhetorik hier bezeichnet, und nicht die abgeleiteten Bedeutungen von Erläuterung, Redegewandtheit und Überredung)« (35). Wenn also Bender/Wellbery, wie eingangs problematisiert, für die Moderne Rhetorizität statt Rhetorik reklamieren, folgen sie den Spuren, die de Man hier gelegt hat.

3. Rhetorik – Roland Barthes

Einen anderen Weg, der zur ›Rückkehr in die Rhetorik‹ führt, schlägt Roland Barthes ein. Daß Rhetorik komplexes Wissen über Rede bereitstellt, macht sie wissenschaftsgeschichtlich gesehen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Entwicklung der modernen Sprachwissenschaft, namentlich des Strukturalismus in Frankreich, überaus attraktiv. Im Blick auf die Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Theoriebeschleunigung im »Lichtjahr 1966«Footnote 53 erscheint es mir – zumal im Blick auf die zeitversetzte deutsche Rezeption – nicht sinnvoll zu entscheiden, ob im Folgenden bei Barthes noch strukturalistisch oder schon neo- bzw. poststrukturalistisch gedacht wird. Verdeckte Zusammenhänge würden sonst unsichtbar bleiben.

Gerade die Auseinandersetzung mit der Rhetorik zeigt, daß die verschiedenen Phasen von Barthes’ Werk bis hin zur späten Leçon stets zu einem Ausgangspunkt zurückführen, mit dem die »Rhetorik«Footnote 54 des bürgerlichen Mythos früh konfrontierte. Barthes faßt in den Mythen des Alltags im Anschluß an Louis Hjelmslevs Konnotationssemiotik den Mythos formal als »ein sekundäres semiologisches System« (92), dessen ideologische Leistung darin besteht, »Geschichte in Natur« zu verwandeln (113). Das hier aufgestellte Modell (Abb. 1), daß das Zeichen des ersten Systems zum Signifikanten eines zweiten, ›parasitären‹ Systems (im Sinne Derridas) wird, ist für die weitere Theoriebildung grundlegend, subvertiert das Monoseminierungspostulat der, wie Barthes allzu leichtfertig schreibt, »Philologen« und ermöglicht, so Barthes, »dem Text, als Spiel zu funktionieren«.Footnote 55 Die »Konnotatoren«, d.h. die Zeichen des zugrundeliegenden Denotationssystems bilden die »Rhetorik«, die Konnotationssignifikate die »Ideologie« des sekundären semiotischen Systems. Das Ensemble aller Konnotatoren, das Barthes mit dem Wort »Rhetorik« bezeichnet, fungiert als Ausdrucksebene des ideologischen Inhalts.Footnote 56 Berühmt ist das Beispiel des salutierenden schwarzen Kindersoldaten auf dem Titelbild von Paris Match (Abb. 2)Footnote 57, das für weitere rhetorische BildanalysenFootnote 58, insbesondere der Reklame der »italianité« verheißenden Panzani-Spaghetti (Abb. 3), modellbildend wird. Das Titelbild von Paris Match denotiert, wie ein »junger Neger« in französischer Uniform vor der (von Barthes offensichtlich hinzuimaginierten) Trikolore salutiert. »Das ist der Sinn des Bildes. Aber […] ich erkenne sehr wohl, was es mir bedeuten soll« (95). Konnotiert wird die Unterwerfung der Kolonialisierten zum Kolonialismus des französischen Imperiums. Die rhetorische Bildanalyse entdeckt, wie die buchstäbliche zum Träger einer symbolischen Botschaft wird.Footnote 59 Die ausführlichen Analysen des rhetorischen Systems der ModeFootnote 60 sind noch ganz diesem früh entwickelten Modell verpflichtet.

