Wirft man derzeit einen Blick auf die Schreibtische universitärer Büros, lässt sich nicht zwingend von der sich dort befindlichen Lektüre auf das zugehörige Fach schließen. In den Arbeitsräumen der Literaturwissenschaften sind auffällig oft soziologische Sachbücher zu finden, in denen der Soziologie stapelt sich hingegen Gegenwartsliteratur. Während die Sozialwissenschaft für intrikate Einsichten in die Krisenhaftigkeit von Gegenwartsgesellschaften literarische Werke konsultiert, versucht die Literaturwissenschaft sich ihren Gegenstand mit dem methodischen Instrumentarium soziologischer Gegenwartsdiagnostik zu erschließen. Die Präsenz sozialwissenschaftlicher Erklärungsmodelle spiegelt sich ebenfalls in der verwendeten Terminologie von literaturwissenschaftlichen Fachpublikationen wider. In Interpretationstexten, die um richtige und treffende Formulierungen wie kaum eine andere wissenschaftliche Textgattung ringen, ist mit Selbstverständlichkeit von Disruption, Stratifikation, Schichtung, Aufstiegsmobilität oder Polarisierung die Rede.Footnote 1 Die Liste ließe sich fortsetzen. Statt »Empirieresistenz«, die laut der Studie Geistesarbeit von Steffen Martus und Carlos Spoerhase eine kaum zu leugnende Eigenschaft von Theorie ist, ist gegenwärtig eine Neigung zum Empirismus im interpretativen Theoretisieren zu beobachten.Footnote 2 Die wissenschaftliche Gebrauchsliteratur, die zur Interpretationsarbeit herangezogen wird, gibt ganz offensichtlich Aufschluss über Konjunkturen von geistigen Verstehensprozeduren. In diesem Fall scheint es fast so, als ob die Gegenwartsliteratur den Literaturwissenschaften externe Verstehenspraktiken aufnötigt, die aus empirischen Beschreibungsmodellen von Gegenwart entlehnt sind.

I.

Debattenroman I: Realitätseffekte von Gegenwärtigkeit

Sich verändernde Referenzlektüren verweisen auf Welten, die sich jenseits der Büroräume befinden. Die Bücher auf den Schreibtischen geben Aufschluss über die praktische Moderation von Legitimationsdefiziten, denen die Geisteswissenschaften und ihr Gegenstand, in diesem Fall die Literatur, in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ausgesetzt sind. Beginnen wir mit letzterem. Seit 2018 die Umfrage Buchkäufer – quo vadis?Footnote 3 des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erschienen ist, häufen sich quantitative Erhebungen und Statistiken, aus denen ein Bedeutungsverlust des Bücherlesens als populäre Kulturtechnik geschlussfolgert wird: immer mehr Menschen im Erwachsenenalter haben kaum oder gar keinen Kontakt mehr zum Medium Buch. Footnote 4

Die öffentliche Interpretation der Zahlen folgt in der Regel einer alarmistischen Logik, die über vertikale Hierarchisierungen von analogen und digitalen Kulturpraktiken eine Krisendiagnose textbasierter Rezeptionsformen plausibilisieren möchte: Wir lesen zwar nicht weniger, aber weniger literarische Texte. Stattdessen richte sich die Aufmerksamkeit auf algorithmisch selektierte Tweets, was zu einer Verengung öffentlicher Kommunikation beitrage.Footnote 5 Zwar ist die kommunikative Präsenz der Krise eine kontinuierliche Begleiterscheinung des modernen Buchmarkts, nichtsdestotrotz zeitigt die Art und Weise, wie Krisen diskursiv bewirtschaftet werden, Realitätseffekte.

