I.

Die DVjs startete 1923 mit der Ambition,Footnote 1 die »Geschichte deutschen Geisteslebens« auf einer theoretisch und methodisch neuen Grundlage zu diskutieren.Footnote 2 Dafür galt die Romantik als privilegiertes Forschungsfeld, sodass Autoren, deren Leben und Werke sich den etablierten literaturgeschichtlichen Ordnungsmustern nicht zu fügen und sich traditionellen philologischen Verfahren zu widersetzen schienen, zu einem Prüfstein geistesgeschichtlicher Leistungsfähigkeit wurden. Dies galt unter anderem für Heinrich von Kleist und Friedrich Hölderlin. 1926 behauptete Paul Kluckhohn in seinem DVjs-Forschungsreferat zu Kleist:

Wohl keinem deutschen Dichter – kaum Goethe ausgenommen – sind in den letzten Jahren so viele Untersuchungen, Darstellungen, Neuausgaben, Essays und anderer Art literarische Arbeiten zuteil geworden wie jenen beiden lange verkannten, Hölderlin und Kleist. Es spiegelt sich in dieser Tatsache mehr als ein bloßer Zufall, mehr als Mache oder Mode; sie ist charakteristisch sowohl für die geistige Lage der Gegenwart wie für die besondere Stellung dieser Dichter im Gesamtverlauf unserer literarischen Entwicklung. […] Das heutige Geschlecht […] empfindet gerade sie als Künder deutscher Wesenszüge, die mit dem Gegensatzwort Klassik-Romantik nur ganz unzulänglich bezeichnet werden können.Footnote 3

Literarhistorisch war umstritten, ob Hölderlin, ein ›Gegenklassiker‹, dem deutschen Klassizismus oder der Romantik zuzuschlagen sei. Rudolf Haym hatte Hölderlin 1870 als »Seitentrieb der romantischen Poesie« deklariert und seine späte Dichtung als Resultat eines kranken Geistes disqualifiziert.Footnote 4 Diese im 19. Jahrhundert dominierende Auffassung führte zur »systematische[n] Zurücksetzung eines großen Dichters« und zu seiner »Verdrängung aus dem literarischen Gedächtnis der Deutschen über fast ein halbes Jahrhundert«.Footnote 5 Auch Wilhelm Scherer lehnte Hölderlin weitgehend ab, weil diesem »die sichere Herrschaft über die verschiedenen Vorstellungskreise seiner Seele« fehle.Footnote 6 Erst Wilhelm DiltheyFootnote 7 leitete mit seinem Aufsatz »Hölderlin und die Ursachen seines Wahnsinnes«Footnote 8 (1867) und seinem Buch Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing / Goethe / Novalis / Hölderlin (1906) eine Um- und Aufwertung des Dichters ein. Der »Kern der Rehabilitierung« bestand in einem veränderten Verständnis psychischer Erkrankung, die Dilthey »nicht mehr als etwas der Dichtung in jedem Fall Abträgliches« sehen wollte und sich damit auch dem Spätwerk Hölderlins nicht mehr verschloss.Footnote 9 In seinem wirkmächtigen Essay ging er intensiv auf die Sprache der Dichtung ein und griff »über den literarischen Text hinaus«Footnote 10 in die Philosophie, die Politik und die Zeitgeschichte. Diltheys Hölderlin-Exegese lieferte so der Geistesgeschichte, die sich zumindest nominell auf den Philosophen berief,Footnote 11 den Anstoß für eine vertiefte Befassung sowohl mit der Biografie des Dichters als auch mit dessen umstrittenem Verhältnis zum deutschen Idealismus und der editionsphilologisch prekären Überlieferungslage seiner Schriften. Befeuert wurde das zunehmende Interesse an dem Autor durch die mit ihm verbundene politische Brisanz: Im Zuge des Ersten Weltkriegs hatte die Begeisterung für Hölderlin durch die Jugendbewegung und den Kreis um Stefan George Fahrt aufgenommen, sich politisch und kunstreligiös aufgeladen und der Germanistik so einen Untersuchungsgegenstand beschert, von dem man sich in und vor allem auch außerhalb der akademischen Sphäre Resonanz versprechen konnte.Footnote 12

Der schwäbische Dichter stand denn auch – zwar nicht von Beginn an,Footnote 13 aber spätestens ab Mitte der 1920er Jahre – für ein von der DVjs kontinuierlich mitgestaltetes germanistisches Arbeitsgebiet, das zum einen durch Abhandlungen (bis 1944 erschienen mehrere Originalbeiträge zu Hölderlin),Footnote 14 zum anderen durch Forschungsreferate beschickt wurde. Im affirmativen Anschluss an die Hölderlin-Bibliographie von Friedrich Seebaß,Footnote 15 die 1922 beanspruchte, alle bekannten Drucke, Briefe, Aufsätze und künstlerisch-literarischen Rezeptionsspuren gesammelt und strukturiert erfasst zu haben, erschienen im Auftrag der Herausgeber 1926, 1934, 1940 und wieder 1956 umfangreiche Sammelreferate in der DVjs, die die aktuelle Hölderlin-Forschung dokumentierten, sortierten und bewerteten. Diese aufwändigen, zur fortgesetzten Aktualisierung bestimmten Berichte hatten ihr Vorbild in der Philosophie,Footnote 16 waren für die Germanistik der Zeit aber »[p]raktisch konkurrenzlos«.Footnote 17 Im Euphorion, dem primären Konkurrenzblatt der DVjs,Footnote 18 hatte es bis dahin nur Einzelbesprechungen und unverknüpfte Sammelrezensionen gegeben,Footnote 19 nicht aber auf Kohärenz angelegte Berichte. 1940 notierte einer der Referenten: »Da Auseinandersetzung mit anderen Forschern offenbar nicht mehr üblich ist, fällt zunächst den Sammelreferaten die Aufgabe zu, die verschiedenen Ansichten nebeneinander zu halten und, soweit möglich, zum Ausgleich zu bringen«.Footnote 20

Im Folgenden werden wir die vielstimmige, sich in der DVjs auf besondere Weise ausprägende wissenschaftliche Rezeption Hölderlins, die immer auch – in einem weit gefassten Sinne – weltanschaulich und politisch war, in sechs Schritten rekonstruieren. Zum einen werden wir den Forschungsreferaten von Adolf von Grolman (II), Johannes Hoffmeister (IV) und Heinz Otto Burger (V), zum anderen der ersten großen Hölderlin-Kontroverse zwischen Wilhelm Böhm und Ludwig Strauß (III) nachgehen. Ein besonderes Augenmerk fällt außerdem auf Paul Kluckhohn in seiner Rolle als weltanschaulicher Propagator und als Organisator vereinsgebundener Hölderlin-Verehrung und -Forschung (VI). Beantworten wollen wir die doppelte Frage, welche Funktion Hölderlin für die DVjs und die DVjs für die Hölderlin-Forschung in den politisch turbulenten 1920er bis 1940er Jahren hatte. Für die theoretische, methodische und weltanschauliche Profilbildung der DVjs in der literaturwissenschaftlichen Zeitschriftenlandschaft der Zeit war, so unsere These, Hölderlin von eminenter Bedeutung (VII).

II.

Adolf von Grolman (1888–1973) brachte sich für das erste DVjs-Forschungsreferat zu Hölderlin selbst in Stellung, als er sich im April 1925 als »Hölderlinspezialist« für eine »(knappe) Auseinandersetzung mit Zweigs Hölderlinauffassung« anbot.Footnote 21 Zwar schätzte Kluckhohn Grolman als einen methodisch in der Geistes- und Stilgeschichte versierten Kollegen, dessen Studie zu Adalbert Stifter er denn auch gern in der Buchreihe der DVjs untergebracht hatte.Footnote 22 Doch Grolmans »freundliche[s] Anerbieten« musste er zunächst zurückweisen, weil Rudolf Unger die »Hölderlinliteratur der letzten Jahre« im Forschungsreferat »Vom Sturm und Drang zur Romantik« mitbehandeln sollte.Footnote 23 Über die Frage, ob Unger überhaupt ein »Sammelreferat« oder doch einen »selbstständigen […] Aufsatz […] über die Beziehungen des Sturms und Dranges zur Klassik und Romantik im Lichte der neueren Forschung«Footnote 24 verfassen und welcher Stellenwert Hölderlin darin zukommen sollte,Footnote 25 herrschte zeitweilig jedoch Unklarheit zwischen Verfasser und Herausgeber. So spannte Kluckhohn Grolman schließlich doch für eine gesonderte Darstellung zur Hölderlin-Literatur ein und bat Unger um die Übersendung der vom Verlag beschafften Forschungsbeiträge an Grolman.Footnote 26

Mit Grolman hatte die DVjs einen ungewöhnlichen Hölderlin-Forscher gewonnen: Nach einer juristischen Promotion wurde er 1918 mit einer stilkritischen Studie zu Hölderlins HyperionFootnote 27 in München ein zweites Mal promoviert und konnte kurz darauf in Gießen habilitieren.Footnote 28 Eine Dozentur aber schied durch hohe familiäre Vermögensverluste aus, sodass seine Hoffnung auf eine akademische Karriere enttäuscht zu werden drohte. Die Publikationsmöglichkeit in der DVjs war für Grolman daher hochattraktiv, er machte Kluckhohn umgehend mit seinen Besprechungsplänen vertraut und schickte ihm eine umfangreiche Aufstellung der zu berücksichtigenden Literatur.Footnote 29 Über die kommenden Monate entwickelte sich eine intensive Korrespondenz, in der Grolman Kluckhohn an seinen Recherchen, seinen Literaturwünschen, aber auch an seiner Arbeitsbelastung wortreich teilhaben ließ:

So, wie die Untersuchung angelegt ist, brauche ich alles, was zu Hölderlin erscheint, ganz sinnlos, was es ist. Die Sache ist von mir in grossem Stil angelegt und ich will versuchen, einen Querschnitt durch das Ganze ›geistesgeschichtlich‹ zu tun […]. Ich bin aber ehrlich genug, Ihnen zu gestehen, dass ich schon über dieser H.-arbeit geseufzt habe. Es ist eine Höllenarbeit, sich durch diesen Wust durchzuarbeiten.Footnote 30

Dennoch mühte er sich nach Kräften und konnte Kluckhohn kurz vor dem Jahreswechsel 1925/1926 verkünden:

Der Hölderlinaufsatz ist fertig […]. Jetzt will ich nur im aller dringendsten Irrtumsfall noch etwas ändern; aber ich bitte Sie um Ihre Ansicht. […] Nicht wahr, die Hölderlin-Schau (denn eine Schau ist es, geradezu ein Gemälde) kommt in das nächste Heft der d.V.Z.? Ich hab bis zur Lächerlichkeit gekürzt, an sich könnte die Arbeit 2–3 mal so gross sein, als sie ist.Footnote 31

Kluckhohn lobte Grolman für sein Referat, das »sehr schön und edel in seiner Haltung, sehr fein in seinen Bemerkungen« sei.Footnote 32 Gleichwohl griff er, wie in seiner Herausgeberpraxis üblich, massiv in die Textgestaltung ein, bat um Kürzungen ganzer Textpassagen, die Abschwächung von Werturteilen, um Ergänzung weiterer Referenzen und um eine stärkere Akzentsetzung auf die Evaluation des Forschungsertrags für das Werk, nicht nur für den Dichter und dessen Pathografie:

Der Leser erwartet doch etwas über den wesentlichen Inhalt der einzelnen Bücher zu erfahren […]. Vielleicht könnten diese kurzen Inhaltscharakterisierungen so angelegt werden, dass der Leser auch auf die Frage Antwort erhält: inwieweit ist die Forschung dem Erfassen der wesentlichen Züge der Hölderlinschen Kunst näher gekommen? Wäre da nicht über alle Desperatheit und alle Widersprüche hinweg ein positiver Gewinn zu suchen?Footnote 33

Grolman kam den Änderungswünschen zunächst bereitwillig entgegen,Footnote 34 doch mit der Zeit reagierte er sichtlich enerviert, erstens weil der zugesagte Publikationstermin im ersten Heft des Jahrgangs 1926 nicht zu halten war, zweitens weil Kluckhohn wiederholt mit Nachforderungen aufwartete, sodass sich Grolman in seiner Autorschaft gar in Frage gestellt sah:

Ich trage doch wohl die Verantwortung für meine Forschung? Ich kann zu meinem Leidwesen nicht begreifen, wieso da an meiner Arbeit korrigiert und zensiert werden sollte, wie es nun beginnt. […] Ich habe wirklich gar kein Verständnis für diese Dinge, die nicht in das Niveau der wissenschaftlichen Forschung gehören – Ihre Wünsche sind längst erfüllt. […] [Karl] Vietor ist ausführlicher gebracht und ich verstehe nicht, dass dies nicht deutlich genug geschah. Ich muss es ablehnen, den Passus über George einen ›Ausfall‹ gegen ihn nennen zu lassen. Das ist er nicht und ich glaube, dass ich jetzt nichts ändern werde. Und dass ich das Leben vor die Kunst stelle, mag sehr wohl ›von der allg. Meinung abweichen‹ – aber ist das ein Unglück?Footnote 35

Die stille Koautorschaft Kluckhohns, die Grolman inkriminierte, war für die Forschungsreferate der DVjs keine Ausnahme. Im Gegenteil begrüßten die Herausgeber diese Textsorte als Möglichkeit, die aktuellen Forschungsprozesse regulierend zu beeinflussen. Dementsprechend übernahmen Kluckhohn und Erich Rothacker auch immer wieder selbst diese leseintensive Aufgabe und gaben sich selten mit den von fremder Feder gelieferten Entwürfen ohne Einspruch zufrieden. Die Verhandlung mit den Verfassern erforderte oftmals diplomatisches Geschick, so auch im Fall Grolman: Erst nach Beschwichtigungsgesten erklärte sich der sichtlich verstimmte Referent erneut zu weitgehenden Textmodifikationen bereit,Footnote 36 sodass die 30-seitige Darstellung zur »gegenwärtige[n] Lage der Hölderlinliteratur. Eine Problem- und Literaturschau (1920–1925)« endlich im dritten Heft des Jahrgangs 1926 erscheinen konnte.

