Wenige Jahre nach der Gründung der Deutschen Vierteljahrsschrift für Geistesgeschichte und Literaturwissenschaft im Jahr 1923 ist in einem germanistischen Fachlexikon über das Medienformat ›Zeitschrift‹ Folgendes zu lesen:

Die Z.[eitschrift] ist in hohem Grade, was das auf Einsamkeit gestellte Buch nicht sein kann: Gemeinschaftsorgan, Sinnbild und Werkzeug des Zusammenhalts gleichgesinnter und gleichgestellter Gruppen. Wo immer in neuerer Zeit eine geistige Richtung aufkam, hat sie sich eine Z. als Ausdruck und Beförderung ihrer Ziele geschaffen.Footnote 1

Diese Begriffsbestimmung aus dem Sachwörterbuch der Deutschkunde von 1930 benennt bereits jene zentralen Charakteristika, an denen sich auch die aktuelle Forschung zum wissenschaftlichen Zeitschriftenwesen weitgehend orientiert.Footnote 2 Grundlegend ist dabei die Unterscheidung der Zeitschrift vom Buch beziehungsweise von der Monographie – und Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler neigen dazu, bei Letzterem an ein mehr oder minder in sich geschlossenes Werk, wenn nicht sogar an ein Kunstwerk zu denken. Aus dieser Differenz zum Buch ergeben sich dann vier Merkmale von Zeitschriften.

In temporaler Hinsicht steht erstens das regelmäßige, fortgesetzte Erscheinen dem einmaligen Akt der Veröffentlichung gegenüber, der publizistische Prozess dem Ereignis. Aus der Periodizität ergibt sich ein enges Verhältnis zur Zeit, die sich in diesem, ihrem Organ niederschlägt. Die daraus resultierende vergängliche Aktualität wird zugleich in dem und durch das Medium archiviert. In den Worten Ludwik Flecks konstituiert sich so die »Zeitschriftenwissenschaft« mit einem noch tentativen, vorläufigen, bewusst limitierten Geltungsanspruch.Footnote 3 Unter sozialen Gesichtspunkten wird zweitens die Leistung eines einsamen Individuums mit der eines Kollektivs, einer Gruppe, einer Gemeinschaft konfrontiert, die ihre Interessen und Ziele artikulieren und verbreiten. Als Produkt und Ausdruck einer Zusammenarbeit konkurriert das Periodikum mit anderen, setzt also Divergenz, Pluralität und Wettbewerb voraus. Drittens verfügt die Zeitschrift in der Sachdimension im Hinblick auf Themen, Positionen und Schreibweisen über größere kombinatorische Freiheiten als eine auf Kohärenz angelegte Monographie. Ein Zusammenhang der einzelnen Beiträge ergibt sich auf einer deutlich abstrakteren Ebene durch eine gemeinsame Gesinnung, durch einen verbindenden Geist, ein ausformuliertes Programm oder auch nur durch einen gemeinsamen wissenschaftlichen Gegenstandsbereich. Viertens resultiert aus diesen Eigenschaften ein engerer zeitlicher, sozialer und sachlicher Bezug zur Gesellschaft in ihrem Wandel. Insofern können Zeitschriften als Indikatoren für kulturelle oder gesellschaftliche Veränderungen dienen, speziell in der Wissenschaft für die Ausdifferenzierung von Disziplinen, Fächern und Forschungsgebieten sowie für den auf Innovation ausgerichteten Wissensfortschritt.

