Abstract
Zusammenfassung Mit dem Ausdruck „Odysseus-Anweisung“ werden dokumentierte Behandlungswünsche kompetenter Personen für Phasen einer vorübergehenden Kompetenzbeeinträchtigung bezeichnet, mittels derer diese Personen ein Handeln _gegen_ ihre Präferenzen in der vorausgesehenen Situation der Kompetenzbeeinträchtigung autorisieren. Im Zentrum der ethischen Diskussion der Odysseus-Anweisungen steht im Allgemeinen die Frage nach ihrer „moralischen Autorität“ oder „Respektabilität“. Es wird gefragt, ob Odysseus-Anweisungen moralische Autorität in dem Sinne besitzen, dass sie bei Einschlägigkeit und Anwendbarkeit in der Akutsituation ein Handeln gegen den Patientenwillen moralisch geboten machen. Im vorliegenden Beitrag wird argumentiert, dass es in der Akutsituation Gründe geben kann, _gegen_ eine einschlägige und anwendbare Odysseus-Anweisung zu handeln, da ein Handeln entsprechend einer Odysseus-Anweisung _gerechtfertigt_, aber gleichwohl _falsch_ sein kann. Dazu wird nach einer einleitenden Darstellung des Problems und einigen terminologischen Präzisierungen zunächst die Unterscheidung zwischen Gerechtfertigt Sein und Richtig Sein auf einer allgemeinen Ebene erläutert und dann auf Odysseus-Anweisungen übertragen und zwischen der Anwendung dieser Unterscheidung auf der Einzelfallebene und der Prinzipienebene differenziert. Abschließend wird dafür plädiert, dass, da ein Handeln entsprechend einer Odysseus-Anweisung gerechtfertigt, aber falsch sein kann, Odysseus-Anweisungen die von ihnen autorisierten Zwangsbehandlungen auch bei vorhandener Einschlägigkeit und Anwendbarkeit _nicht_ zu moralisch gebotenen machen und deren Befolgung nicht rechtlich bindend gemacht werden sollte. Sie sind nicht als normativ gleichrangig mit anderen Patientenverfügungen, die sich z. B. auf Zustände der Demenz beziehen, anzusehen.