Abb. 1
figure 1

Schema aus Roland Barthes, Mythologies, Paris 1957, 200

Abb. 2
figure 2

Paris Match, No 326, 25 juin–2 juillet 1955 [Titelblatt]. Vgl. Barthes, Mythologies, 201 [die Abb. selbst ist in Mythologies nicht wiedergegeben]. [Textfeld rechts unten:] Les nuits de l’armée. Le petit Diouf est venu de Ouagadougou [die Hauptstadt des heutigen Burkina Faso] avec ses camerades, enfants de troupes d’A.O.F. [Afrique-Occidentale française, bis 1958 die Bezeichnung für die Föderation der französischen Kolonien in Westafrika], pour ouvrir le fantastique spectacle que l’Armée française présente au Palais des Sports cette semaine.

Abb. 3
figure 3

Roland Barthes, »Rhétorique de l’image«, Communications 4 (1964), 40–51, hier: zwischen 49/50

Die Bezeichnung ›Rhetorik‹ bleibt in den frühen ideologiekritischen Studien jedoch noch vage und wird von Barthes mit der Rhetorik-Tradition erst in einer signifikanten Situation verbunden, die sich im Zuge der diskursanalytischen Bemühungen Mitte der 60er-Jahre ergab. Nachdem der französische Sprachwissenschaftler Émile Benveniste in seinem grundstürzenden Aufsatz über »Die Ebenen der linguistischen Analyse« (frz. 1964) herausgestellt hatte, daß ein Satz zwar Zeichen enthalte, selbst jedoch kein Zeichen sei, d.h., es keine »Phraseme« gebe, »die zueinander in Opposition treten könnten«Footnote 61, suchte man theoretisches Rüstzeug, den für die semiotische Analyse der Linguistik unüberschreitbaren Satzrahmen verlassen und großräumigere Einheiten des Diskurses ins Auge fassen zu können.

Exkurs: Benvenistes hermeneutisches Erbe – Ricœur

Die 1964 postulierte Erweiterung des eindimensionalen Linguistik-Modells Saussures hat Benveniste 1969 in einem Artikel, mit dem die Zeitschrift Semiotica ihr Erscheinen eröffnete, programmatisch wiederholt und vertieft. Gegen Saussures »Semeologie«Footnote 62 postuliert Benveniste eine »sémiologie de ›deuxième génération‹«, in der eine Semiotik des Zeichens durch eine von ihr durch eine Kluft (»un hiatus«) getrennte Semantik des Diskurses ergänzt wird, weil die Sprache (»langue«) im Unterschied zu anderen Zeichensystemen zwei unterschiedliche Arten der Bedeutungszuweisung (»signifiance«) kombiniert, und zwar eine semiotische, die sich auf das Zeichen (»signe«), und eine semantische, die sich auf den Diskurs (»discours«) bezieht. Benveniste spricht von einer »DOUBLE SIGNIFIANCE«, die zwei unterschiedliche methodologische Instrumente erfordert: »Le sémiotique (le signe) doit être RECONNU: le sémantique (le discours) doit être COMPRIS.«Footnote 63 Während die Welt der Semiotik durch die »distinctivité« ihrer Elemente gekennzeichnet ist, wird die Ordnung des Semantischen durch den Äußerungsakt (»l’énonciation«) bestimmtFootnote 64, dessen Bedeutung Benveniste in einem eigenen AufsatzFootnote 65 akzentuiert hatte. Aufgrund dieser linguistischen Zwei-Welten-LehreFootnote 66 bleiben die von Saussure herausgestellte Differenzialität des Zeichens und die damit verbundenen klassifikatorischen Operationen – das, was Barthes in seiner ›harten‹ strukturalistischen Phase als »Arthrologie«, d.h. als ›neue‹ »Wissenschaft der Teilungen«Footnote 67, bezeichnet hat – auf die geschlossene Welt der Semiotik beschränkt. Ein Satz bildet keine formale Klasse, die – wie schon zitiert – Phraseme, »die zueinander in Opposition treten könnten«, als Einheiten hätte, ein Satz bezieht sich vielmehr auf eine »Situation«.Footnote 68