Dieser auf eine kollektive Identität zielende Blick auf Zeitschriften betont ihre Homogenität, und darin kann man wiederum eine epochenspezifische Blickverzerrung der Definition aus dem Sachwörterbuch für Deutschkunde erkennen. Der ›geistesgeschichtlichen Idealisierung‹ dürfte sich der Verfasser des Lexikonartikels durchaus bewusst gewesen sein. Denn Walther Linden (1895–1943), der sich ab 1933 als NS-Propagandist einen Namen machte, war von 1925 bis 1936 Redakteur, ab 1934 Mitherausgeber der Zeitschrift für Deutschkunde;Footnote 4 er war also mit der Praxis einer Schriftleitung vertraut. Die Kenntnis der realen Verhältnisse mit ihren Kontingenzen und Widersprüchen mögen in Lindens idealisierende Begriffsbestimmung eingeflossen sein, nämlich als Wunsch nach einer Form der Kollaboration, die einem einheitlichen Geist gehorcht: die Zeitschrift als »Gemeinschaftsorgan, Sinnbild und Werkzeug des Zusammenhalts gleichgesinnter und gleichgestellter Gruppen.« Wir würden hier etwas vorsichtiger, vor allem sachlich und sozial offener vom Profil oder Programm sprechen. In der Tat dienen Prospekte oder Vorworte, mit denen sich etwa das neue Projekt dem Publikum ankündigt, sehr oft als Referenztexte, an die sowohl Forschungsarbeiten wie auch die Editorials neuer Schriftleitungen anknüpfen, wenn sie das Periodikum charakterisieren. Es ist bemerkenswert, in welch hohem Grade sich die alten Formulierungen für Wiederverwendungen und aktuelle Positionierungen bewähren – auch in dem vorliegenden Heft zur Geschichte der DVjs wird wiederholt aus den Vorworten zitiert. Vielleicht aber zeugt dies auch nur vom Willen zur Traditionsstiftung, der ein abstraktes Programm so deutet, dass sich eine Kontinuität einstellt, die der Zeitschrift eine besondere und stetige Identität im Vergleich zu anderen verleiht.

Keine Frage, die Begriffsbestimmung von 1930 überschätzt die Homogenität von Zeitschriften. Aktuell akzentuiert man dagegen weit stärker ihre Heterogenität. Damit stellt sich aber für die Forschung und Darstellung eine ganze Reihe von Problemen. Auf rudimentäre Weise zeigt sich dies in Beiträgen, die kaum mehr als eine bloße Auflistung der Titel von Artikeln liefern, die in dem Organ erschienen sind und die für beachtenswert gehalten werden.Footnote 5 Eine dichtere Beschreibung liefern Arbeiten, die als ›roten Faden‹ eine Fachgeschichte benutzen, um vor diesem Hintergrund die Zeitschriftenbeiträge zu diskutieren.Footnote 6 Das Verfahren lässt sich verfeinern, wenn man sich auf einzelne Problemstellungen und Kontroversen, Forschungsfelder und Themengebiete, historische Phasen oder Autorinnen und Autoren konzentriert.Footnote 7 Dabei werden die Zeitschriftenbeiträge immer in einen größeren Kontext eingebettet, der die Maßstäbe für die Auswahl und Bewertung bereitstellt. Nicht anders verhält es sich, wenn sich die Aufmerksamkeit auf die Materialität, Medialität oder Ökonomie richtet. Stets stützen externe Geschichten den Zusammenhang der spezifischen Befunde ab und verleihen ihm Bedeutung. Eine Perspektive von außen dominiert.

Schaut man sich eine Zeitschrift genauer an, dann scheint sie ihre festen Konturen zu verlieren. Ein klar abgrenzbarer Gegenstand sieht anders aus, wenn nicht allein das formale Kriterium ›publiziert in diesem Medienformat‹ gelten soll. Weder von den Autorinnen und Autoren noch von der Leserschaft ist anzunehmen, dass sie eine Fachzeitschrift als eine in sich konsistente Einheit betrachten, selbst wenn sie die verschiedenen Journale ihrer Disziplin zu unterscheiden wissen. Von einem festen »Zusammenhalt gleichgesinnter und gleichgestellter Gruppen« (Linden) kann keine Rede sein. Vielmehr bestimmen wechselhafte Beziehungen, spezifische Konstellationen und divergierende Motive, was in der Zeitschrift erscheint und gelesen wird. Diesen Eindruck bestätigt ein Blick in die Redaktionskorrespondenz. Selbst bei eindeutigen Präferenzen für ein besonderes Organ streuen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in aller Regel ihre Publikationen. Sie geben gewissermaßen ihre Visitenkarten auch bei anderen Periodika ab, zum einen um ihre eigene Reichweite zu erhöhen, zum anderen um ihre Unparteilichkeit, ihre Objektivität zu demonstrieren. Diese Freiheit respektieren Schriftleitungen und Verlage; ihre Sanktionsmöglichkeiten sind auch gering. Die Flexibilität auf der Seite der Produzenten korrespondiert mit einer selektiven Rezeption. Eher selten werden Fachzeitschriften von vorne bis hinten gelesen.Footnote 8 Einige Artikel werden intensiv studiert, während andere (die Mehrheit) ›zur Kenntnis genommen‹ werden – was immer das heißen mag.