In Klappentexten, Blurbs, Rezensionen oder Interviews ist eine »Beweislastumkehr« zu beobachten: da Gegenwartsliteratur angesichts quantitativ messbarer Beachtungserfolge und Vergleichsmetriken begründungsbedürftiger wird, übernehmen Paratexte vermehrt außerliterarische Valorisierungskriterien, um eine Anschlusskommunikation in Zeiten schwindender Popularität zu ermöglichen.Footnote 6 Dadurch verschiebt sich die Pragmatik der Paratexte, die Gérard Genette als »ein Einwirken auf die Öffentlichkeit im gut oder schlecht verstandenen oder geleisteten Dienst einer besseren Rezeption des Textes und einer relevanteren Lektüre«Footnote 7 beschreibt. Die Steuerung der literarischen Kommunikation folgt zwar nach wie vor der Logik eines »heteronomen Hilfsdiskurses«,Footnote 8 der Interpretationsangebote und Sinnzusammenhänge offeriert. Doch der Paratext steht weniger im Dienst des Textes, er dient nicht dem angemessenen, besseren Verstehen, sondern der Paratext rechtfertigt die Daseinsberechtigung des Textes. Die gewachsene Unsicherheit, ob ein Buch von vielen Beachtung erfahren wird, löst in der paratextuellen Ökonomie einen »Zwang zur Rechtfertigung«Footnote 9 aus, der über heteronome Wertigkeiten die Existenzberechtigung des Buches plausibilisiert. Und diese sickern wiederum vermehrt in den literarischen Text ein, indem er an außerliterarischen »Wertigkeitsprüfungen«Footnote 10 durch Gegenwartsbezüge partizipiert, wie wir im nächsten Abschnitt sehen werden.

Veranschaulichen möchte ich dies durch das Aufkommen von Debattenromanen, die in ihrer paratextuellen Rahmung als ein literarischer Kommentar zu öffentlichen Fragen ausgewiesen werden. Für eine erste Annäherung an den Debattenroman genügt eine zufällige Durchsicht der aktuellen Verlagsprogramme: »Ein sprachgewaltiger Roman über unsere Gegenwart«Footnote 11 (Navid Kermani, Das Alphabet bis S., Hanser), »›Eine hellwache Beobachterin unserer Gegenwart.‹ Jury des Else-Lasker- Schüler-Preises 2022«Footnote 12 (Kathrin Röggla, Laufendes Verfahren, S. Fischer), »Ein Roman, mit dem Daniel Kehlmann in die Vergangenheit blickt, um die Gegenwart zu erhellen«Footnote 13 (Daniel Kehlmann, Lichtspiel, Rowohlt), »Nele Neuhaus blickt tiefer in die Abgründe unserer Gesellschaft als je zuvor«Footnote 14 (Nele Neuhaus, Monster, Ullstein), »Rasant, aktuell und poetisch – Der Vorweiner ist ein Buch auf der Höhe unserer Zeit«Footnote 15 (Bov Bjerg, Der Vorweiner, Claasen), »Tasmanien ist ein lebenspraller Roman über unsere Gegenwart«Footnote 16 (Paolo Giordano, Tasmanien, Suhrkamp). So unterschiedlich all diese Romane in ihrer ästhetischen Machart sein mögen, in den werbenden Epitexten kann die von Eckhard Schumacher diagnostizierte »Gegenwartsfixierung«Footnote 17 nicht geleugnet werden, die eine Aktualität und Aktualisierbarkeit von Gegenwartsliteratur für die Bearbeitung öffentlicher Anliegen behauptet. Der Epitext leistet eine »interpretatorische Transformation«Footnote 18 der Texte, die wir selbst noch nicht kennen können. Alle literarischen Werke werden in den oben genannten Beispielen über ihre Gegenwärtigkeit beworben, ihnen wird eine »strukturelle Bezogenheit auf die eigene Zeit«Footnote 19 unterstellt. Johannes Franzen definiert literarische Gegenwartsbezüge im Anschluss an Leonard Herrmann und Silke Horstkotte als »konkrete Thematisierung eines gegenwärtigen Ereignisses, einer Person, eines Konflikts oder Diskurses«.Footnote 20 Der Ausweis von Aktualität, der hier im verlegerischen Epitext und nicht im Text verortet ist, hat in einem ersten Schritt die Funktion, eine Identifizierbarkeit für die Rezipientinnen und Rezipienten herzustellen und Verständigungsschwellen für die öffentliche Kommunikation abzubauen. Was ist charakteristisch für unsere Gegenwart? Wo stehen wir im Vergleich zu unserer Vergangenheit? Wohin steuert unsere Gesellschaft? All diese Fragen, die einen hochgradig spekulativen Charakter aufweisen, werden durch die Fokussierung auf die Jetztzeit im Epitext evoziert. Gegenwartsliteratur wird dadurch in einem weiteren Schritt eine Deutungskompetenz für die unbestimmte Zeit der Gegenwart zugeschrieben, in der »Bisheriges vermutlich durch Unbekanntes ersetzt werden wird«.Footnote 21 Der Modus der Zeitdiagnostik, der dem hybriden Genre sozialwissenschaftlicher Gesellschaftsbeschreibungen zugeordnet wird, wandert als Instrument in die literarische Kommunikation, wie Sina Farzin beobachtet, um in einer auf Präsenz bezogenen Kultur Beachtungserfolge zu erzielen.Footnote 22