Im Gegensatz zu Derrida, dessen Begriff der différance, der Kontamination aus différence und différant, dem Partizip Präsens von différer (dt.: aufschieben)Footnote 69, dem »systematische[n] Spiel der Differenzen«Footnote 70 verhaftet bleibt, zieht Ricœur aus Benvenistes Vorgabe einer ›DOUBLE SIGNIFIANCE‹ die Konsequenz, Erklärung und Interpretation »in einen einzigen hermeneutischen Bogen«, in dem semiotische Erklärung und semantisches Verstehen zusammengespannt sind, zu integrieren.Footnote 71 Dieser hermeneutische Grundsatz entspricht vollkommen den beiden linguistischen Ebenen, die Benveniste zu unterscheiden gelehrt hatte: »Avec le signe, on atteint la réalité intrinsèque de la langue; avec la phrase, on est relié aux choses hors de la langue; et tandis que le signe a pour partie constituante le signifié qui lui est inhérent, le sens de la phrase implique référence à la situation de discours, et à l’attitude du locuteur.«Footnote 72

Ricœur hält Benvenistes Unterscheidung von Semiotik und Semantik für absolut fundamental und wirft Derrida in der Diskussionsrunde eines Philosophenkongresses 1971 entsprechend vor, daß er die zwei Ebenen in seiner Theorie der Schrift vermische und semantische Probleme mit semiotischen Mitteln zu lösen versuche.Footnote 73 Tatsächlich versucht Derrida in seiner Auseinandersetzung mit Ricœur mit der Suspendierung des linguistischen Zeichenbegriffs (signe) zugunsten des weitgefaßten Terms marque, bei dem die Iterabilität als Charakteristikum von Schrift akzentuiert wird, gerade den Hiatus zwischen semiotischer und semantischer ›Welt‹ zu unterlaufen bzw. zu verwischen.Footnote 74

Dabei nennt Ricœur gegenüber den verwirrenden Äquivokationen, die mit dem Gebrauch der Worte ›Diskurs‹ und ›Text‹ verbunden sindFootnote 75, »jeden schriftlich fixierten Diskurs Text«Footnote 76 und präpariert die Unterschiede zwischen mündlicher Rede und ihrer schriftlichen Fixierung (»écriture«) im Unterschied zu der relativ pauschal bleibenden Behauptung Derridas, daß die Schrift nicht als Modifikation präsentischer Rede gefaßt werden könne, mit sprechakttheoretischem Besteck minutiös heraus.Footnote 77 Entsprechend macht Ricœur gegen Derridas pantextualistischen Hauptsatz »Il n’y a pas de hors-texte.«Footnote 78 in enger Anlehnung an Benvenistes Akzentuierung des Äußerungs- bzw. Sprechakts früh geltend, daß die Wörter (»mots«) den Punkt bilden, »an dem sich in jedem Wortereignis (évenement de parole) das Semiologische mit dem Semantischen verschränkt«, die Rede das Wort mit einem »neuen Gebrauchswert bereichert« und dadurch, daß es sich wieder in das System der Zeichen eingliedert, »ihm eine geschichtliche Prägung« gibt.Footnote 79 Nur aufgrund einer solchen »Dialektik des Zeichens«, d.h. der eben herausgestellten »Austauschbeziehung zwischen Struktur und Ereignis« könne man das Phänomen der Polysemie, namentlich Prozesse der Sinnübertragung, also die Metapher, verstehen.Footnote 80

Mit der Metapher ist trotz der Unterschiede ein Konvergenzpunkt erreicht, der Ricœurs Hermeneutik und Derridas Neostrukturalismus verbindet, zugleich aber beide Ansätze im Gegensatz zu Barthes einer, um eine Formel Genettes aufzugreifen, ›restringierten Neorhetorik‹ zuordnet.