Trotz Kluckhohns Mitwirken handelt es sich um ein passagenweise ausgesprochen launig formuliertes Referat, das deutlich werden lässt, warum Hölderlin für die Neugermanistik allgemein und für die DVjs insbesondere eine Herausforderung war. Die politische Dimension betont Grolman gleich eingangs, wenn er die besondere Relevanz Hölderlins für die gegenwärtige und zukünftige deutsche Jugend herausstreicht. Diese könne mit den Autoren der Klassik und Romantik nur mehr wenig anfangen, habe aber im Umfeld der Jugendbewegung, der sich Grolman selbst sympathisierend zurechnete, Hölderlin zu verehren gelernt:

Denn Hölderlin ist sehr weiten Kreisen der gegenwärtigen Generation und dem Wertvollsten, was sie besitzt, nämlich ihrer jungen Mannschaft, der Bildungsfaktor von fast elementarer Bedeutung. Kommenden Generationen wird er das in noch höherem Maß sein. […] Denn wenn man es auch ungern hört, wahr ist es doch: Klassizismus und Romantik haben […] jetzt nicht mehr die frühere glänzende und unwiderstehliche Eindringlichkeit der Wirkung.Footnote 37

Gerade weil Hölderlin außerhalb der Wissenschaft solch große Verehrung erfahre, sei es an der Zeit, aus geistesgeschichtlicher Perspektive eine »Besinnung über Methode anzuregen«. Denn die Hölderlin-Literatur sei »zumeist geschrieben von Menschen, die diesen Dichter ›lieben‹«.Footnote 38 Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung aber müsse »den (vermeintlichen oder berechtigten) Forderungen einer objektiv-kühl repräsentierenden Fachwissenschaft« genügen.Footnote 39 Grolman begrüßt daher zwar den mitunter unakademischen, ästhetizistischen Charakter, der nicht nur das nicht-wissenschaftliche Schrifttum, sondern auch Segmente der aktuellen Hölderlin-Forschung (wie Wilhelm Michel, der von Grolman abgewertete Friedrich GundolfFootnote 40 und andere) und die Hölderlin-Editionen aus dem Umkreis Norbert von Hellingraths auszeichne,Footnote 41 mahnt aber eine wissenschaftlich geleitete Verständigung an. Auch das notorische »Problem der Textausgaben« betrachtet er als einen geistesgeschichtlich signifikanten, aber harmonisierbaren Generationenkonflikt: »zwei Weltanschauungen und zwei Generationen sind im Bruderkampf um ein Ideal: Hölderlin!«Footnote 42 Dies aber sei »kein Schaden. Sondern das ist Wissenschaft«.Footnote 43 Pragmatisch empfiehlt er daher, einfach zugleich aus den beiden konkurrierenden Ausgaben von Franz Zinkernagel und Ludwig von Pigenot/Friedrich Seebaß zu zitieren.Footnote 44

Es ist insbesondere die »Frage nach der Geisteskrankheit Hölderlins«,Footnote 45 an der Grolman zufolge die biografische Hölderlin-Forschung in unproduktiver Weise laboriere. Er verspricht sich von »psychoanalytischen Methoden« neue Einsichten, »was, selbst wenn zahlreiche Sexualprobleme dabei zur Sprache kommen werden, dem hohen Rang von Hölderlins menschlicher und künstlerischer Persönlichkeit auch nicht den geringsten Abbruch tut«.Footnote 46 Wenig Kredit räumt er hingegen der dezidiert philosophischen Auseinandersetzung mit Hölderlin ein, wie er sie jüngst in Wilhelm Böhms DVjs-Beitrag »Hölderlin als Verfasser des ›Ältesten Systemprogramms des deutschen Idealismus‹« beobachtet.Footnote 47 Die »Frage nach der aktiven Stellung Hölderlins im Rahmen der zeitgenössischen idealistischen Philosophie« sei zwar für die Geistesgeschichte von besonderer Bedeutung,Footnote 48 doch man dürfe »Hölderlin nicht zum ›Philosophen‹ […] machen, ihn, der doch ein Dichter war und nicht weniger«.Footnote 49 Wir kommen auf diese Kontroverse zurück.

Unzufrieden ist Grolman auch mit der literaturgeschichtlichen Rubrizierung Hölderlins.Footnote 50 In seinem Forschungsreferat wird die Frage nach der Epochenzugehörigkeit des Dichters als »nicht angängig« abgetan;Footnote 51 in einem drei Jahre später publizierten Aufsatz zum »Hölderlinbild« präzisiert Grolman: »Hölderlin für die Klassik zu retten, ist an sich so sinnlos, wie Hayms entsprechender Versuch zu Gunsten der Romantik; es ist eben schwer einzusehen, daß beliebte Klassifikationen und Einschachtelungen auf Hölderlin nicht passen«.Footnote 52 Kluckhohn schlägt zeitgleich vor, Hölderlins »Generationsgemeinschaft […] mit den Frühromantikern« zu betonen »und dann das, was allen gemeinsam ist und sie mit den Klassikern verbindet, unter den weiteren Begriff der ›Deutschen Bewegung‹« zu fassenFootnote 53 – eine Nationalisierung des Dichters, die dem frankophilen GrolmanFootnote 54 kaum gefallen konnte.

Für Kluckhohn muss die Zusammenarbeit anstrengend gewesen sein; Grolmans Wunsch, das Forschungsreferat fortzusetzen, wurde vermutlich auch deswegen abgelehnt, offiziell sprach man – wie für solche Absagen typisch – von »Raumgründen«.Footnote 55 Und auch als Grolman 1928 erneut eine Fortsetzung anregte,Footnote 56 konnte er Kluckhohn nicht erweichen, ihn aber immerhin zur Vermittlung von Vortragseinladungen bewegen.Footnote 57 Als Grolman sich dann allerdings, unzufrieden mit der schlechten Honorierung, bei seinem Unterstützer Kluckhohn beschwerte,Footnote 58 begann die Beziehung der beiden zusehends zu erodieren. Grolman publizierte zwar weiterhin in der DVjs,Footnote 59 seine Rezensionen aber musste er anderweitig unterbringen. Die schon erwähnte essayistisch gehaltene Darstellung des Hölderlin-Bildes erschien 1929 im Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, mit einem nun nicht mehr durch Kluckhohn restringierten Fokus auf der Dichterpersönlichkeit. Mit ungehemmten Seitenhieben auf die akademische Geistesgeschichte und ihre Epochenraster schilt Grolman die

Mode der Literaturwissenschaft, ihre Dinge nach dem Schematismus zu etikettieren, und sie angeblich dadurch voneinander abzugrenzen, einzuschachteln, und die Kästchen dann als – ›Geistesgeschichte‹ – wechselseitig auszuspielen und gleichsam als Posten gegeneinander zu verrechnen, als ob sie fixe und ein für alle Mal festgelegte, geradezu ziffernmäßige Tatsachenwerte enthielten, womit man jedoch nur einen Irregang ging; […] alles wirbelte durcheinander, Barock und Klassik, Romantik und gotischer Mensch, Griechentum und Romanismus, Latein und Frühgermanentum: kurzum, die Grundlagen unseres désastre von 1929, wo man vor lauter Programm und Schema im geistesgeschichtlichen Schachspiel die ewigen Werte und die lebendigen Menschen, die sie trugen, gänzlich aus dem Gesicht verlor.Footnote 60

Generell kultivierte Grolman ein außerakademisches Selbstbild, auch weil er sich von den »offiziellen Häuptlingen der Zunft« nie vollwertig anerkannt sah.Footnote 61 Mit einem polemischen Angriff auf die von Kluckhohn in der DVjs lancierte Biedermeier-Forschung in Dichtung und Volkstum,Footnote 62 vormals Euphorion, verspielte er dann Mitte der 1930er Jahre die Gunst seines Kollegen endgültig.Footnote 63 Kluckhohn wusste sich nicht nur publizistischFootnote 64 zu revanchieren: Als er 1938 vom Reichsstatthalter von Baden um ein Gutachten zu Grolman gebeten wurde,Footnote 65 charakterisierte er diesen als Vertreter eines literaturwissenschaftlichen Programms, das in »der Betrachtung des Künstlerschicksals […] der Psychoanalyse manchmal bedenklich nahe« stehe. Grolmans »verunglimpfende Ausfälle« würden, »wenn sie in Vorlesungen vorgetragen würden, schlimme Verwirrung in jungen Köpfen anrichten […] und das Gegenteil von Erziehung zu historischem Verstehen erreichen«.Footnote 66

Für die DVjs hatte Grolmans Referat allerdings seinen Zweck erfüllt: Die Zeitschrift hatte sich als ernstzunehmendes Organ geistesgeschichtlicher Hölderlin-Forschung ins Spiel gebracht und über die Literaturschau erstmals zu den virulenten politischen, philosophischen, methodischen, biografischen, editionsphilologischen und literaturhistorischen Problemen, die sich mit dem schwäbischen Dichter verbanden, grundsätzlich Stellung bezogen. Der Auftakt sollte sich auszahlen.

III.

Ludwig Strauß (1892–1953) bescherte der DVjs 1927 die erste geistesgeschichtliche Kontroverse zu Hölderlin. Den Anlass dazu lieferte Wilhelm Böhm (1877–1957), ein altgedienter Philologe, der 1902 von Erich Schmidt zu Hölderlin promoviert wurde und 1905 gemeinsam mit Paul Ernst die erste Hölderlin-Werkausgabe herausgebracht hatte, die 1924 in vierter Auflage auf dem Markt war.Footnote 67 Böhm erhielt erst 1930 eine Honorarprofessur für Deutsche Sprache und Literatur an der TH Hannover, bis dahin verdingte er sich als Lehrer und Privatgelehrter, stand also wie Grolman am Rand des Wissenschaftssystems.

