Patientenmobilität und grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung sind alltägliche Phänomene in der Europäischen Union (EU). Im Jahr 2011 hat die EU eine Richtlinie erlassen, um in diesem Kontext Rechtssicherheit herzustellen. Bisher gibt es keine umfassenden systematischen Studien über ethische Aspekte grenzübergreifender Gesundheitsversorgung. In dieser Arbeit werden die rechtlichen Entwicklungen der grenzübergreifenden Gesundheitsversorgung dargestellt und die in der Literatur vereinzelt erwähnten ethisch relevanten Aspekte heuristisch und auf Patiententypologien aufbauend systematisch inventarisiert und diskutiert. Es zeigt sich, dass die Möglichkeit der Patientenmobilität und die damit vor (...) allem verbundenen Finanzierungsregelungen die Autonomie einiger Patienten sicherlich verbessern kann. Allerdings können wohl nicht alle Patienten Versorgungsverbesserungen erwarten. Im Gegenteil können sogar negative Konsequenzen für einige Patienten folgen, was vor allem aus gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen kritisch zu sehen ist. (shrink)
Neben grundsätzlichen konzeptionellen Fragen der sog. Individualisierten Medizin (IM), prägen ethische Bedenken und Fragen die aktuellen Debatten um die IM. Allerdings ist bislang noch nicht geklärt, in welchem methodischen Rahmen diese Fragen verortet werden können. Für die Entwicklung eines solchen Rahmens wird das Modell der First- und Second-Wave-Bioethics diskutiert und an zwei konkreten Herausforderungen – 1) dem Verhältnis der IM zur evidenz-basierten Medizin und 2) am Konzept der genetischen Risikoperson – aufgezeigt. Eine solche Kontextualisierung der IM-Debatte legt den Grundstein für (...) eine adäquate Erfassung und Bearbeitung sozialethischer Fragen (z. B. im Hinblick auf das Problem der Eigenverantwortung). (shrink)
Für die Argumentation von Moralphilosophen, die die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe befürworten, spielt das Autonomieprinzip eine wichtige Rolle. Ihrer Auffassung nach verlangt der Respekt vor der Autonomie, die Entscheidung eines schwer kranken Menschen gegen die Fortsetzung des Lebens vorbehaltlos anzuerkennen. Dagegen haben verschiedene Theoretiker auf Gefahren hingewiesen, die die rechtliche Zulassung der Tötung auf Verlangen für die individuelle Autonomie mit sich bringt. Sobald der Kranke über die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe verfüge, falle ihm die Verantwortung für die Inanspruchnahme von Pflegeleistungen (...) zu. In der Folge könne u. a. von Seiten der Familie die Forderung an ihn gestellt werden, den vom Gesetzgeber eröffneten Ausweg zu nutzen und sie von der Last seiner Pflege zu befreien. Die Bedenken erscheinen insofern berechtigt, als Formen sozialen Zwangs vorstellbar sind, die eine freie Entscheidung des Patienten verhindern. Allerdings vermag weder das Verbot noch die Zulassung der aktiven Sterbehilfe eine autonome Entscheidung aller Individuen zu gewährleisten. Die Abwägung der Risiken, mit denen beide Optionen behaftet sind, spricht im Ergebnis für die Legalisierung der Tötung auf Verlangen. (shrink)
Am 1. Februar 2010 ist das Gendiagnostikgesetz (GenDG) in Kraft getreten. Die Debatte um einige Regelungsbereiche, wie beispielsweise das Neugeborenenscreening, reißt nicht ab. Ein Aspekt des Gesetzes ist im Rahmen der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik (PID) in Deutschland unter neuen Vorzeichen zu diskutieren: Das – international bislang einzigartige – Verbot der pränatalen Diagnostik so genannter spätmanifestierender Erkrankungen, die erst nach der Vollendung des 18. Lebensjahres ausbrechen. In diesem Beitrag möchten wir Hinweise zur differenzierten Diskussion dieser in § 15(2) GenDG bestimmten (...) Verbotsnorm liefern. Obgleich Argumente, insbesondere das Recht auf Nichtwissen des geborenen Kindes, für ein solches Verbot sprechen, kommen wir aufgrund der medizinischen Sachlage und nach einer Analyse der Pro- und Kontraargumente aus ethischer und rechtlicher Sicht zu dem Schluss, dass ein generelles Verbot der pränatalen Diagnostik spätmanifestierender Erkrankungen im Sinne der Zielsetzung womöglich insuffizient ist sowie in der Begründung Inkonsistenzen zum bereits bestehenden Regelwerk aufweist, und lenken daher den Blick auf unter Umständen bessere Alternativen. (shrink)