»Die Linguistik«, heißt es bei Barthes im Anschluß an Benvenistes Vorgabe, »kann sich also keinen satzüberschreitenden Gegenstand vornehmen, da jenseits des Satzes immer wieder nur andere Sätze liegen. Nachdem der Botaniker die Blume beschrieben hat, kann er sich nicht um die Beschreibung des Blumenstraußes kümmern.«Footnote 81 Bei der Suche nach einer transphrastischen Diskurslinguistik stößt Barthes nun auf die alte Rhetorik: »Diese Diskurslinguistik trug lange Zeit einen glanzvollen Namen: Rhetorik; aber da die Rhetorik infolge historischer Verschiebungen auf die Seite der schönen Literatur geraten war […], mußte das Problem vor kurzem erneut aufgegriffen werden: die neue Diskurslinguistik ist noch nicht entwickelt, wird aber zumindest von den Linguisten selbst gefordert.«Footnote 82 Hatte Barthes vorher nur oberflächlich von ›Rhetorik‹ gesprochen, wird er hier nun begrifflich konkret, und zwar indem er über die Verdünnung der Rhetorik zur literarischen Stillehre, durch die sie ›auf die Seite der schönen Literatur geraten war‹, auf die ›alte Rhetorik‹ zurückgreift. Das Rhetorikinteresse im Frankreich der 60er-Jahre war von dem Ungenügen motiviert, daß die langue-fixierte strukturalistische Systemlinguistik nicht gerüstet war, »d’établir un code de parole«.Footnote 83 Gegenüber dem abstrakten Sprachsystem tritt damit das Sprechen, die historisch greifbare Rede in den Vordergrund. Mit dem Rückgriff auf das damit verbundene Analysewerkzeug der Rhetorik eröffnete sich die Chance einer Translinguistik des Diskurses, der Gérard Genette den Titel einer ›neuen Rhetorik‹ verleiht: »Hier ergäbe sich eine Linguistik des Diskurses, die eine Translinguistik wäre, denn die Sprachphänomene würden in ihren Großformen erscheinen [...], d.h. im Grunde wäre sie eine Rhetorik. Jene ›neue Rhetorik‹ [...], die uns noch immer fehlt.«Footnote 84

Dies ist der historische Augenblick, der dazu führt, daß Roland Barthes die Arbeitsnotizen für ein bereits 1964/65 gehaltenes Rhetorik-Seminar an der École Pratique des Hautes Études zu jenem Abriß über Die alte Rhetorik für das 1970 publizierte Themenheft Recherches rhétoriques der Zeitschrift Communications (Nr. 16/1970) ausarbeitet, in dem Begriff, Geschichte und System der Rhetorik äußerst komprimiert dargestellt sind. Der Abriß suggeriert mit seiner peniblen Abschnittsnummerierung (von »0.1« bis »B.3.11«) große Systematik.Footnote 85 Tatsächlich folgt die Gliederung einschlägiger Aufsatzlehre (Abb. 4: Dispositionsschema). Sie ist klassischerweise dreiteilig: Einleitung (15–19), Hauptteil (19–94), Schluß (94–95), wobei der Hauptteil seinerseits in zwei Teile – narratio und confirmatio – untergliedert ist: »A«: die Diachronie der rhetorikgeschichtlichen »Reise« (19–49) und »B«: die Synchronie des systemrhetorischen »Netz[es]« (49–94). Der Text unterwirft sich einerseits der normativen Codierung der Rede, wie sie die rhetorische Produktionsphase der dispositio lehrt, und stellt sie andererseits dadurch zugleich ironischerweise aus.

Abb. 4
figure 4

Dispositionsschema zu Roland Barthes, Die alte Rhetorik. Ein Abriß [entst. 1964/65; ED frz. 1970], in: Ders., Das semiologische Abenteuer [frz. 1985], Frankfurt a.M. 1988, 15–101 [CZ, 17-03-2022]