Eingefädelt durch Rothacker, berichtete Böhm im dritten Heft des Jahrgangs 1926, und damit im gleichen Heft wie Grolman, über das »Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus« mit dem Ziel, »in Hölderlin den Verfasser«Footnote 68 dieses von Hegel handschriftlich überlieferten, von Franz Rosenzweig 1917 erstmals edierten und kommentierten Fragments zu identifizieren.Footnote 69 Rosenzweig hatte zwar die Nähe der Argumentation zu Hölderlin betont, die Autorschaft aber eindeutig Schelling zuerkannt. Ernst Cassirer folgte Rosenzweig, statuierte aber eine »wechselseitige Einwirkung«Footnote 70 von Hölderlin und Schelling, wobei man weder das »›dichterische Wesenselement‹«Footnote 71 des einen noch das philosophische Wesenselement des anderen miteinander verrechnen dürfe. Böhm hingegen meinte Hölderlin als »streng systematisch denkenden Dichter« erweisen und damit dessen Autorschaft belegen zu können.Footnote 72 Hölderlins »›Ideal der Schönheit‹« möchte Böhm dabei zum »alles umfassende[n] ›Mittelpunkt‹« des deutschen Idealismus,Footnote 73 seine Dichtung zum Gipfelpunkt der Klassik erheben.Footnote 74 Schelling und Hegel hingegen seien durch das »wachsende[] systematische[] Bedürfnis immer doktrinärer« geworden;Footnote 75 die Integration der Ästhetik in ihre Systeme hätten sie allein Hölderlin zu danken, ja man könne davon ausgehen, pointiert Böhm, »daß hier der Philosoph tatsächlich durch das Morgentor der Dichtung in das Land der Erkenntnis gedrungen ist«.Footnote 76

Böhms Ausführungen werteten Hölderlin zur maßgeblichen Einflussgröße des deutschen Idealismus auf, in der Tendenz geriet aber dessen Dichtkunst so zum bloßen philosophisch-weltanschaulichen Illustrationsmedium – eine aus der Perspektive der zeitgenössischen Literaturwissenschaft unerwünschte Implikation. Die als kohärent gesetzte Weltanschauung Hölderlins sollte sich, wie Böhm in der Nachfolge Diltheys annahm, im Kunstwerk niederschlagen beziehungsweise sich aus Hölderlins poetischen Texten extrahieren lassen.Footnote 77 Böhm empfahl daher etwa, den Hyperion auf die der literarischen Komposition zugrunde liegende »Weltanschauung« hin zu befragen.Footnote 78

Widersprochen wurde Böhms Thesen zur Autorschaft des »Systemprogramms« durch Ludwig Strauß, Dichter und Germanist jüdischen Glaubens. Nach seinem Studium in Berlin und München war er, unterbrochen durch Kriegsdienst, als Lektor und Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus tätig.Footnote 79 Zur Sicherung seiner und der Subsistenz seiner Frau Eva, der Tochter Martin Bubers, strebte er ab Mitte der 1920er Jahre bei Franz Schultz, einem Philologen aus der Schule Erich Schmidts, und Hans Cornelius, einem pazifistisch und sozialdemokratisch eingestellten Philosophen, eine literaturwissenschaftliche Promotion an – und zwar just zu dem von Böhm behandelten Thema: »Hölderlins Anteil an Schellings frühem Systemprogramm«,Footnote 80 wie Strauß 1927 seine DVjs-Replik auf Böhms Beitrag überschrieb. Dabei war Hölderlin für Strauß nicht nur Gegenstand germanistischer Forschung, sondern auch poetisches Vorbild. Seine Kontakte zum Kreis um George hatte Strauß zwar nach seiner Rückkehr aus dem Krieg abgebrochen und gegen Georges Ästhetizismus auf der ethischen Dimension von Dichtung insistiert.Footnote 81 Im Gegensatz zu Böhm war Hölderlin für Strauß aus wissenschaftlicher wie poetologischer Perspektive dennoch primär Dichter: Der »Dichter« sei »nun einmal wichtiger […] als der Philosoph Hölderlin«.Footnote 82

Strauß widerlegt in seiner Replik nicht nur Böhms These zur Urheberschaft, sondern unterzieht auch dessen nur vordergründig geistesgeschichtliche Methode einer Revision. Da sein Argumentationsgang in der Forschung ausführlich rekonstruiert worden ist, beschränken wir uns auf drei für die geistesgeschichtliche Positionierung wesentliche Argumentationsschritte. Böhm hat sich nach Strauß erstens vornehmlich »Hölderlins philosophischem Denken« gewidmet, dabei aber zwei für die literaturwissenschaftliche Geistesgeschichte essentielle Aspekte marginalisiert: die »Betrachtung des Stils und des Lebenszusammenhangs«.Footnote 83 Angesichts der eklatant schmalen philosophischen Materialbasis,Footnote 84 auf die Böhm seine Rekonstruktion des Hölderlin’schen Systemdenkens stützen müsse, sei sein Vorgehen Ausdruck einer »verständliche[n]«, aber unzulässigen »Erobererstimmung«.Footnote 85 Strauß mahnt dagegen generell Vorsicht und Zurückhaltung im geistesgeschichtlichen Umgang mit Literatur an: »Nur mit der zartesten Behutsamkeit dürfen wir Begriffe aus den Dichtungen abziehen, mit gesteigerter Vorsicht spezifisch philosophische Einflüsse in ihnen nachweisen und vollends müssen wir uns hüten, Ursprung und Wesen der Dichtungen in der Philosophie zu suchen.«Footnote 86 Im Gegensatz zu Böhm, der Hölderlins philosophisches Denken im weit gespannten Kontext der Philosophiegeschichte situiert, beobachtet Strauß eine »ursprüngliche[] Gebrochenheit von Hölderlins Verhältnis zur Philosophie«,Footnote 87 die sich im »allgemeinen Zusammenhang zwischen philosophischem Denken und depressiver Stimmung« des Dichters zeige,Footnote 88 was Strauß anhand von Selbstaussagen des Dichters ausführt. Hölderlin habe die Philosophie zwar bewundert, ihre abstrakte Begrifflichkeit sei aber seinem Empfinden, Denken und Dichten nicht adäquat gewesen.Footnote 89

Strauß’ zweiter Argumentationsstrang gegen Böhm ist stilanalytisch angelegt: Er liefert eine ausführliche linguistische Analyse und einen Vergleich der Hölderlin’schen und Schelling’schen Diktion, belegt in einer Synopse,Footnote 90 in der Ausdrücke, Stilistika und Phrasen gegeneinander gestellt und mit der Textur des »Systemprogramms« abgeglichen werden. Strauß schließt aus seinen textnahen Beobachtungen, dass nicht Hölderlin mit seinem »edlen Zögern[]« und »schweren Zaudern«,Footnote 91 sondern allein Schelling mit seinem »scharfe[n] Diktatorenton« als Verfasser des Fragments anzusehen sei.Footnote 92

Drittens rekonstruiert Strauß im Rekurs auf biografische Kontexte »den Inhalt des Systemprogramms in seinem Zusammenhang mit Schellings und Hölderlins philosophischer Entwicklung«.Footnote 93 Im kommentierenden Durchgang durch das Fragment argumentiert er dafür, dass allein die Passage zur Ästhetik im Sinne Böhms (und Cassirers) eine »Einwirkung Hölderlins auf Schelling« erkennen lasse.Footnote 94

Strauß’ Widerlegung war in der Sache wie im Ton scharf genug, um eine Reaktion Böhms zu provozieren. In seiner Replik scheint dieser seinem Kritiker zwar in einigen wenigen Punkten entgegen zu kommen, etwa wenn er die grundsätzliche »Befähigung« Schellings für die Konzeption des »Systemprogramms« konzediert.Footnote 95 Insgesamt aber akzeptiert Böhm weder Strauß’ stilanalytische Befunde noch dessen biografisch-psychologische Thesen, für die dieser – mit Hilfe seines »Kronzeugen« GrolmanFootnote 96 – vermeintliche Belege nur aphoristisch und willkürlich zusammengetragen habe.Footnote 97 Stattdessen porträtiert Böhm Hölderlin erneut als einen selbstständigen philosophischen Denker, dem die »Philosophie denn doch nicht nur eine Fessel« gewesen sei, sondern »unentbehrliches Glied im Dreitakt der Selbstvollendung des Geistes«. Diese Vollendung habe Hölderlin auf seine Weise zu erreichen versucht: als ein »mythisch-religiöse[r] Dichterphilosoph[]«. Böhms Kompositum konfundiert bewusst die von Strauß proklamierte Differenzierung von Wissenschaft/Philosophie auf der einen, Dichtung/Mythos und Religion auf der anderen Seite und installiert Hölderlin als besonderen Exponenten dieser für den deutschen Idealismus signifikanten Verbindung. Damit steht für Böhm fest, dass der »Straußsche[] Versuch, Hölderlin aus philosophischen Gründen von der Autorschaft des Systemprogramms auszuschließen, als in sich zusammenbrechend« gelten müsse.Footnote 98

Rothacker, in der Sache selbst unentschieden, aber offensichtlich an den epistemischen wie öffentlichkeitswirksamen Konsequenzen einer kollegial geführten geistesgeschichtlichen Kontroverse in der DVjs interessiert, bemühte sich persönlich, wenngleich vergeblich, um eine deeskalierende Verständigung. Böhm habe ihm zwar erklärt, dass ihn Strauß’ »Formulierung nirgends kränke, aber überzeugen läßt er sich durch nichts«. Gegenüber Strauß hielt Rothacker den Opponenten, der sich »in dem philosophischen Verständnis« der religiösen Motive Hölderlins Strauß »überlegen« fühle,Footnote 99 für »völlig unbelehrbar« und sah daher der erneuten Replik mit »lebhafter Erwartung entgegen«.Footnote 100 Strauß nutzte die Gelegenheit, um nach einer Verteidigung seiner Stilanalyse, die instruktive Einblicke in die praktischen Details geistesgeschichtlicher Stiluntersuchungen gewährt, die von Böhm erhobenen Einwände gegen seine philologischen, biografischen und geistesgeschichtlichen Argumente wiederholt zurückzuweisen und im Gegenzug Böhm philologischer Unsauberkeiten zu zeihen. Immerhin konnte Strauß abschließend mit Genugtuung feststellen, dass Böhm seine »grundsätzlichen Einwände gegen die Möglichkeit von Schellings Autorschaft […] aufgegeben« habe. Eine »tiefere Verständigung« mit seinem Antagonisten schien Strauß allerdings nicht mehr zu erwarten, obwohl er an seiner Hoffnung auf eine zukünftige »Einmütigkeit« in der Autorschaftsfrage festhalten wollte.Footnote 101

In der Tat war die Kontroverse damit nicht befriedet, aber zu einem relativen Abschluss geführt. Böhm verzichtete auf eine weitere Stellungnahme und signalisierte überraschenderweise gegenüber Rothacker, dass er seine »Position« aufgebe, »allerdings […] aus ganz anderen Gründen als den gegen ihn vorgebrachten«.Footnote 102 Welche Gründe dies gewesen sind, geht aus der überlieferten Korrespondenz nicht hervor. Böhm ließ den Lesern durch die Schriftleitung nur in kargen Worten mitteilen, dass er eine »umfassende Darstellung Hölderlins« für die Buchreihe der DVjs vorbereite,Footnote 103 die dann auch in zwei Bänden 1928/30 erschien.Footnote 104 An der Sache sollte diese voluminöse Biografie wenig ändern; Böhm wiederholte hier seine Thesen in mitunter wortgleicher Diktion, ohne dabei auf Strauß’ Argumente einzugehen.Footnote 105 Die Forschung entschied zeitgenössisch für Rosenzweigs, Cassirers und Strauß’ Autorschaftszuschreibung.Footnote 106 Auch in der DVjs hatte Böhms These wenig Kredit, was spätestens durch das 1934 nachfolgende Forschungsreferat aktenkundig wurde,Footnote 107 über das Böhm sich allerdings ebenfalls in der DVjs beschwerte: »Die in der Literaturkritik nachgrade dogmatisierte Legende, daß ich Hölderlin zu sehr zum idealistischen Systematiker mache, beherrscht übrigens ebenfalls das Referat von Johannes Hoffmeister […], dessen persönliche Färbung gegen mich dem Leser der Dt. Vjs. kaum entgangen sein wird.«Footnote 108

Als wenig plausibel galt ferner Böhms Behauptung der Klassizität Hölderlins: Strauß hatte diese Epocheneinordnung in seinem Beitrag nicht aufgegriffen, obwohl sie ihn beschäftigte: Im vertrauten Briefwechsel mit Buber sah Strauß Hölderlin sich »schlafwandlerisch […] zwischen Klassik und Romantik« und an den »Romantikerkreisen« vorbeibewegen, »die allein ihn zum Ruhme hätten tragen können und die ihm erreichbar und offen waren […]. Auch das Werk läßt sich […] weder in Klassik noch in Romantik einordnen, wenn es auch der Klassik näher ist.«Footnote 109

Über die Lancierung der Diskussion zwischen Böhm und Strauß hatte sich die DVjs somit als ein Publikationsorgan profiliert, das an den strittigen und akuten Fragen der Hölderlin-Philologie konstruktiv teilhatte. Darüber hinaus hatte die Kontroverse aber auch einige grundlegendere, für das geistesgeschichtliche Selbstverständnis zentrale Aspekte hervorgetrieben. Erstens betraf dies die Methode der Stilanalyse, eine von Strauß textnah und philologisch durchgeführte Praxis, die dem reichlich vage umrissenen Methodenbündel der GeistesgeschichteFootnote 110 Kontur zu geben versprach und damit der Absicht der DVjs-Herausgeber, die Geistesgeschichte philologisch zu verankern,Footnote 111 zuarbeitete. Auch Böhm verstand sich als Geistesgeschichtler, doch Strauß gelang es, zu demonstrieren, wie sich ein Ensemble von methodischen Verfahren (biografischen, philosophischen, exegetischen und stilanalytischen) zu einer integralen literaturwissenschaftlichen Leistung verbinden ließ. Angesichts seines methodologischen Interesses überrascht es kaum, wenn Strauß wenige Jahre nach der Kontroverse Rothacker die Studie Die Metaphysizierung in der literaturwissenschaftlichen Begriffsbildung und ihre Folgen (1929) von Hans Epstein für die DVjs empfahl.Footnote 112 Epstein, wie Strauß ein jüdischer Doktorand von Franz Schultz, argumentierte in seiner Arbeit mit großer wissenschaftstheoretischer Versiertheit gegen die Verselbstständigung abstrakter Epochenbegriffe und deren ungedeckte Rückführung auf ontologisch ungeklärte Entitäten wie den ›germanischen Geist‹ oder andere völkische Identitätskonstrukte. Grolmans metaphorische Kritik an den ›Kästchen‹ der Epochenrasterung fand hier eine politisch konnotierte, durch Max Weber geschärfte Explikation, die allerdings weder dem weltanschaulichen noch dem wissenschaftlichen Programm der DVjs entsprach.