Ist es moralisch verantwortbar, Menschen mit technischen Eingriffen zu verbessern? Der Aufsatz versucht diese Frage zu beantworten, indem zwei Gefahren für Verbesserungswillige beleuchtet werden: der Verlust der Menschlichkeit und der unerwünschte Wandel der individuellen Persönlichkeit. Sodann wird ein „Liberalismus mit Auffangnetz“ als Lösung des Problems vorgestellt, die eine unterschiedliche Bewertung von reversiblen und irreversiblen Eingriffen vornimmt. Im letzten Schritt wird überprüft, wie weit diese Konzeption auch anwendbar ist, wenn Eltern ihre Kinder verbessern lassen wollen, also ein „informed consent“ nicht vorausgesetzt (...) werden kann. Dabei werden Argumente zurückgewiesen, die Habermas gegen eine Verbesserung von Kindern vorgebracht hat. (shrink)
Die prospektive Analyse der ethischen Implikationen medizinisch-technischer Innovationen läuft immer auch Gefahr, sich in den Wunschbildern von Marketingexperten zu verfangen. Vor diesem Hintergrund könnte es durchaus nützlich sein, die Erkenntnisse der Wissenschafts- und Technikforschung zur Genese und Entwicklung neuer Techniken auszuschöpfen. Dies erscheint gerade auch für die ins Phantastische weisende Zukunft der Individualisierung medikamentöser Therapie, wie man ihr häufig in der Beschreibung pharmakogenetischer Behandlungskonzepte begegnet, angebracht. Techniken, die sich noch im Entwicklungsstadium befinden und deren breite Anwendung noch einige Jahre auf (...) sich warten lassen wird, sollten sehr sorgfältig auf ihren Realitätsgehalt und das zu erwartende Leistungspotenzial hin analysiert werden. Dazu gehört v. a. auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Leitbildern, Visionen und Nutzenversprechen, mit denen technische Innovationen oft sehr absichtsvoll ausgestattet werden. Wird dabei die Distanz zur Rhetorik der Protagonisten der neuen Techniken nicht gewahrt, gerät die ethische Reflexion unvermittelt in die Rolle, profane Marketingstrategien wortgewandt und ideenreich zu veredeln. (shrink)
Es wurde für die These argumentiert, dass der Begriff der Würde in der Medizinethik nutzlos sei und in den Fällen, in denen er verständlich verwendet wird, nichts anderes meint als den Respekt vor der Autonomie von Personen. In diesem Aufsatz soll gezeigt werden, dass diese These falsch ist. Es wird ein Begriff von Würde vorgestellt, der sich nicht auf den Begriff des Respekts vor der Autonomie von Personen reduzieren lässt. Anhand der Diskussion um ein Sterben in Würde soll auch deutlich (...) werden, dass auf den Begriff der Würde auch in der Medizinethik nicht verzichtet werden kann. (shrink)
In der Medizinethik sind der Respekt vor der Patientenselbstbestimmung, das Nichtschadensgebot, das Handeln zum Wohl des Kranken und das Gerechtigkeitsgebot praxisrelevante Prinzipien. Anhand des Beispiels der Frühintervention und Akutbehandlung schizophrener Störungen wird aufgezeigt, dass es in der psychiatrischen Praxis zu einer Kollision dieser Prinzipien kommen kann. Der frühe Krankheitsbeginn und der häufig chronische Verlauf schizophrener Störungen führen zu großem Leid der Betroffenen und ihrer Angehörigen sowie zur ökonomischen Belastung der Solidargemeinschaft. Die negativen Folgen einer verzögerten Intervention stehen den Risiken der (...) Stigmatisierung sowie den möglichen Nebenwirkungen durch die psychotherapeutische oder psychopharmakologische Behandlung gegenüber. Es wird für eine an der konkreten Situation orientierte, lebensnahe und dynamische Ethik plädiert, die vom konkreten Fall aus diskutiert und verschiedene Perspektiven berücksichtigt – mit dem Ziel von einer Arztethik und Patientenethik zu einer Verantwortungspartnerschaft zu gelangen. (shrink)