Zwar sind Gegenwartsbezüge gewiss keine Novität in der Gegenwartsliteratur, schon gar nicht im Verlagsprogramm, das den verbreitenden Buchhandel von der Aktualität eines Buches überzeugen möchte.Footnote 23 Doch die Semantik und die Bilder von Gegenwart, auf welche die paratextuellen Bezugnahmen referieren, modifizieren sich. In diesem Fall erzeugen, so meine tentative Behauptung, die diskursiven Verhandlungen von Lesekrisen Realitätseffekte. Es sei daran erinnert, dass vornehmlich digitale Kommunikationspraktiken als Gründe für die schwindende Zeit angeführt werden, die Erwachsene mit Buchlektüren verbringen. Diese Krisendiagnose erzeugt ein Bild des Digitalen, in der Gegenwärtigkeit in einer publizistischen Infrastruktur des Kommentierens hergestellt wird. Ereignisse, Texte, Dinge oder Personen werden öffentlich (und in diesem Sinne gegenwärtig), weil sie auf digitalen Plattformen in einem Netz wechselseitiger Kommentare Beachtung erfahren.Footnote 24 Der Grad des Beachtungserfolgs ist unmittelbar durch die Zahl der Kommentare, Likes oder Retweets sichtbar. Der verlegerische Epitext passt sich den Wertigkeitsprüfungen dieser quantifizierenden Popularitätsrelationen an, indem er den literarischen Text als eine kommentierende Bezugnahme auf digital hergestellte Gegenwärtigkeit interpretiert. Ein Gegenwartsbezug ist nicht nur eine Thematisierung von, sondern simultan eine Partizipation an der öffentlichen Kommunikation von Gegenwärtigkeit. Dies provoziert unweigerlich Konflikte in der Wertungskommunikation literarischer Texte, da heteronome Inwertsetzungen autonomistische Rechtfertigungslogiken herausfordern, wie wir nun sehen werden.

II.

Debattenroman II: Literatureffekte von Gegenwärtigkeit

Während die eben vorgestellten verlegerischen Epitexte vorrangig im Modus prätendierter Gegenwärtigkeit operieren, um die Beachtungswürdigkeit eines Buches zu rechtfertigen, stellen sich literarische Texte im Genre des Debattenromans selbst als Kommentar auf die öffentliche Kommentierungspraxis aus. Die Gegenwärtigkeit sickert in den Text ein und wird zu einem Literatureffekt. Der Debattenroman unterscheidet sich insofern vom roman à thèse, dem »Thesenroman«, der eine ideologische Motivation als vorrangig gültige Interpretationsperspektive auf das literarische Werk ansieht, da er nicht notwendig eine eigene Deutung formuliert, sondern öffentliche Deutungspraktiken simuliert.Footnote 25 Sein Wahrnehmungsmodus ist zudem ein anderer als der »engagierter Literatur«, die auf die Konstitutionsbedingungen von Bedeutungsstiftungen reflektiert.Footnote 26 Der Debattenroman erzeugt Jetztzeit, indem er an ihrer öffentlichen Verhandlung teilnimmt und weniger im Modus des »als ob« in reflektierter Distanz zu ihr tritt. Als Genre-Bezeichnung ist er in der Gegenwartsliteratur ein neues Phänomen, das allerdings bereits seit Längerem emergiert.Footnote 27 Der Begriff »Debatten-Roman« wurde 2023 mit dem Erscheinen von Zwischen Welten der beiden Autoren Juli Zeh und Simon Urban in die Wertungskommunikation der Literaturkritik aufgenommen. Anhand des Romans, der laut Verlagsangabe als letzter Band einer Trilogie die »zunehmende Polarisierung der Gesellschaft« thematisiere, soll das im Entstehen begriffene Genre nun veranschaulicht werden.Footnote 28