Mit der Methodenfrage hing ein zweiter, für das Selbstverständnis der DVjs bedeutsamer Aspekt zusammen. Strauß hatte gegen Böhms Entdifferenzierungsanliegen die epistemische Unterscheidung von Philosophie/Wissenschaft auf der einen, außerwissenschaftlichem, das heißt religiösem, mythischem und auch poetischem Denken auf der anderen Seite als Basis abendländischer Wissenschaftsauffassung deklariert.Footnote 113 Als Wissenschaft durfte demnach auch die literaturwissenschaftliche Geistesgeschichte weder die Literatur der Wissenschaft zuschlagen und mithin in ihrem spezifischen Kunstcharakter verkennen noch durfte sie ihre wissenschaftliche Darstellungspraxis der Dichtung zu stark anähneln. Für Strauß, der selbst als Dichter tätig war, hatte diese Distinktion eine existentielle Dimension. Für die Geistesgeschichte insgesamt aber spielte sie dem Wissenschaftsanspruch der DVjs-Herausgeber in die Hände und verschob im Gegenzug Akteure wie Gundolf und andere Wissenschaftler aus dem Umfeld Georges an den Rand der Disziplin.Footnote 114 Rothacker etwa hielt Gundolf zwar für einen »genialischen Mann«Footnote 115 mit großer ästhetischer Sensibilität, befürchtete aber wie Kluckhohn die Vernachlässigung der historischen Perspektive und damit den Verlust wissenschaftlicher Dignität.Footnote 116

Theoretisch und methodisch hatte Strauß den Herausgebern der DVjs also einen Dienst erwiesen. In einem dritten, ebenfalls wesentlichen Aspekt folgten sie Strauß allerdings nicht. Als einem engagierten sozialistisch-anarchistischen ZionistenFootnote 117 war Hölderlin ihm nicht zuletzt auch eine politische, weltanschauliche Größe. In seinen beiden Beiträgen für die DVjs bildet sich eine ›jüdische Linie‹ allerdings höchstens in den Referenzen (RosenzweigFootnote 118 und Cassirer) und in seiner »weiterschreibenden« Kommentierungspraxis ab;Footnote 119 Strauß wusste wissenschaftliche und nicht-wissenschaftliche Sphären selbst zu trennen. Er hatte allerdings schon während des Ersten Weltkriegs in außerwissenschaftlichen Kontexten Hölderlins Person und Werk messianisch zu deuten begonnen, etwa wenn er vor dem Jüdischen Jugendverein in Aachen 1916 Hölderlins »Liebe zu der idealen Menschheit« und seine optimistische »Vision einer messianischen Zeit« evozierte, durch die der Dichter »entscheidend von allen anderen Vertretern des deutschen Idealismus gesondert ist und über sie hinausgeht«. Es sei »die Vision eines irdisch vollendeten Lebens, die sich nicht wie das spätchristliche Heilsdogma vom Wirklichen abkehrt, sondern innerhalb der Wirklichkeit sich durchsetzen will«.Footnote 120 Während Böhm hinter Hölderlins zeittypischen »kosmopolitischen Phrase[n] […] glühende Vaterlandsliebe und […] lebendiges Volksbewußtsein« entdeckte,Footnote 121 propagierte Strauß Hölderlin also als Dichter »einer menschheitlichen Utopie«, die Strauß’ »eigene[r] universalistisch-messianischen Idee des Ineinanders von Gedanke und Tat nahekam«.Footnote 122 Diese Tendenz verstärkte sich in den politisch erhitzten Jahren der Weimarer Republik, in denen Strauß seine neue politische und poetische Identität in der dialogischen Philosophie Bubers fand.Footnote 123 Im Mai 1926 bekannte er ihm gegenüber: »Die Beziehung als Ort der Offenbarung der Einen Gottheit – ich brauche Dir nicht zu sagen, lieber Martin, wie stark ich, als ich dieses erste Prinzip von Hölderlins religiösem Leben […] ausgesagt und ausgetan fand, wie stark ich da auf Deine Lehre verwiesen wurde.« Sogar das ambivalente Verhältnis, das Hölderlin zum »deutsche[n] Volk« unterhalte, erschloss sich Strauß über das Konzept eines »›Wehrlos‹-sein[s]«, eines »grenzenlose[n] Offensein[s] zur Beziehung«: »für das deutsche Volk, dessen Beruf ›Liebe‹, dessen Fehler alle auf Beziehungslosigkeit zurückführbar sind (sieh die Hyperionstrafrede).«Footnote 124 In Bubers ökumenischer Zeitschrift Die Kreatur entfaltete Strauß 1927/28 diese Idee in »Stücke[n] einer Hölderlinbiographie« weiter.Footnote 125 Nach einer stammesgeschichtlichen Einordnung deutete er Hölderlins Hyperion hier im Anschluss an Gustav LandauerFootnote 126 erstmals im Blick auf eine zwar standortgebundene, aber universalistische, dynamisch in der Geschichte zu realisierende Gemeinschaftskonzeption aller Menschen. In den Worten Bernd Wittes stellt Strauß’ Arbeit damit »den paradoxen Versuch einer Vollendung deutscher Geistesgeschichte aus dem jüdischen Geiste dar«,Footnote 127 und kontrastierte folglich stark mit der deutschnationalen Ausrichtung, die Böhm, Kluckhohn, Rothacker und andere mit der Geistesgeschichte verbanden.

Da sich in seinen DVjs-Beiträgen (wie auch in den kleineren Hölderlin-Beiträgen, die Strauß im Euphorion unterbrachteFootnote 128) von dieser politischen Haltung nichts findet, konnte Strauß 1928 damit relativ bedenkenlos an der TH Aachen einen Promotionsanspruch erheben. Riskanter, weil deutlich politischer angelegt, war seine parallel fortgesetzte Untersuchung zum Problem der Gemeinschaft in Hölderlins »Hyperion«, die ihm 1929 die Habilitation ermöglichen sollte. In diesem erst 1933 publizierten, von der DVjs wegen angeblicher Überlänge abgelehntenFootnote 129 Text rekonstruiert Strauß im Anschluss an seine Überlegungen in Die Kreatur Hölderlins Gemeinschaftskonzeptionen, wie sie in den verschiedenen Textstufen des Hyperion als postlapsarische Optionen aufscheinen: Neben der exklusiven weltlichen Liebesgemeinschaft und der einsamen Gemeinschaft mit der Natur erkennt er vor allem in den späten Textstufen eine ex negativo aufscheinende universell gedachte »soziale Utopie«:Footnote 130

Drei Wege sind es, auf denen der Mensch in unserem Roman in die ›Heimat der Natur‹, aus der er entwichen ist, wieder einzugehen hofft: der Tod als unmittelbare Einschmelzung des Wesens in die Naturgemeinschaft; die Idylle des Einzelnen oder der Wahlgemeinschaft Einzelner mit der Natur; endlich die Gestaltung einer umfassenden Menschengemeinschaft, die als Ganzes in die Naturgemeinschaft einbezogen ist und sie vollendet.Footnote 131

Franz Schultz gutachtete knapp und positiv; Karl Viëtor ging intensiver auf den Text ein und attestierte Strauß, mit seiner »feinen und eindringenden Analyse des ›Hyperion‹« und seiner »Bemühung um geistesgeschichtliche Einordnung der Ergebnisse« eine vollwertige Habilitationsleistung erbracht zu haben. Die künstlerische wie wissenschaftliche Begabung belege »die Befähigung zum akademischen Lehramt«.Footnote 132

Unerwähnt bleibt in beiden Gutachten der politische Kontext der Habilitationsschrift: Strauß konterte mit seinen Thesen Deutschlands – auch im Zeichen Hölderlins – voranschreitende Entwicklung zu einer nationalistischen Ausgrenzungsgesellschaft. Dieser fiel Strauß selbst kurz darauf zum Opfer: Ende April 1933 wurde er von der TH Aachen beurlaubt. Er durfte aber, da er das Frontkämpferprivileg für sich reklamieren konnte, ab 1934 wieder unterrichten; ein Publikum fand er allerdings nicht mehr. Die »Studentenschaft« forderte, dass insbesondere das »Lehrgebiet« der deutschen Literatur »in die Hände eines deutschstämmigen nationalgesinnten Lehrers gelegt würde«,Footnote 133 sodass sich Strauß 1935 zur Auswanderung nach Palästina gezwungen sah. Was in der ›alten Welt‹ des Hyperion ebenso gescheitert war wie in Deutschland, nämlich die Fortentwicklung zu einer umfassenden, solidarischen Menschengemeinschaft, in der es »kein Nebeneinander, nur ein unendliches Füreinander gibt«,Footnote 134 konnte, so Strauß’ politische Hoffnung, in der ›neuen Welt‹, in Palästina gelingen.Footnote 135

Auch nach 1945 wurde Strauß kein Weg zurück in die DVjs eröffnet. Kurz vor seinem Tod 1953 suchte er jedoch den Kontakt zur Hölderlin-Gesellschaft, der Kluckhohn vorstand, und unterstützte die Sammlungsaktivitäten des Hölderlin-Archivs. Dies ist wahrscheinlich der Grund, warum das Hölderlin-Jahrbuch 1958 postum seine Skizze »Dies sei unter uns Gott« abdruckte,Footnote 136 ergänzt um eine dem Verstorbenen gewidmete Reflexion Bubers zum Hölderlin-Vers »Seit ein Gespräch wir sind«.Footnote 137

Wilhelm Böhm hingegen war zum 1. Mai 1933 der NSDAP beigetreten und Mitglied des NS-Lehrerbunds geworden. Er stand, auch nach 1945, durchgehend mit Rothacker in brieflichem Kontakt, war in der DVjs weiterhin als Hölderlin-Experte präsentFootnote 138 und lieferte Kluckhohn 1943 einen Beitrag zur Hölderlin-Gedenkschrift.Footnote 139 In ›harter Fügung‹ folgte im Hölderlin-Jahrbuch 1958 den Beiträgen von Strauß und Buber ein würdigender Nachruf auf den 1957 verstorbenen Böhm als »Nestor der Hölderlin-Forschung«.Footnote 140 Die Zeitgenossen hatten noch anders geurteilt.

IV.

Die florierende Hölderlin-Forschung veranlasste die Herausgeber, ab 1930 an eine Fortsetzung des Forschungsreferats zu denken. Einen geeigneten Kandidaten fand man in Johannes Hoffmeister (1907–1955),Footnote 141 der im Aprilheft einen philosophiegeschichtlichen Beitrag zu »Hegel und Creuzer« publiziert hatteFootnote 142 und Kluckhohn im Juli 1930 eine »größere Arbeit« über Hegel und Hölderlin anbot.Footnote 143 Kluckhohn reagierte verhalten, mutmaßlich, weil Hoffmeister, der sich die wechselseitige Beeinflussung der Tübinger Stiftler seit seiner Heidelberger Studienzeit zur »Lebensaufgabe« gemacht hatte,Footnote 144 als Doktorand Gundolfs noch vom George-Kreis geprägt war. Dennoch bat Kluckhohn ihn, Hölderlin-Beiträge für die DVjs zu sichten, und Hoffmeister nahm diese Aufgabe dankend an,Footnote 145 obgleich er – nach monatelang ausbleibender Antwort – für seine vergleichende Studie alternative Publikationsmöglichkeiten suchen musste.Footnote 146 Überzeugt von der Qualität seiner geistesgeschichtlichen Rekonstruktion bot er die gekürzte Untersuchung zu »Hegels = Hölderlins Geistbegriff«Footnote 147 zum anstehenden 100. Todestag des Philosophen im April 1931 erneut zur Publikation anFootnote 148 und fand beim philosophisch versierten Herausgeber Rothacker Gehör: Sein Beitrag »Zum Geistbegriff des deutschen Idealismus bei Hölderlin und Hegel«, der im ersten Heft der DVjs 1932 erschien, argumentiert für die Verankerung von Hölderlins und Hegels Geistbegriffen in der christlichen Lehre vom Heiligen Geist.Footnote 149 Insbesondere die Hymnendichtung des »reife[n] Hölderlin« wird Hoffmeister zum »große[n] Zeugnis []eines Offenbarungsglaubens«,Footnote 150 und durch die Referenz auf die »Religionsstiftung des Systemprogrammepilogs« erweiterte er die mit der Strauß-Böhm-Kontroverse begonnene philosophie- und literaturgeschichtliche Positionierung Hölderlins um eine spezifisch christliche Dimension.Footnote 151 Diese wurde wegen Hölderlins Faszination für die (heidnische) Antike von katholischer wie protestantischer Seite intensiv diskutiert.Footnote 152