Das exordium bietet neben einer außerhalb der Nummerierung stehenden Vorbemerkung, die den Gelegenheitscharakter der vorgelegten Rhetorikübersicht konzediert und deren Quellen benennt, drei Abschnitte. Zunächst wird die Rhetorik in umfassender Weise als eine sechs Praxisbereiche umfassende »Metasprache« (16) definiert, die je epochenspezifisch die Rede kodiert bzw. normiert hat, und zwar als Technik, Unterricht, Wissenschaft, Moral, soziale Praxis und subversives Spiel (vgl. 16–17). Diese Extension des Rhetorikbegriffs unterscheidet Barthes gleichermaßen signifikant vom Rhetorikverständnis der gleichzeitigen strukturalistischen und der späteren poststrukturalistischen elocutio-Rhetoriken, die entweder versuchten, das System der Figuren auf der Grundlage semiotischer, linguistischer, pragmatischer und ästhetischer Erkenntnisse neu zu konstituierenFootnote 86 oder aber die Rhetorik schlechthin, wie wir gesehen haben, auf Probleme der Figuralität (Paul de Man) oder Metaphorik (Jacques Derrida) zu reduzieren. Durch die Akzentuierung der Rhetorik als einer »gesellschaftliche[n] Praxis«, »die es den herrschenden Klassen erlaubte, im Besitz des Sprechens zu bleiben« (17)Footnote 87, nähert Barthes seine Überlegungen der Diskursanalyse Foucaults an, wobei Barthes vor allem an den »›obligatorischen Rubriken‹« der Sprache interessiert ist, die dazu zwingen, »auf eine bestimmte Art zu denken« und nicht nur an den »Ausschließungen«, die den Diskurs kanalisieren.Footnote 88 Barthes’ spätere Formel, daß die Sprache »ganz einfach faschistisch« sei – »denn Faschismus heißt nicht am Sagen hindern, es heißt zum Sagen zwingen«Footnote 89 –, wird in der frühen Auseinandersetzung mit der Rhetorik ausgeprägt. In dieser Faschismusdefinition, die den Faschismus an den Zwang zum ›Sagen‹ (»dire«) bindet, klingt noch die Foltererfahrung der Résistance nach, die die französischen Intellektuellen trotz aller strukturalistischen oder poststrukturalistischen Distanznahmen von Jean-Paul Sartre nicht vergessen hatten.

Anschließend wird dieses Diskursregime von Barthes als ein »Reich« bezeichnet, das die »taxonomische Identität« des Abendlands zweieinhalb Jahrtausende beherrscht habe (18), und daraufhin in der partitio die weitere Gliederung der Ausführungen, die die Rhetorik als ein »›Programm‹ zur Diskurserzeugung« (19) entfalten sollen, vorgestellt. Diese kybernetische Umschreibung ist einerseits treffend, andererseits schattet sie jedoch den »Doppelcharakter aller Rhetoriklehre«Footnote 90 ab, daß eine rückwärts gelesene Rhetorik auch als Anleitung zur literarischen Hermeneutik bzw. weniger provozierend formuliert: zur Diskursanalyse genutzt werden kann – und von Barthes in seinen mythen- bzw. ideologiekritischen semiologischen Analysen ja auch benutzt worden ist.

Zu Beginn der narratio, der »Reise«, die insgesamt von der sagenhaften »Entstehung der Rhetorik« in Sizilien bis zum »Tod der Rhetorik« in der Neuzeit (durch Protestantismus, Cartesianismus und Empirismus) reicht, wird nochmals ihr Ursprung »aus Eigentumsprozessen« (19) akzentuiert. Das systemrhetorische »Netz« ordnet Barthes nach Maßgabe der fünf, der »fortschreitenden Strukturierung« (53) der Rede dienenden partes artis, wobei die Ausführungen memoria und actio aussparen. Im Blick auf die inventio liegt das Gewicht der Darstellung auf dem Enthymem, da dessen Analyse Einblick in die Funktion der »Massenkultur« gebe, insofern es sich bei der Prämisse eines Enthymems, wie mit der Figur des Parallelismus formuliert wird, »nicht um wissenschaftliche Gewißheit, sondern um das menschliche Gewisse [!]« handele (63) und die darauf basierende Schlußfolgerung nicht von der »Wissenschaft« beaufsichtigt, sondern »für das Publikum« (62) und »ungebildete Menschen« (60) ausgeführt werde. Vorbereitet wird hier mit dem von Platon herrührenden Kunstgriff der Dissoziation von ›episteme‹ und ›doxa‹, »Wissenschaft« und »Meinung der Mehrheit« (64), die im Fazit des Textes vorgenommene Gleichsetzung der Aristotelischen Rhetorik mit der »Ideologie« der »Massenkultur«, da beides, Enthymem und Massenkultur, auf der »Mehrheitsnorm« und der »gängigen Meinung« (94–95), also auf Topik beruhe.