Der Band untersucht das durch die Begriffe Musik, Kultur und Gedächtnis abgesteckte Feld in einer zweifachen Bewegung: Zum einen wird Musik als eine wichtige soziokulturelle Ausdrucksform quer durch alle Kulturen gefasst, ihre Bestimmung und Funktion ändern sich mit den jeweiligen soziokulturellen Kontexten und Praxen. Jedes Musikstück steht in spezifischen kulturell entwickelten Traditionen und Formen, die von ihm aktualisiert werden. Musik wirkt als "gemeinschaftsbildende Macht" (Adorno), als Ausdrucksmittel individueller oder kollektiver Identität. Zum anderen ist den vielfältigen Formen von Musik die mehrfache (...) Verbindung von Musik und Zeit gemeinsam: Die jeweilige musikalische Darbietung oder Reproduktion ist ein zeitlicher Ablauf und als solcher gedächtnishaft organisiert. Die ästhetische Erfahrung von Musik ist konstitutiv auf Gedächtnisleistungen angewiesen und Musik selbst eine temporale Kunstform. Neben dieser elementaren Zeitlichkeit zeigen sich in der Musik aber viele weitere Aspekte subjektiver und sozialer Zeit: die Geschichtlichkeit der einzelnen Stücke bzw. Werke selbst, die soziokulturelle zeitliche Lagerung von Ordnungsprinzipien wie Gattungen, Kunstformen, Stilen etc., der Wandel von basalen Formen des Musikmachens (etwa unter dem Einfluss von Medientechnologien). Der Band enthält auch die deutsche Erstveröffentlichung eines Artikels von Maurice Halbwachs zu diesem Themenfeld. Der Inhalt: Theoretische Überlegungen, "Analytische Betrachtungen. Die Herausgeber: PD Dr. Christofer Jost lehrt und arbeitet am Zentrum für Populäre Kultur und Musik der Universität Freiburg. PD Dr. Gerd Sebald ist am Institut für Soziologie der Universität Erlangen-Nürnberg tätig. (shrink)
Der Aufsatz analysiert den Konnex zwischen Individualisierter Medizin und der Forderung nach mehr gesundheitlicher Eigenverantwortung, der oft als plausibel angenommen wird, wenn der Individualisierten Medizin das Potential zugesprochen wird, das solidarisch finanzierte Gesundheitssystem in Deutschland zu transformieren. Ausgehend von einer logischen Rekonstruktion des Verantwortungsbegriffs, die dessen Operationalisierbarkeit unter anderem an Sanktionsvollmachten der jeweiligen Verantwortungsinstanz bindet, und basierend auf einem terminologisch präzisierten Verständnis von Individualisierter Medizin wird folgende These entwickelt: Die Annahme, im Rahmen Individualisierter Medizin sei eine verlässliche Prädiktion anlagebedingter und (...) zugleich lebensstilabhängiger Erkrankungsrisiken möglich, verpflichtet logisch nicht zur Übernahme der Forderung, Lebensstile mit negativem Einfluss auf persönliche Erkrankungsrisiken seien zu sanktionieren. Weil die Forderung nach mehr gesundheitlicher Eigenverantwortung aus dem Programm der Individualisierten Medizin logisch nicht ohne Hinzunahme normativer Prinzipien abzuleiten ist, kann man dieses Programm selbst gut heißen, ohne sich die politische Forderung nach einem Umbau des solidarisch finanzierten Gesundheitssystems unter dem Vorzeichen gesundheitlicher Eigenverantwortung zu eigen machen zu müssen. (shrink)
In den westlichen Industrienationen gilt das Prinzip der informierten Einwilligung als das Zentralelement medizinischer Forschungsethik. In anderen, stärker die Relationalität als die Individualität von Personen betonenden Kulturen hingegen werden medizinische Entscheidungen traditionell eher durch die Gemeinschaft bzw. ihr Oberhaupt getroffen. Um verschiedenen kulturellen Normen gerecht zu werden, wird international tätigen Forschungsteams häufig empfohlen, den Community Consent und den Informed Consent einzuholen. Ausschlaggebend soll dabei letztlich der Informed Consent des Individuums sein. Es soll die Teilnahme auch dann verweigern können, wenn die (...) Gemeinschaft bzw. ihr Repräsentant dem Vorhaben zugestimmt hat. Der Beitrag diskutiert, ob eine solche Kopplung von Community Consent und Informed Consent tatsächlich geeignet ist, den Ansprüchen beider Prinzipien gerecht zu werden. Es wird argumentiert, dass die Kopplung von Community Consent und Informed Consent ethisch problematisch ist, wenn der Gemeinschaft hierbei ein Vetorecht eingeräumt wird, das geeignet ist, die Realisation konträrer individueller Interessen und damit das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen zu unterlaufen. Um zu gewährleisten, dass in interkulturellen Forschungszusammenhängen sowohl der individuellen als auch der relationalen Autonomie von Personen angemessener Raum gewährt wird, wäre es empfehlenswert, den Informed Consent ausdrücklich mit einer Community Consultation zu koppeln. Hier käme die Entscheidung gegen, aber auch für eine Studienteilnahme in letzter Instanz klar dem Individuum zu, während die Vorzüge einer Einbeziehung der Gemeinschaft in den Entscheidungsfindungsprozess anerkannt und genutzt werden könnten. (shrink)