Für die LiteraturschauFootnote 153 erbat sich Kluckhohn von Hoffmeister hingegen eine weiter gefasste geistesgeschichtliche Darstellung. Im Juli 1933 ließ er den Referenten wissen, dass es ihm »lieb« sei,

wenn in diesem Referat zum Ausdruck kommen würde, dass trotz Böhm und des Streites um das Systemprogramm u.s.w., wodurch der Denker Hölderlin allzu sehr in den Vordergrund gerückt worden ist, die wesentliche Aufgabe heute doch die ist, die Dichtung Hölderlins[,] die Besonderheit seiner künstlerischen Form tiefer zu erfassen […].Footnote 154

Hoffmeister folgte diesem Wunsch und stellte unter dem Titel »Hölderlinliteratur von 1926 bis 1933« neben Editionen auch Beiträge zu Hölderlins Lebens- und Wirkungsgeschichte, zu Antike-Bezügen sowie weltanschauliche und stilanalytische Beiträge vor.Footnote 155 Kluckhohn reagierte wohlwollend, ihm fehlten allein »einige allgemeine Reflexionen über Stand, Aufgaben etc. der Hölderlinforschung mit Bezug auf v. Grolman«,Footnote 156 um so Kontinuität herzustellen. Die Forderung zielte zudem auf eine Evaluation der von Grolman prognostizierten Entwicklungen. Zwar sah Hoffmeister die »übertrieben« betonten »biographischen Aufgaben […] (besonders in psychoanalytischer Richtung)« kritisch,Footnote 157 doch er zögerte, so »zielbewußt und richtungsgebend« zu schreiben wie sein Vorgänger.Footnote 158 Letztlich grenzte er sich von diesem vor allem in der Beschreibung der Hölderlin-Forschung als »Schlachtfeld« ab, »wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen«.Footnote 159 Hoffmeister erkennt stattdessen fruchtbare »Forschungs-Richtungen, -Ebenen und -Ergebnisse« in »einem Gespräch, das zwar unvermeidliche Widersprüche und bedauerliche Härten enthält, aber unter der heimlichen Führung Hölderlins steht«.Footnote 160 Gegen »Verallgemeinerung und Verzerrung«Footnote 161 (z. B. Böhm, ZweigFootnote 162), »Hölderlin-Enthusiasmus und Vergötzung« (u. a. Grolman) und vaterländisch-patriotische »Hölderlinprophetie«Footnote 163 (z. B. Max Kommerell, Friedrich Franz von Unruh, Otto Heuschele)Footnote 164 fordert Hoffmeister programmatisch eine (Re‑)Philologisierung der Hölderlin-Forschung ein, orientiert am zeitgenössischen Vorbild: der textkritischen Dissertation von Friedrich Beißner.Footnote 165

Hoffmeisters Hauptziel war es, der Reputation der Hölderlin-Biografie Böhms den Boden zu entziehen, was er schon in der Korrespondenz mit Kluckhohn ankündigte: »Das Böhm’sche Werk ist meiner Meinung nach völlig unbrauchbar; und ich glaube, es ist nötig, daß das einmal gesagt wird«.Footnote 166 Mit der Doppelkompetenz des Philosophen und Geistesgeschichtlers entfaltet er in seinem Beitrag eine umfassende Kritik an Böhms »rein deskriptive[m], biographische[m], analytische[m] Vorgehen«,Footnote 167 das ohne Kenntnis der Forschung, ohne Fähigkeit der »Einfühlung« in eine »so unvergleichliche[] Gestalt« wie Hölderlin und ohne die notwendige philosophische Beschlagenheit daherkomme. Hoffmeister scheut weder ad hominem-Argumente noch satirische Zitat-Collagen, um Böhm als ehrgeizigen Positivisten zu demaskieren, der unter Verkennung Hölderlins dessen Stilisierung zum ›Dichterphilosophen‹ betreibe.Footnote 168 Das Einzige, was man Böhms Arbeit abgewinnen könne, sei die Provokation zum Widerspruch:

Der Versuch Böhms, die philosophisch-systematische Weite Hölderlins unter Beweis zu stellen, ist ebenfalls fruchtbar, insofern er Probleme und Aufgaben sichtbar macht, die ohne seine Gewaltsamkeiten verborgen geblieben oder schwerer zugänglich gewesen sein würden. Auf jeden Fall bedeutet das Werk Böhms für Hölderlin-Forscher und -Kenner eine Förderung, denn sie haben die Möglichkeit, das Wahre darin vom Falschen zu unterscheiden …Footnote 169

Dass er solch positive Absetzbewegungen etwa in den Arbeiten ViëtorsFootnote 170 und Strauß’Footnote 171 sieht, zeigt sich in den Fußnoten, in denen Hoffmeister gezielt bibliografische Referenzen mitführt, die dem belesenen Hölderlin-Forscher den Widerspruch zu Böhms Ausführungen konsequent vor Augen halten. Im Anschluss an Strauß perhorresziert er beispielsweise Böhms These von einem streng systematisch denkenden Dichter: »Gegen die ›Verwirrung durch solche wesensfremden Züge‹ sei das Bild Hölderlins zu verwahren.«Footnote 172 Generell dienen ihm Strauß’ Arbeiten – neben Beißners Dissertation das »Beste der Hölderlinliteratur der letzten Jahre«Footnote 173 – als Orientierungspunkt, um einen Großteil der Forschung zu sortieren. Als wenig plausibel gelten Hoffmeister hingegen diejenigen stilanalytischen Bemühungen, die Hölderlin im Klassifikationsraster zwischen Klassik und Romantik verorten – eine »literarhistorische[] Einordnungsmanie«, der die aktuelle Forschung durch »eine Reihe von Modeworten (orgiastisch, dionysisch, orphisch usf.)« ohne Mehrwert zuarbeite.Footnote 174

Hoffmeisters Hölderlin-Referat bestätigt Holger Dainats und Rainer Kolks Bilanz: »Das Jahr 1933 markiert für die DVjs keine Zäsur«.Footnote 175 Im Gegensatz zu seinem Vorgänger profiliert Hoffmeister form- und stilanalytische Methoden in der Tradition von Strauß sowie ideen- und problemgeschichtliche Ansätze, die sich mit disziplinärer Kompetenz auf die Philosophie berufen. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive betont er erneut den Kunstcharakter von Hölderlins Dichtung (auch der Spätdichtung!), die im Zeichen von »Forscherfleiß, Eifer, Verantwortungsfreude«Footnote 176 textnaher Analyseverfahren auf Grundlage einer zuverlässigen Textausgabe bedürften. Hier wie andernorts ist Hoffmeisters Blick auf die Hölderlin-Forschung informiert und aktuell,Footnote 177 auch wenn er die pathetisch-vaterländischen Hölderlin-Bilder, etwa aus dem Umfeld Georges, kritisiert, da diese nur »ein fertiges Weltbild an Hölderlin« zu illustrieren suchten.Footnote 178 Die damit explizit aufgebaute Spannung zwischen Politik/Weltanschauung und Wissenschaft kommt keinem Widerstand gleich, vielmehr beharrt Hoffmeister vor dem Hintergrund des philologischen Ethos auf der Eigenständigkeit von Wissenschaft und Kunst gegenüber politisch getriebener Forschung – ganz im Sinne der DVjs-Herausgeber, die sich auf diesem Wege ihre relative Autonomie erhalten wollten. Um seine akademische Karriere zu sichern, trat Hoffmeister dann auch 1936 in die SA, 1940 in die NSDAP ein und konnte sich 1941 mit einer Arbeit über Hölderlin und die Philosophie beim regimetreuen Literarhistoriker Karl Justus Obenauer in Bonn habilitieren; positiv gutachtete neben Hans Naumann auch Rothacker.Footnote 179

V.

Nach dem philosophisch orientierten Bericht Hoffmeisters suchte Kluckhohn wieder einen ausgewiesenen Literaturwissenschaftler für die Fortsetzung. An Grolman war spätestens seit dem »hämischen Referat[]«Footnote 180 zum Biedermeier in Dichtung und Volkstum nicht mehr zu denken. Stattdessen fiel die Wahl auf Kluckhohns ehemaligen Tübinger Assistenten Heinz Otto Burger (1903–1994),Footnote 181 der unter Kluckhohns Ägide mit einer stammesgeschichtlichen Arbeit über das Schwabentum habilitiert und 1940 in Danzig gerade zum außerordentlichen Professor berufen worden war. Mit dem Hölderlin-Kapitel seiner HabilitationsschriftFootnote 182 und seiner Tübinger AntrittsvorlesungFootnote 183 hatte der gebürtige Schwabe sich als Hölderlin-Forscher einen Namen gemacht. In Hölderlin sah er – ähnlich wie Kluckhohn – den »Künder der Volksidee«, der nicht klassische »Menschenbildung«, sondern »Volkwerdung« angestrebt habe.Footnote 184

Burger zögerte denn auch nicht, als sein einstiger Mentor ihn im Sommer 1940 um ein Hölderlin-Referat bat, und dies, obwohl er durch seine Mitarbeit am »germanistische[n] Gemeinschaftswerk« stark eingespannt war;Footnote 185 »und es lockt mich auch. Ich danke Ihnen für die Aufforderung und übernehme das Referat.«Footnote 186 In den folgenden Wochen forderte er wiederholt die Zusendung weiterer Hölderlin-LiteraturFootnote 187 und bat, auf Vollständigkeit bedacht, Kluckhohn auch um die beiden Studien des französischen Germanisten Pierre Bertaux,Footnote 188 der sich in den Jahren der NS-Besetzung Frankreichs in der Résistance engagieren sollte.Footnote 189 Burger vermutete nicht zu Unrecht, dass er Bertaux in seinem Referat womöglich ignorieren müsse: »diese 2 kaum möglich!?«, schreibt er an KluckhohnFootnote 190 und wird sie im Bericht später als »[a]usländische Bücher« nur bibliografisch »registrieren«.Footnote 191

Nach nicht einmal drei Monaten und damit vergleichsweise rasch konnte Burger erfreut gen Tübingen verkünden, dass er das »Hölderlinreferat fertig« habe: »Natürlich ist das Referat zu lang geworden, und so war die Hauptarbeit zuletzt: zusammenstreichen und zusammenstreichen […]. Für 38 Bücher scheint es mir bescheiden zu sein.«Footnote 192

In seinem Bericht »Die Entwicklung des Hölderlinbildes seit 1933« konstatiert Burger, dass die Forschung erst in jüngster Zeit Hölderlin »als Dichter von Kultur und hohem geistigen Rang« gerecht werde. Maßgeblich sei dies der DVjs zu danken, die »[b]ei keinem anderen Dichter […] die Literatur der letzten zwanzig Jahre […] gewissenhafter verfolgt« habe.Footnote 193 Wie Hoffmeister stellt er über die vorangegangenen Forschungsreferate Kontinuität her, grenzt sich aber zugleich, etwa von Grolmans Wunsch nach biografischen und psychoanalytischen Studien, deutlich ab. Hoffmeisters Abkehr von einer zu philosophischen Betrachtung des Dichters habe man hingegen bestätigt. Auch die Dichotomie zwischen Klassik und Romantik spiele, wie von seinen Vorgängerreferenten gefordert, »heute kaum mehr eine Rolle«.Footnote 194 Um zu veranschaulichen, wie sich Burger den Fortgang der Forschung vorstellt, zeichnet er im Hauptteil seines Referats die seines Erachtens »entscheidende Linie des neuen Hölderlinbildes« nach,Footnote 195 beginnend mit zwei breit rezipierten Studien von Kurt HildebrandtFootnote 196 und Romano Guardini.Footnote 197

Mit Hildebrandt wählt Burger den Promotor einer weltanschaulich-völkischen Hölderlin-Deutung, der in Hölderlin. Philosophie und Dichtung (1939), einer »arische[n] Wesensschau«,Footnote 198 den schwäbischen Dichter nicht nur – in den Spuren Böhms – als Urheber des »Systemprogramms« ausweist. Vielmehr aktualisiert Hildebrandt Hölderlin »zum Protagonisten deutsch-vaterländischer Verjüngung« und erklärt ihn, dem geistesgeschichtlichen Narrativ entsprechend, zum frühen Kritiker der aufklärerischen, »humanistisch-weltbürgerliche[n] Überfremdung und Entartung«.Footnote 199 Auch wenn Burger nicht so weit geht, Hildebrandts erfolgreiches, bis 1943 dreimal aufgelegtes Buch – wie retrospektiv Frank-Peter Hansen – als »infantil wirkende, […] aber bösartige Schmäh- und Jubelschrift«Footnote 200 zu disqualifizieren, ist auch sein Urteil ausgesprochen kritisch. Burger ist weder einverstanden mit der »geradezu gehässige[n]« Schiller-Deutung noch mit Hildebrandts »oft mehr als gewalttätige[n] Interpretation, die sich – in maiorem gloriam – Hölderlin selbst gefallen lassen muß«.Footnote 201 Es sind dabei ausdrücklich keine politisch-weltanschaulichen Gründe, aus denen Burgers Unbehagen resultiert, vielmehr philologisch-wissenschaftliche, vor allem kritisiert er Hildebrandts notorische Priorisierung der Philosophie vor der Dichtung.Footnote 202