Aus Sicht wissenschaftlicher Autorinnen und Autoren, Leserinnen und Leser erscheint die Bündelung von Beiträgen in einer Zeitschrift keineswegs selbstverständlich. Ihre bunte Vielfalt stellt die Zeitschrift vor Probleme, da sie mit ihren Artikeln nur in Ausnahmefällen ihr gesamtes Publikum ansprechen wird. Das gilt besonders für fächerübergreifende Organe wie die DVjs.Footnote 9 Wiederholt erinnerte der Verleger Hermann Niemeyer seine beiden Herausgeber daran, dass Literarhistoriker, Philosophen und Germanisten den Kern des kaufenden Publikums bilden, dass deshalb etwa musik- oder kunstgeschichtliche Themenhefte aus verlegerischer Sicht kontraproduktiv und deshalb nach Möglichkeit zu vermeiden seien. Immer wieder wurde bereits in den 1920er Jahren diskutiert, wie viel Philosophie man Literaturwissenschaftlern, wie viel Theorie man den Philologen zumuten darf. Warum sollten die Abonnenten für Beiträge zahlen, für die sie sich allenfalls marginal interessieren? Aus verlegerischer Sicht mindert umgekehrt die Heterogenität der Hefte das Risiko. Die Mischkalkulation ermöglicht den Druck von Artikeln, für die (gegenwärtig) keine große Nachfrage besteht. Das Verlangen des Marktes nach schnell gängiger Ware wird ausgebremst. Denn auch der Buchhandel profitiert vom Buchformat der Zeitschrift, weil er einen prozentualen Anteil vom Verkaufspreis erhält, bei Broschüren deshalb auf den raschen Umsatz großer Auflagen angewiesen ist.Footnote 10 Es ist also ein bestimmtes Geschäftsmodell und ein bestimmter Entwicklungsstand der Verbreitungsmedien, die für den Erfolg der Fachzeitschrift als Medienformat verantwortlich sind. Das sind die historischen Bedingungen, unter denen die DVjs 1923 gestartet ist und auch nach 1945 den Neustart lancieren konnte. Heute hingegen operieren wissenschaftliche Zeitschriften unter radikal veränderten Voraussetzungen, die aber nicht das Thema dieses wissenschafts- und fachgeschichtlichen Heftes sind.

Für uns stellt sich vielmehr die Frage, wie man unter den genannten Bedingungen die Geschichte oder auch nur über die Geschichte einer Zeitschrift schreiben kann. Anstatt auf übereilte Weise Einheitlichkeit, Ganzheit und Kooperation zu unterstellen, wo Diversität, Kontingenz und Konkurrenz mitregieren, rekonstruiert das vorliegende Jubiläumsheft keine Geschichte der DVjs, sondern diskutiert unter ausgewählten Frage- und Problemstellungen die frühen Jahre eines Publikationsorgans, das nach außen hin zwar homogen zu erscheinen versuchte, hinter den Kulissen aber unterschiedliche Motive und Interessen zu bündeln und auszugleichen hatte. Dies bildet sich bereits in der Planungsphase der Zeitschrift ab, die, wie Hans-Harald Müller in seinem Beitrag (Zwischen »Bewegung« und Wissenschaft. Eine wissenschaftshistorische Untersuchung zur Gründung der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte) zeigt, bis ins Jahr 1914 zurückreicht und konfligierende literaturwissenschaftliche und philosophisch-historische Ideen und Ambitionen der Herausgeber wie des Verlegers sichtbar werden lässt. Der Begriff der literaturwissenschaftlichen Geistesgeschichte erscheint dabei nicht allein als paradigmatisches, identitätsstiftendes Forschungsprogramm, sondern zugleich als weltanschauliche Reaktion auf eine fundamentale Krisenerfahrung der Kultur. Die historischen Konstellationen und ökonomischen Bedingungen, in und unter denen die DVjs sich formieren und behaupten konnte, stehen auch im Zentrum von Holger Dainats Beitrag (Der dritte Mann. Der Verleger Hermann Niemeyer und die ökonomische Basis der DVjs). Auf der Grundlage der hier erstmals ausgewerteten Korrespondenzen von Hermann Niemeyer erweist sich, wie schwierig schon damals die Finanzierung einer geisteswissenschaftlichen Zeitschrift trotz der Erfolge beim Publikum und selbst bei einem außerordentlichen Engagement des Verlegers war, zumal Druckkostenzuschüsse der DFG nach 1933 an politisches Wohlverhalten geknüpft waren.