Die peroratio des Abrisses besteht – den für die Schlußrede aufgestellten Normen des Absatzes B.2.6. (82) strikt folgend – aus vier Absätzen, in denen Barthes aus der historischen und systematischen Rekonstruktion der alten Rhetorik drei Konsequenzen für seine »gegenwärtige Arbeit« (94) zieht. Die Zusammenfassung wird von Absatz zu Absatz von einer sachlichen posita in rebus zu einer affektgeladenen posita in affektibus gesteigert. »Zunächst« steht die Überzeugung, daß die Kenntnis des »rhetorischen Codes« für die Analyse der heutigen Kultur erforderlich sei (94). »Dann« wird die Einschätzung Aristoteles’ als dem Philosophen der Massenkultur wiederholt (94–95, vgl. 63) und: »Schließlich« die Schlußpointe gezündet, in der der alten Rhetorik aufgrund des Zusammenhangs sprachlicher Reglementierung und Kodifizierung der Signifikanten mit der Eindämmung und Zähmung der brutalsten Geld‑, Besitz- und Klassenkonflikte durch den Rechtsstaat eine andere, durch Kursivierung eigens akzentuierte, »neue[ ] Praxis der Sprache unter der Bezeichnung Text oder Schreibweise« (95) gegenübergestellt wird. Auch hier, wo der repressiven Ideologie der alten Rhetorik die emanzipative Kraft einer neuen écriture entgegentritt, folgt Barthes’ rhetorische Strategie der argumentativen »Dissoziation der Begriffe«, die, wie seinerzeit Perelman aufgedeckt hatte, auf die »Herabsetzung eines bislang anerkannten Wertes« zielt.Footnote 91

Barthes’ Abriß der alten Rhetorik – erst jetzt wird die Doppeldeutigkeit des Untertitels klar, mit dem die deutsche Übersetzung ›aide mémoire‹ wiedergibt – zeichnet eine gewisse Ambivalenz aus. Einerseits wird er vom Impuls getrieben, das rhetorische Wissen für die Konstitution einer linguistique bzw. sémiotique du discoursFootnote 92 zu nutzen, andererseits ist der Abriß gerahmt von der Utopie, »der alten Praxis der literarischen Sprache […], die Jahrhunderte hinweg als Rhetorik bezeichnet wurde«, »die neue Semiotik des Schreibens [gegenüberzustellen]« (15). Rhetorik bezeichnet für Barthes ein bestimmtes historisches, als repressiv verstandenes Diskursregime, dem er ein neues, freies der écriture entgegenstellt.Footnote 93 Die berühmte Feststellung: »die Welt ist unglaublich voll von alter Rhetorik« (15) verkehrt sich dadurch zur Schreckensmeldung.

Der Zeitraum zwischen dem Rhetorik-Seminar im Winter 1964/65 und der ausgearbeiteten Publikation des Rhetorik-Abrisses 1970 übergreift Barthes’ Übergang von der strukturalistisch-szientifischen zur poststrukturalistisch-texttheoretischen Werkphase – dazwischen liegen die »Ankunft der Kristeva«Footnote 94 Ende 1965, die beiden Jahre der poststrukturalistischen Grundlagenwerke 1966/67 und das Ereignis des Pariser Mai ’68 (»la rupture de mai 68«Footnote 95) – mithin Geschichte. Barthes zielt in den rahmenden Teilen von Pro- und Epilog zwar schon auf die ›revolutionäre‹ Textur einer écriture, die jede Metasprache ›zerstört‹Footnote 96, er hält jedoch zugleich am vordekonstruktiven, von Althussers Einschnitt zwischen ›Ideologie‹ und wissenschaftlichem ErkenntnisprozeßFootnote 97 gespurten, szientifischen Gegensatz von doxa und episteme, rhetorikdurchtränkter Meinung der Massenkultur und vorgeblich rhetorikfreier Wissenschaft, fest – eine Unterscheidung, die die WissenschaftsrhetorikFootnote 98 mittlerweile geschleift hat. In einem nachmetaphysischen Zeitalter ist, was die Rhetorikrückkehren Perelmans oder Blumenbergs motiviert, ohnehin nur mit Wahrscheinlichkeiten zu rechnen.