Anders liege es Burger zufolge bei der Studie des katholischen Theologen Guardini, der in Hölderlin. Weltbild und Frömmigkeit (1939) »allein die Dichtungen ins Auge« fasse und so zeigen könne, dass »Hölderlin […] kein Philosoph, sondern ein Seher« gewesen sei. Guardini sei allerdings nicht um eine geistesgeschichtliche Einordnung bemüht, ja lasse »Hölderlins eigene Entwicklung […] – bedenklicherweise – fast ganz außer acht«, um seine »echt religiöse Grunderfahrung« zu erfassen.Footnote 203 Für ihn sei Hölderlin »ein mythischer Dichter«,Footnote 204 was »vom christlichen Standpunkt aus« problematisch, nach Burger aber gerade »einer der Hauptgründe für die Liebe« ist, »die unsere Zeit Hölderlin entgegenbringt«.Footnote 205 Dabei rückt Burger Guardini an die »›lebensnahe[]‹ Literaturwissenschaft – man denke an Franz Koch, Herbert Cysarz, Gerhard Fricke u. a.« heran, also in die Nähe von prominenten NS-Germanisten, die allerdings ebenso wie Guardini immer noch die genuin poetische Weltwahrnehmung außer Acht lassen würden. Denn

[s]o richtig der Grundsatz ist, Hölderlins Aussagen statt als willkürliche Erdichtungen oder dichterische Verkleidung philosophischer Einsichten als Glaubenserfahrung […] zu werten, so wenig kann darüber hinweggegangen werden, daß Hölderlin bei dem, was er sagt und wie er es sagt, auch gebunden ist an die Sprache.Footnote 206

Burger kann durch die zweigleisige Kritik an Hildebrandt und Guardini auf geschickte Weise Hölderlin emphatisch als ›Dichter‹ anerkennen und somit die eingangs aufgestellte Behauptung, die Hölderlin-Forschung sei zu einem »der Ruhmesblätter deutscher Literaturwissenschaft« geworden, erhärten.Footnote 207 Als Beleg dafür dient auch die 1935 erschienene Monografie von Paul Böckmann: Hölderlin und seine Götter, die für Burger wie für viele Hölderlin-Forscher der Zeit anschaulich demonstriert, dass die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Dichter schon viel weiter sei als diejenige der geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplinen: »Der Literaturwissenschaftler tritt neben den Philosophie- und den Religionswissenschaftler, und damit erscheint Hölderlin nicht mehr in erster Linie als Philosoph oder Seher, sondern vor allem als Dichter«.Footnote 208 Böckmann mache an den späten Hymnen Hölderlins die »mythische Gestaltung der Lebenszusammenhänge zu Göttern als sprachlichen Akt begreiflich«,Footnote 209 lasse damit das idealistische Deutungsschema hinter sich und so erstmals »[d]as Dichterische« sichtbar werden.Footnote 210 Sein formgeschichtlicher Ansatz erlaube, Hölderlin auf diese Weise literatur- und geistesgeschichtlich in der Nachfolge Klopstocks zu situieren und von Schiller und Goethe abzugrenzen.Footnote 211

Die positive Wertung des Böckmann’schen Zugangs zum Spätwerk vertieft Burger mit der positiven Erwähnung von Eugen Gottlob Winklers postum erschienenem Aufsatz Der späte Hölderlin (1937), demzufolge ebenfalls »Dichtung […] nicht bloßes Ornament, sondern eine besondere Art mit dem Leben geistig fertig zu werden«, bedeute.Footnote 212 Ohne Winklers Konflikte mit dem NS-Staat oder seinen Suizid 1936 zu erwähnen,Footnote 213 würdigt Burger dessen Beitrag als Dokument eines »neue[n] Hölderlinverständnis[ses]«, das »Dichten« als einen »autonome[n] Akt des Umgangs mit dem Sein, von gleichem Rang mit Reflexion und Tat«, anerkenne. Der auf Reflexion setzende »Intellektuelle (auch im guten Sinne)« erkenne im Dichter, wie im »wahrhaft politischen Menschen […], daß es zwar nur ein Sein, aber verschiedene Weisen es zu erfahren und zu bewältigen gibt, weshalb die Menschen außer im geistigen Raum der Zivilisation in dem der Geschichte und des Mythos leben«.Footnote 214 Burger leitet aus dieser zutiefst rationalismuskritischen These die Notwendigkeit ab, die Beschäftigung mit der Dichtung zu verstärken, zumal die Editionsphilologie Fortschritte mache und die Literaturwissenschaft mit interpretatorischen Herausforderungen versorge.Footnote 215 Trotz deutlich weltanschaulichem, irrationalistischem Impetus setzt Burger so zugleich »eine Versachlichung der Diskussion um Hölderlins Dichter-Priestertum« fort.Footnote 216

Kluckhohn zeigte sich mit der pünktlich eingereichten Sammelrezension zufrieden, unterstützte Burgers Interpretationenband Gedicht und Gedanke (1942) und empfahl ihn wiederholt für Professuren; etwa 1942 in StuttgartFootnote 217 und dann 1943 erfolgreich in Erlangen, wobei er explizit darauf hinwies, dass sich Burger mit dem Forschungsbericht als Hölderlin-Experte und fähiger Kritiker bewährt habe.Footnote 218 Als solchen beauftragte ihn Kluckhohn 1950 dann auch mit der Fortsetzung der Forschungsberichte,Footnote 219 die allerdings erst nach jahrelanger Bearbeitungszeit 1956 erschien.Footnote 220 Die Forschung war inzwischen quantitativ so angeschwollen, dass der Referent große Schwierigkeiten hatte, den Überblick zu wahren. Er rechnete Kluckhohn vor, dass die vom Hölderlin-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart 1953 publizierte Hölderlin-BibliographieFootnote 221 »für die Zeit von 1940–1950 über 900 Nummern« aufführe, »bis 1955 sind es sicher mehr als 1000 (tausend), und darunter befinden sich alle Hölderlin-Jahrbücher mit je rund 10 Beiträgen«.Footnote 222 Immerhin konnte sich Burger auf die regelmäßig im Jahrbuch der Hölderlin-Gesellschaft publizierten Literaturberichte stützen.Footnote 223 Qualitativ war es zu einer unter anderem durch Heidegger inspirierten, aber, wie nicht nur Burger beklagte, »verstiegen[en]«Footnote 224 und »ins schier Überhirnige aufgestelzte[n] Hölderlin-Literatur« gekommen.Footnote 225 Kluckhohn beanspruchte für die DVjs folgerichtig keine Vollständigkeit mehr: »Beschränken Sie sich um Gottes willen auf die wesentlichen Arbeiten, und ich will Ihnen auch da freie Hand geben und sage: auf die Arbeiten, die Sie selbst für die wesentlichen halten«, denn das »Prinzip der Vollständigkeit ist Sache der Hölderlin-Bibliographie und nicht eines Hölderlin-Referates in unserer Zeitschrift«.Footnote 226

Wichtig war der DVjs aber erneut der Eindruck von Kontinuität, der sich durch die Forschungsreferate auch über die ›Zäsur‹ von 1945 hinweg gezielt herstellen ließ.Footnote 227 Burger verzichtete dementsprechend auf jede politische Kommentierung oder Historisierung der vor 1945 entstandenen Beiträge, lobte vielmehr undiskriminiert auch Beiträge zur Gedenkschrift, die Kluckhohn anlässlich von Hölderlins 100. Todestag 1943 herausgegeben hatte.Footnote 228 Allein die »heut[ige] […] Neigung, den politischen Einschlag in Hölderlins dichterischer Vorstellungswelt stärker in Betracht zu ziehen«, also die marxistisch ausgerichtete Forschung seiner Gegenwart, wird als solche charakterisiert.Footnote 229

Die Invisibilisierung der politischen Vergangenheit diente nicht zuletzt auch Kluckhohn, dem Burger als dem »einstigen Präsidenten der Friedrich-Hölderlin-Gesellschaft« seinen Text widmete.Footnote 230 In der Tat kann man in Kluckhohn den wesentlichen Garanten für die Stabilisierung und Spezialisierung der Hölderlin-Forschung innerhalb wie außerhalb der DVjs identifizieren: Mittels der Zeitschrift gab er über die Zäsur von 1933 hinweg wesentliche Impulse für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Hölderlin, in der Zeit des ›Dritten Reichs‹ sorgte er mit populärwissenschaftlichen Reden und Schriften für eine dem Nationalsozialismus angepasste Dichterverehrung und war maßgeblich an der Begründung und Organisation von Hölderlin-Edition und Hölderlin-Gesellschaft beteiligt. Dass inmitten des Kriegsgeschehens allein aus diesem Umfeld mehr als 1.500 Seiten ›Hölderliniana‹ entstanden, wäre ohne die finanzielle, organisatorische und ideelle Unterstützung durch die NS-Kulturpolitik nicht denkbar gewesen. Im besiegten und besetzten Deutschland erwies sich Kluckhohn erneut – freilich unter veränderten politischen Vorzeichen – als gut vernetzter Akteur und gewährleistete die kontinuierliche Fortsetzung der beiden Hölderlin-Großprojekte im Zeichen des ›reinen Dienstes am Dichter‹ über die Zäsur 1945 hinaus.Footnote 231

VI.

Kluckhohn verband mit Hölderlin und der Hölderlin-Forschung zunächst erstaunlich wenig: Sowohl in seiner Habilitationsschrift Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik (1922) als auch in seiner Epochendarstellung Die deutsche Romantik (1924) finden sich kaum Erwähnungen des schwäbischen Dichters. Kluckhohn empfand dies als Mangel und versuchte 1921, seinen Doktoranden Gottfried Hasenkamp davon zu überzeugen, über ›Hölderlin und die Romantik‹ zu promovieren.Footnote 232 Erst der Wechsel von der Universität Wien nach Tübingen 1931 brachte Hölderlin auf Kluckhohns eigene akademische Agenda. Als Ordinarius in der Hölderlin-Stadt war sein Engagement allerdings zunächst vor allem populärwissenschaftlich, und das heißt auch: weltanschaulich ausgerichtet. Augenfällig wird dies in einer Reihe von Vorträgen, die er in den politisch brisanten Jahren 1932 und 1933 hielt.