Dirk Rose widmet sich in seinem Beitrag zu Sammelrezensionen (Die (Neu‑)Ordnung des Feldes. Zur polemischen Funktion von Sammelrezensionen in den Gründungsjahren der DVjs) einem von der DVjs besonders kultivierten wissenschaftlichen Format, über das sich Distinktionen zu anderen Forschungsprogrammen ausbilden und Konkurrenzen zu anderen Zeitschriften austragen ließen. Welche Implikationen diese nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch politisch-weltanschaulichen Konkurrenzen für die DVjs hatten, veranschaulicht Daniela Gretz’ Beitrag (»Viele alte Aufgaben wurden damit in einem neuen Lichte gesehen«. Paul Kluckhohn und die Geistesgeschichte als polyvalente ›deutsche Bewegung‹), der die national orientierte geistesgeschichtliche Literaturgeschichtsschreibung im Kontext der ›deutschen Bewegung‹ charakterisiert. Ergänzt und verlängert wird dieser ideengeschichtliche Blick auf die DVjs durch Ludwig Stockingers personen- und themenzentrierte Darstellung (›Erlebnis‹, ›Gemeinschaft‹ und ›Überwindung der Aufklärung‹. Paul Kluckhohns Deutung der Romantik) zu Kontinuität und Wandel von Paul Kluckhohns Romantik-Deutung, die bald ein ambivalentes Verhältnis zur Ideologie des Nationalsozialismus ausbilden sollte.

Die Anschlussfähigkeit an den Nationalsozialismus gilt umso mehr für Erich Rothackers geisteswissenschaftlich-kulturanthropologisches Modell, auf das Jürgen Fohrmann in seinem Beitrag (»Geprägte Form«: Erich Rothackers Kulturanthropologie) den Fokus richtet. Teilhabe und Gemeinschaft werden von dem philosophischen Kopf des DVjs-Herausgeberteams über Form- und Stilerwägungen reflektiert, die Individuen und Nationen gleichermaßen binden sollen. Welche Ausgrenzungseffekte diese auf Homogenität und Gemeinschaft setzenden Bindungsangebote hatten, veranschaulicht Elke Dubbels’ Beitrag (Erich Auerbach und die DVjs: Eine Beziehungsgeschichte (1925–1951)), in dem die wechselhafte, über das sog. Dritte Reich hinausreichende Geschichte der Beziehung nachvollzogen wird, in der Erich Auerbach zur DVjs und insbesondere zu Rothacker stand. Diachron und themenzentriert angelegt ist auch der Beitrag von Andrea Albrecht, Jens Krumeich und Sandra Schell (Zwischen Wissenschaft und Weltanschauung. Hölderlin in der DVjs (1920er bis 1940er Jahre)); sie zeichnen am Beispiel der Rezeption Friedrich Hölderlins nach, wie die DVjs auch über politische Zäsuren hinweg wissenschaftliche und weltanschauliche Interessen miteinander in Einklang zu bringen und gegen alle Friktionen und Brüche die Zeitschrift als Institution zu erhalten versuchte.

Zahlreiche Fragen, die unser Heft unbeantwortet lässt, ja noch nicht einmal als Fragen aufgreifen konnte, lassen sich an unsere aspektuellen Explorationen anschließen. Um diese Offenheit und Fortsetzbarkeit der Arbeit zu demonstrieren, finden sich in dem von Andrea Albrecht, Holger Dainat und Hans-Harald Müller zusammengestellten und sparsam kommentierten Anhang einige transkribierte Dokumente zur Geschichte der DVjs, vor allem zur Vorgeschichte, der Gründungsphase und zur Phase der Wiederaufnahme der Publikation nach 1945. Wir hoffen damit nicht nur die Attraktivität einer wissenschaftsgeschichtlichen Zeitschriftenforschung, sondern auch die Fruchtbarkeit und Relevanz der Überlieferung von Redaktionsarchiven als historischer Quellen zu unterstreichen.