III.

Schluß

Ungeachtet dieser Ambivalenz besteht die Leistung von Barthes’ Rhetorikabriß in zweierlei: Wiedergewonnen wird gegenüber einer »restringierte[n] Rhetorik«Footnote 99, die z.B. bei der Lütticher Groupe μ zu der paradoxen Situation führte, eine Rhétorique générale auf das System der Figuren, insbes. die Metapher, zu beschränkenFootnote 100, erstens ein umfassender Rhetorikbegriff. Mit der zentralen Einsicht, daß die Rhetorik, die das »Sprechen [...] zu kodieren« (88) versucht, die Diskurspraxis des Abendlands beherrscht, entwirft Barthes im Artikulationsmedium einer Kritik der alten Rhetorik zweitens jene Hypothese, die Michel Foucault auf die Formel bringen wird, daß jede »Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert«.Footnote 101

Obwohl die Rhetorik in Foucaults Werk ubiquitär ist, ist sie darin doch schwer zu erkennen, weil sie unter der Bezeichnung ›Diskurs‹, der nach Maßgabe machtgestützter aptum- bzw. decorum-Regeln Aussagen generiere, versteckt wird.Footnote 102 Das aptum, wie ich den weit gefaßten Begriff, der die Rede mit äußeren Kriterien in Beziehung setztFootnote 103, auffasse, reguliert, unter welchen Bedingungen bzw. in welchem Kontext was wie gesagt werden kann. Demgegenüber imaginiert Foucault, Barthes’ utopischer écriture vergleichbar, zwei Orte des Schreibens und Sprechens jenseits davon: früh die Literatur, die als »›Gegendiskurs‹« aufgefaßt wird, der gegenüber dem »rhetorische[n] Apparat« des Diskurses der Sprache ihr »rohes Sein« zurückgibtFootnote 104, spät – nachdem seine Diskursanalyse auch aus der Literatur eine sprachliche Institution wie jede andere gemacht hatteFootnote 105 – die parrhesia, d.h. die Gedankenfigur der licentia oder des Freimuts, die gegenüber der »diskursiven Welt, die ohne Sprecher rekonstruierbar ist«Footnote 106, einen Ort für die Tätigkeit philosophischen Wahrsprechens eröffnet, der die Sprecherposition, von der der Diskurs der Diskursanalyse gehalten werden kann, zu begründen vermag. Dieser Ausweis gelingt freilich nur durch das Rétablissement der von Nietzsche seinerzeit destruierten episteme/doxa-Unterscheidung, die der Platonischen Entgegensetzung von Philosophie und Rhetorik zugrunde liegt. Während für Foucault die parrhesia, d.h. die philosophische Veridiktion der Macht gegenüber steht, ist die Rhetorik für ihn bloßes Machtmittel und »eitles Gerede«.Footnote 107

Gegenüber der hegemonial wirksam gewordenen Diskursanalyse Foucaults, der sich der Etikettierung als »Strukturalist[ ]« stets widersetzt hatFootnote 108, ist Barthes’ umfassende Rückkehr in die Rhetorik vergleichsweise wenig schulbildend geworden. Gegenüber der verkappten Rhetorik bei Foucault und der Rekonstruktion der alten Rhetorik bei Barthes ist die Extension des Rhetorikbegriffs bei de Man und Derrida auf ›figural language‹ mit wenigen ›master tropes‹, insbesondere die Metapher, böse gesagt also: auf reichlich reduzierte Stilistik geschrumpft. Die These, daß alle modernen ›Rückkehren in die Rhetorik‹ auf den Begriff der Rhetorizität gebracht werden könnten, greift, das sollte die Akzentsetzung auf Barthes bezwecken, allzu kurz. Das ist ein restringierter Begriff von der Rolle der Rhetorik in der heutigen literaturtheoretischen Praxis.