Den Auftakt bildete im Mai 1932 der Festvortrag »Goethe und die jungen Generationen«, in dem Kluckhohn dem laudatorischen Anlass, dem 100. Todestag des Dichters, nur in ambivalenter Weise nachkam, ja sogar das »Recht zu einer Goethefeier« explizit in Frage stellte und im Rekurs auf die Romantik überraschend viele goethekritische Stimmen zu Wort kommen ließ.Footnote 233 Goethe zählte für ihn im Unterschied zu den Romantikern nicht zu den Exponenten der ›deutschen Bewegung‹ und war daher für die aktuell ersehnte politische Neuordnung auch nur bedingt zu gebrauchen. Die Dichter des Expressionismus wie der Neuen Sachlichkeit wüssten, so Kluckhohn, mit ihm nichts anzufangen. »Und auch die Richtungen, die heute […] auf der Gegenseite zur neuen Sachlichkeit stehen, die verwurzelt sind in Stamm und Landschaft und im Religiösen, erscheinen als goethefern«.Footnote 234 Die Bilanz fiel für eine Laudatio dann auch ausgesprochen negativ aus: »So manches von Goethes Werken ist uns heute ferngerückt […]. Gewiß, Goethe kann uns kein Kontinent sein, auf dem wir bauen könnten, auch eine Weltanschauung nicht«.Footnote 235 Weltanschauliches Potenzial hingegen liege in der romantischen Überbietung Goethes: »Erst Goethe und Schiller und die Romantik und Hölderlin und Kleist und Jean Paul machen die Deutsche Bewegung aus«.Footnote 236

Diese geistesgeschichtlich synthetisierte Einheit der ›deutschen Bewegung‹Footnote 237 verknüpfte Kluckhohn im Dezember 1932 anlässlich von drei Rundfunk-Vorträgen zur »Wendung in der Dichtung der Gegenwart« mit Vorstellungen einer ›konservativen Revolution‹,Footnote 238 motiviert durch die Hoffnung, die nationalen Kräfte gegen die gemeinsamen Feinde: Kommunismus, Sozialismus und Liberalismus, zu sammeln.Footnote 239 Nationalsozialistisch war diese Stellungnahme (noch) nicht. Erst als mit der ›Machtübernahme‹ die geistige »Volkwerdung« ein realpolitisches Korrelat erhielt, war auch Kluckhohn bereit, den neuen Staat als Realisat der poetisch bereits vorweggenommenen ›deutschen Bewegung‹ zu werten und auf diese Weise Kontinuität anzuzeigen. Nach Dieter Langewiesches vergleichender Einschätzung kann man an Kluckhohns Reaktion auf den NS-Staat beispielhaft beobachten, wie »eine illusionäre, weil von irrigen Erwartungen ausgehende fachwissenschaftliche Selbstgleichschaltung in eine nachholende, mit Zustimmung verbundene übergehen konnte«.Footnote 240

Sichtbar wird dieser Vorgang an einem Vortrag, den Kluckhohn am 24. Mai 1933, und damit wenige Tage nach den Bücherverbrennungsaktionen, im Rahmen einer Ringvorlesung zur »Deutsche[n] Gegenwart und ihre[n] geschichtlichen Wurzeln« an der Universität Tübingen hielt: »Die Scheiterhaufen, auf denen viele Bücher der einen Richtung der Dichtung der Gegenwart heute verbrannt werden«, sind ihm ein »flammendes Symbol« für die notwendig gewordene »Auseinandersetzung im Kampfe«.Footnote 241 Der Text mit dem Titel Die Gegensätze in der Dichtung der Gegenwart und ihre geistesgeschichtlichen Voraussetzungen (1933) liest sich aus der Retrospektive wie eine Handreichung für die marodierende studentische Jugend.Footnote 242 Denn Kluckhohn disqualifizierte in seinem Beitrag die Dichter der Moderne als Vertreter einer »wurzellos« gewordenen, vereinzelnden Weltanschauung, in der man in der Tradition der Aufklärung keine »deutschen Kräfte[]« und keine »Bindungen der Gemeinschaft« mehr spüren könne.Footnote 243 Auch vor antisemitischen Aussagen schreckte der Germanist nun nicht mehr zurück.Footnote 244 Man müsse sich auf die gemeinschaftsorientierten Gegenkräfte, unter anderem auf George und Paul Ernst, und auf die historischen Vorläufer der ›deutschen Bewegung‹ besinnen – und zu diesen zählte selbstredend auch Hölderlin.Footnote 245 Nur vier Tage später, am 28. Mai 1933, konnte Kluckhohn dieses Plädoyer verstärken und anlässlich des 90. Todestags Hölderlin als Dichter des nationalsozialistischen Deutschlands feiern:

Heute erleben wir eine grosse Wendung: die Idee des Volkes ist wieder lebendig geworden und stark. […] Ich glaube, wir können nichts Besseres tun in diesen Tagen, da zum 90. Male sein Todestag wiederkehrt, als dass wir uns bei dem deutschen Aufbau in seinem Sinne uns bemühen, voll Hingebung, voll tiefem Verantwortungsbewusstsein, damit dem äusseren Neubau des deutschen Vaterlandes auch die innere Durchseelung entspricht, und einst jenes Wort des Dichters Wahrheit werde, wo er spricht von dem ›himmlischen Tag‹, den er ersehnt, wo ›unsere Städte nun hell und offen und wach, reineren Feuers voll und die Berge des deutschen Landes Berge der Musen sind‹.Footnote 246

Philologisch und interpretatorisch blieb Kluckhohns Auseinandersetzung mit Hölderlin im Ertrag ausgesprochen dünn. Dies änderte sich auch in den 1930er und 1940er Jahren nicht, in denen er sich intensiv als Wissenschaftsorganisator für Hölderlin, die Hölderlin-Edition und die Hölderlin-Gesellschaft einzusetzen begann. Der ›Gegenklassiker‹ diente ihm zugleich als politisch-weltanschauliche Referenz, über die er seine NS-Konformität öffentlichkeitswirksam zur Schau stellen konnte. Dies mochte er auch deswegen als notwendig erachtet haben, weil er zwar Mitglied der NS-Volkswohlfahrt, der NS-Kriegsopferversorgung und des NS-Reichskriegerbunds, aber – anders als RothackerFootnote 247 – nicht Mitglied der NSDAP war.Footnote 248 Da sich Weltanschauung und Wissenschaft jedoch nur schwer voneinander separieren lassen, beeinflusste die politische Instrumentalisierung mitunter auch Kluckhohns genuin wissenschaftliche Beiträge. In seiner Abhandlung zum »Berufungsbewußtsein und Gemeinschaftsdienst des deutschen Dichters im Wandel der Zeiten« etwa, den er 1936 in der DVjs platzierte,Footnote 249 zeigt er anhand von autorpoetischen Selbstaussagen unter anderem am Beispiel Hölderlins auf, welche »gemeinschaftsbildende Kraft« der Dichtung zu entnehmen sei:

Um dieser Kraft willen ist ihm der Dichter Sänger der Gemeinschaft, der religiösen und der vaterländischen, […] und sein Publikum weder der einzelne noch die Menge, sondern das Volk. ›Sänger des Volks‹ zu sein, den Genius, den ›guten Geist des Vaterlandes‹ zu künden, Lebensführer, Vorleber zu sein bis zum Opfertod, Priester und Seher, Mittler zum Göttlichen, das ist ihm die Berufung des Dichters.Footnote 250

Wie in seinen popularisierenden Vorträgen aus den Jahren um 1933 zeichnet Kluckhohn hier ein optimistisches Bild für die Gegenwart: So könne man zeitgenössisch bei Dichtern generell von einem wiedererwachten poetischen »Berufungsbewußtsein« ausgehen,

das sich nicht nur sich selbst, sondern überindividuellen Mächten, dem eigenen Volke und Gott, verpflichtet und verantwortlich weiß […]. Ihre Überzeugungen bilden einen Gegensatz zu vielem, was ein Jahrhundert lang und länger landläufige Meinung war, können aber in Klopstock, Herder, Hölderlin und anderen Großen der ›deutschen Bewegung‹ und in deutschen Dichtern viel früherer Zeiten ihre Vorfahren sehen.Footnote 251

Als ihm 1937 durch den Tübinger Philosophen Theodor Haering der Vorsitz der 1921 gegründeten heimatpflegenden Vereinigung zur Erhaltung des Hölderlinturms angetragen wurde,Footnote 252 lehnte Kluckhohn diesen ›Dienst an der Gemeinschaft‹ noch ab. Doch dauerhaft konnte und wollte er sich als Tübinger Ordinarius der akademischen Verantwortung für den schwäbischen Nationaldichter nicht entziehen.Footnote 253 Gemeinsam mit der Stadt Tübingen und der Universität bemühte er sich in den ersten Kriegsjahren um die Zusammenstellung und Publikation der bereits erwähnten Gedenkschrift, die 1943 zu Hölderlins 100. Todestag erschien. Ab November 1940 lud er dazu, durch seine DVjs-Herausgebertätigkeit bestens vernetzt, zahlreiche potenzielle Beiträger ein, darunter Beißner, Böckmann, Böhm, Burger, Haering, Heidegger,Footnote 254 Hildebrandt, HoffmeisterFootnote 255 und Eduard Lachmann.Footnote 256 Grolman und Strauß blieben, wenig überraschend, unberücksichtigt. Im Gegenzug hielt Kluckhohn, wie er Rothacker gegenüber eingestehen musste, Hölderlin-Beiträge, die der DVjs zur Publikation vorgeschlagen wurden, zurück.Footnote 257 Als dann Anfang 1941 ersichtlich wurde, dass es in der Reichskanzlei Interesse an einer Hölderlin-Ausgabe gab, man gar zur finanziellen Unterstützung bereit schien, rückte auch der von den Philologen langgehegte Wunsch, eine neue, historisch-kritische Hölderlin-Edition auf den Weg zu bringen, in greifbare Nähe. Man gründete im April 1941 eine Zweckvereinigung ›Hölderlin-Gesamtausgabe‹, richtete in Stuttgart eine Arbeitsstelle an der Landesbibliothek einFootnote 258 und strebte die institutionelle Transformation der Vereinigung zur Erhaltung des Hölderlinturms in die Hölderlin-Gesellschaft an. Nach dem Tod von Julius Petersen im August 1941 wurde Kluckhohn, wie Petersen Mitglied der Deutschen Akademie, der designierte Vorsitzende der Zweckvereinigung; seine Gedenkschrift konnte mithin als »Vorläuferin eines künftigen Jahrbuchs« figurieren.Footnote 259 Die schwäbischen Pläne wurden unter anderem durch die DVjs reichsweit ausgeflaggt: Im Herbst 1941 erschien ein Aufruf zur Unterstützung der Editionspläne,Footnote 260 1942 ein weiterer zur Gründung der Hölderlin-Gesellschaft,Footnote 261 1943 lancierte Kluckhohn eine Annonce anlässlich von Hölderlins 100. Todestag.Footnote 262 Kluckhohn war zum organisierenden Zentrum der wissenschaftlichen und politischen Hölderlin-Kollaboration geworden, von der neben den beteiligten Philologen auch Politiker in Tübingen, in der Landeshauptstadt Stuttgart und im ›Reich‹ stark profitierten.Footnote 263

Die neben den akademischen Verpflichtungen laufende Redaktion der Gedenkschrift, die Vorbereitung der Vereinsgründung und des Jahrbuchs Iduna sowie die Organisation der näher rückenden Festivitäten zu Hölderlins Todestag hielten Kluckhohn, ganz abgesehen von der fortgesetzten Tätigkeit für die DVjs,Footnote 264 in der Folgezeit in Atem. In seiner zur Gründung der literarischen Gesellschaft in Tübingen gehaltenen Gedenkrede »Hölderlin im Bilde der Nachwelt« setzte er die bewährte Überlagerung des wissenschaftlichen Diskurses durch weltanschaulich-politisches Dichterlob fort: Erneut wird Hölderlin als ein »Glied der Deutschen Bewegung« und damit als Antipode von Aufklärung und Klassik identifiziert, dem es um ein »Ringen um Gemeinschaft« gegangen sei.Footnote 265

Es dauerte nicht lange, bis neben der Landes- auch die NS-Reichspolitik auf die Hölderlin-Aktivitäten der Schwaben aufmerksam wurde und zur Aufrechterhaltung der Kollaboration die Philologen auf weitere politische Zugeständnisse verpflichtete. Kluckhohn musste schließlich sogar seine Ambition auf die Präsidentschaft der Hölderlin-Gesellschaft aufgeben und auf Druck des RMVP seinem ehemaligen Studenten, dem NS-Dichter, SA- und SS-Mann sowie Parteifunktionär Gerhard Schumann,Footnote 266 das Amt überlassen. Drei Tage nach der Tübinger Gedenkfeier kommentierte Rothacker trocken: »Du wirst schön abgejagt sein. Gratuliere zum neuen Präsidenten!«Footnote 267

Kluckhohns Engagement blieb dennoch ungebremst. Weiterhin umging er dabei jede Vertiefung in die Hölderlin-Philologie und lieferte für den ersten Jahrgang der Iduna 1944 stattdessen eine Darstellung zur Rezeption, mit der er die gegenwärtige Relevanz des schwäbischen Nationaldichters untermauern wollte. Bereits in der Gedenkrede hatte er die »langen Kämpfe an der Ostfront« erwähnt.Footnote 268 In seinem Iduna-Beitrag zitiert er nun ausführlich aus Briefen, die ihn anlässlich von Hölderlins Todestag von der Front und von Hinterbliebenen gefallener Soldaten erreicht hätten.Footnote 269 In all diesen Egodokumenten wird die Dichterverehrung der deutschen Soldaten beschworen, die quasi mit ›Hölderlin im Tornister‹ in den Kampf für eine prononciert deutsche Gemeinschaft zogen, während man an der Heimatfront Hölderlins Ode »Der Tod fürs Vaterland« rezitierte.

Der militaristische, völkisch-deutsche Hölderlin-Kult, an dem Kluckhohn maßgeblich beteiligt war, steht in einem kaum zu überbietenden Kontrast zu den von Ludwig Strauß propagierten universalistischen Gemeinschaftsvorstellungen allgemeiner Menschenverbrüderung. Zugleich aber verdankt die Hölderlin-Forschung dem so zweischneidigen oratorischen, organisatorischen und politischen Engagement des Tübinger Ordinarius wesentliche wissenschaftliche Fortschritte, die sich nicht zuletzt in der DVjs spiegeln.

VII.

Wir kommen zurück auf unsere Ausgangsfrage nach den Rollen, die Hölderlin und die DVjs in einer Zeit füreinander spielten, in der sich die Geisteswissenschaften zunächst disziplinär und methodisch konsolidieren und dann, nach 1933, unter schwierigen Bedingungen strategisch mit der Politik arrangieren mussten – und dies, wie das Beispiel Kluckhohn gezeigt hat, durchaus zugunsten der Wissenschaft tun konnten.

Unsere Rekonstruktionen haben gezeigt, dass die Beschäftigung mit Hölderlin der noch jungen DVjs und ihren Akteuren in der Zeit der Weimarer Republik die willkommene Gelegenheit verschaffte, sich innerwissenschaftlich wie weltanschaulich zu profilieren. Die Zeitschrift konnte über die kritische Kommentierung weltanschaulich imprägnierter Schriften zu Hölderlin eine Demarkationslinie zu der vor allem außerakademisch kultivierten kunstreligiösen und jugendbewegten Dichterverehrung ziehen und so die epistemische Dignität des literaturwissenschaftlichen Zugangs zu Hölderlin herausstellen. Dabei musste die politische Konnotierung, die der Gegenstand mit sich brachte, in der Forschung nicht aufgegeben werden. Vielmehr konnte sie unschwer implizit mitgeführt werden, um die Geistesgeschichte als gesellschaftspolitisch relevanten Faktor zu behaupten. Denn insbesondere die nationaldeutsche, später auch nationalsozialistische Indienstnahme des Dichters und bestimmter Teile seines Werks resonierte nolens volens auch in den der ›reinen Wissenschaft‹ gewidmeten Hölderlin-Beiträgen. Kluckhohn wusste darüber hinaus die Hölderlin-Begeisterung in seiner populärwissenschaftlichen Vortragstätigkeit aufzugreifen und sich als ein politisch engagierter, für die deutsche Nation und den deutschen Staat einstehender Wissenschaftler zu inszenieren, dessen Verantwortung nicht an den Mauern des universitären Elfenbeinturms endete. Die neugermanistische Geistesgeschichte fand so nicht nur in der Literaturgeschichte Elemente der ›deutschen Bewegung‹, sondern kultivierte auch ihr eigenes Image als gewichtiger Teil aktueller deutschnationaler Revitalisierung.

Im Rahmen dieser weltanschaulichen Determinanten florierte die Forschung: Zwar grenzte der nationalistische Zugriff bald liberale und linke Interpretationskontexte ebenso aus wie jüdische, sodass die DVjs wie die gesamte deutsche Hölderlin-Forschung wichtige und zukunftsweisende Impulse, wie sie von Strauß, Epstein oder Bertaux, mit Blick auf die Psychoanalyse auch von Grolman, formuliert wurden, verpasste und später mühsam aufholen musste.Footnote 270 Doch die DVjs hatte, vor allem durch den regulierenden und ›kollektivierenden‹ Charakter der Forschungsreferate, wesentlich Anteil an der Aufwertung von Hölderlins zuvor weitgehend ignoriertem Spätwerk, trug durch die literaturgeschichtliche Integration von »Neben- oder Gegenklassiker[n]«Footnote 271 maßgeblich zu einem differenzierteren Blick auf die Goethe-Zeit mit ihren philosophie- und religionsgeschichtlichen Aspekten bei und schärfte in theoretischer und methodischer Hinsicht den Literaturbegriff und das literaturwissenschaftliche Arsenal. Auf diese Weise konnte sich das geistesgeschichtliche ›Paradigma‹, das sich um 1930 herum in den Augen einiger Akteure bereits erschöpft zu haben schien,Footnote 272 noch für einige Zeit halten und zugleich konstruktiv seine eigene methodische Ablösung durch Formgeschichte und Werkimmanenz vorbereiten helfen. Zwar lehnte Kluckhohn 1943 gegenüber Hermann Niemeyer die Konzipierung und Herausgabe einer eigenen Sammlung von Hölderlin-Interpretationen ab,Footnote 273 hatte aber in die Hölderlin-Gedenkschrift mehrere Interpretationen aufgenommenFootnote 274 und die von Burger zusammengestellte Sammlung Gedicht und Gedanke angeregt, in der nicht zuletzt eine Interpretation zu Hölderlins Ode »Heidelberg« aus der Feder Emil Staigers Platz fand.Footnote 275 »Meines Erachtens«, schrieb Kluckhohn 1941 an Heidegger, »sind tiefschürfende Interpretationen einzelner Gedichte H.’s dasjenige, was wir heute am nötigsten brauchen und was am fruchtbarsten sich auswirken dürfte«.Footnote 276 Es waren, so kann man vermuten, nicht zuletzt die schwierigen, textkritik-, kommentar- und deutungsbedürftigen Texte Hölderlins, die werkimmanente Interpretationsverfahren herausforderten.

Vor diesem Hintergrund konnte die DVjs über ihre Teilhabe vor allem am wissenschaftlichen Hölderlin-Diskurs eine besondere Kontur gewinnen und sich etwa von den Hölderlin gewidmeten Aktivitäten im Euphorion, später Dichtung und Volkstum,Footnote 277 unterscheiden, ja vom Konkurrenzblatt gezielt abgrenzen. Dies betraf zunächst das Format der Beiträge: Die DVjs war an den ›großen‹ Fragen und geistesgeschichtlichen Zusammenhängen interessiert und schloss daher »Materialsammlungen«, Einzelrezensionen und »Funde, die nicht von ganz besonderer geistesgeschichtlicher Bedeutung« waren, programmatisch aus ihren Heften aus.Footnote 278 Im Euphorion (wie in der Iduna bzw. im Hölderlin-Jahrbuch) hingegen fanden auch kleiner dimensionierte Beiträge Platz, so konnten hier etwa Strauß und Grolman ihre Archivfunde zu Hölderlin,Footnote 279 Beißner seine textkritischen Skizzen über die Hölderlin-PhilologieFootnote 280 sowie zahlreiche Rezensenten ihre Einzelbesprechungen zur Hölderlin-Forschung unterbringen; auch Beiträge zur gegenwartsliterarischen Rezeption Hölderlins, die im historischen Profil der DVjs keinen Platz hatten, waren hier erwünscht.Footnote 281Euphorion war der DVjs zwar als Forum der Hölderlin-Forschung mit SammelreferatenFootnote 282 und KontroversenFootnote 283 vorangegangen und konnte auf diese Weise auch in den 1930er Jahren weiterhin als Ort wichtiger akademischer Auseinandersetzungen und Konsensfindungen firmieren; mitunter bezog man auch direkt gegen in der DVjs erschienene Beiträge zu Hölderlin Stellung.Footnote 284 Doch der DVjs gelang es bald, nicht nur im Bereich der Hölderlin-Forschung aufzuholen und durch Kluckhohns Geschick den fortschreitenden Prozess wissenschaftspublizistischer Ausdifferenzierung trotz ökonomischFootnote 285 und politisch prekären Bedingungen für sich zu nutzen.

Claudia Alberts Vermutung für die Zeit ab 1933, dass »DVjs und Hölderlin-Jahrbuch der distanzierten, allenfalls einfühlenden Betrachtung« verschrieben waren, während »in Dichtung und Volkstum eher Außenseiter der Hölderlin-Forschung wie Pongs und in der Zeitschrift für deutsche Bildung die zunehmend hilfloser werdenden Vermittler von ›Hölderlins Sendung an unsere Jugend‹« zu Wort kamen,Footnote 286 können wir jedoch nur bedingt teilen, und zwar sowohl im Blick auf die Wissenschaft als auch auf die Weltanschauung.

Im Blick auf die Wissenschaft vermitteln unsere Beobachtungen den Eindruck, dass sich Euphorion/Dichtung und Volkstum und DVjs über einige zentrale Protagonisten der Hölderlin-Forschung weitgehend einig waren. So wurden Beißner und Böckmann einhellig gelobt;Footnote 287 und Beißners wie Pongs’ in Dichtung und Volkstum geäußerte Kritik an BöhmFootnote 288 oder auch an HildebrandtFootnote 289 bestätigte Hoffmeisters beziehungsweise Burgers gleichsam scharfes Urteil aus der DVjs. Mit Grolman, Strauß und Hoffmeister sowie mit Eduard Lachmann und Theo Pehl kamen zudem auch in der DVjs Autoren – und mit dem Niederländer Sjoerd Gaastra gar ein internationaler Beiträger – zu Hölderlin zu Wort, die aus unterschiedlichen Gründen (noch) am Rand des Wissenschaftssystems standen oder sich in der Hölderlin-Forschung gerade erst profilierten. Dass schließlich Pongs bevorzugt für Dichtung und Volkstum schrieb, ja 1943 durch einen eigenen Forschungsbericht an der nationalsozialistischen Hölderlin-Euphorie des Gedenkjahres teilhaben wollte,Footnote 290 begründet sich weniger aus seinem Außenseiterstatus oder aus Konkurrenz als aus seiner Herausgeberschaft; ein umfangreicher Beitrag von ihm fand dann auch Aufnahme in die Iduna.Footnote 291 Dieses auf Hölderlin spezialisierte Jahrbuch versammelte zahlreiche ausschließlich weltanschauliche Beiträge, wie gezeigt nicht zuletzt aus der Feder Kluckhohns, der bis Mitte der 1950er Jahre als Herausgeber beider Zeitschriften die Interessen von DVjs und Iduna/Hölderlin-Jahrbuch aufeinander abzustimmen wusste. So erschien beispielsweise noch im Herbst 1943 in der DVjs ein ausführlicher, eigentlich für die Iduna vorgesehener Bericht von Hans Pyritz zu den jüngst erschienenen, von Beißner verantworteten ersten Halbbänden der Stuttgarter AusgabeFootnote 292 – DVjs und Hölderlin-Gesellschaft verstärkten sich gegenseitig und verschafften sich mit ihren Publikationen in der Zeitschriftenlandschaft einen eigenen Platz. Die Hölderlin-Forschung war mithin in der DVjs sowohl für das seit Mitte der 1920er Jahre verfolgte Ziel einer philologischen Absicherung der Geistesgeschichte als auch für die Entwicklung hin zu einer literaturgeschichtlichen Fachzeitschrift, die verschiedene Ansätze disziplinär integrierte, ein maßgeblicher Faktor. Im Oktober 1944 mussten dann alle Zeitschriftenpublikationen auf Order der Reichspressekammer eingestellt werden,Footnote 293 sodass bis zur Wiederaufnahme der Redaktionsarbeit im Jahr 1949 Pyritz’ Besprechung die letzte DVjs-Publikation zu Hölderlin blieb.

Mit Blick auf die Weltanschauung lässt sich wohl behaupten, dass die Herausgeber der DVjs ihre politischen Bekenntnisschriften in der Regel nicht in fachwissenschaftlichen, sondern in passenderen Publikationsorganen, darunter immer wieder auch die Zeitschrift für deutsche Bildung, publizierten.Footnote 294 Die von Albert beobachtete publizistische Kompartmentalisierung von Wissenschaft und Weltanschauung wurde, wie uns scheint, von den Akteuren wiederholt dazu genutzt, durch gezielt platzierte politische Anpassungsleistungen ihre in der DVjs realisierte relative wissenschaftliche Autonomie vor zu massiven politischen Interventionen zu schützen.

Selbst der Nationalsozialismus erwies sich so trotz der vielen Einschränkungen und Hindernisse als ein ›Ermöglichungsraum‹ für Philologie und Geistesgeschichte.Footnote 295 Denn die politische Instrumentalisierung des Dichters von Seiten der Politik wie der Wissenschaft darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in den 1930er und 1940er Jahren unter tatkräftiger Mitwirkung der DVjs ein eminenter Verwissenschaftlichungsschub in der Hölderlin-Forschung erfolgte: Mit politischem Rückenwind konnte sie sich institutionalisieren, eine aufwändige und kostspielige Edition auf den Weg bringen (für Pongs eine »Höchstleistung philologischer Forschungsarbeit«Footnote 296), ein eigenes Publikationsorgan ins Leben rufen, das die gründlichen Forschungsreferate der DVjs übernahm und fortsetzte, und die mehrdisziplinären Diskurse, vor allem aus der Theologie/Religionswissenschaft und der Philosophie, mit Philologie und Geistesgeschichte koordinieren. Infolgedessen kam es zu einer beachtlichen Spezialisierung der Hölderlin-Forschung, an die sich nach 1945, abgesehen von den wiederzuerlangenden Lizenzen, (auch personell) zunächst weitgehend bruchlos anschließen ließ. Die ›unterm Hakenkreuz‹ etablierten Instanzen des »Machtmonopol[s]« der Hölderlin-Forschung konnten, »von der Auslandsgermanistik freundlich unterstützt«,Footnote 297 die Nachkriegszeit überdauern und wurden erst nach Kluckhohns Tod 1957 in den 1960er Jahren zunehmend in Frage gestellt.Footnote 298