Der paratextuelle Verweis auf das »Masternarrativ sozialer Wandlungsprozesse«,Footnote 29 die gesellschaftliche Polarisierung, schreibt dem Roman eine Diagnosekompetenz einer problematisch wahrgenommenen Krisenhaftigkeit von Gegenwart zu. Die beiden Protagonisten, Theresa, die in Brandenburg einen Bio-Milchhof bewirtschaftet, und Stefan, Feuilletonredakteur in der größten deutschen Wochenzeitung, fungieren im Werk als figurative Verweise auf zwei Pole einer kulturellen Konfliktachse, die in der sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostik als »kosmopolitisches Oben« und »kommunitaristisches Unten« voneinander unterschieden werden. Steffen Mau erläutert diesen Interpretationsrahmen folgendermaßen: erstere treten für gesellschaftliche Öffnungen ein, für multikulturelle, migrationsoffene und diversitätsorientierte Werte, während sich letztere stärker auf gesellschaftliche Schließungsbewegungen beziehen, auf traditionalistische oder nationale Zugehörigkeiten.Footnote 30 Bereits der Klappentext des Romans evoziert in der antagonistischen Figuration der beiden Protagonisten einen diskursiv erzeugten Graben, der die problematische, weil zerstrittene Gegenwart von einer harmonischen Zukünftigkeit scheidet:

Die beiden beschließen, noch einmal von vorne anzufangen, sich per E‑Mail und WhatsApp gegenseitig aus ihren Welten zu erzählen. Doch während sie einander näherkommen, geraten sie immer wieder in einen hitzigen Schlagabtausch um polarisierende Fragen wie Klimapolitik, Gendersprache und Rassismusvorwürfe. Ist heute wirklich jeder und jede gezwungen, eine Seite zu wählen? Oder gibt es noch Gemeinsamkeiten zwischen den Welten? Und können Freundschaft und Liebe die Kluft überbrücken?Footnote 31

Die hier aufgegriffenen Themen, die den Hashtag-Trends von Social Media entlehnt sein könnten, rufen eine generalisierte Atmosphäre der Bedrohung auf. Adrian Daub verweist darauf, dass die Fabrikationen negativer und alarmierender Stimmungen ein wirkmächtiger Popularisierungsgenerator sind.Footnote 32 Die transformatorische Leistung, die der Epitext hier vollzieht, bettet den Text als einen Kommentar in ein übergeordnetes, viel beachtetes Kommunikationsereignis ein. Wirft man nun einen Blick in den Text, so wird der evozierte Gesellschaftskonflikt durch eine faktuale Überfrachtung der fiktionalen Welt erzeugt. Stefan gendert etwa anfangs in seinen WhatsApp-Nachrichten an Theresa und verteidigt dies mit den Worten: »Sprache bestimmt das Bewusstsein.« Woraufhin Theresa antwortet: »Sprache bestimmt tatsächlich das Bewusstsein. Zum Beispiel das Bewusstsein der großen Mehrheit in Deutschland, die aufs Gendern verzichten möchte.«Footnote 33 Diese Stelle ist durchaus beispielhaft für die literarischen Gegenwartsbezüge des Romans. Themen, denen in der öffentlichen Kommunikation eine große affektive Mobilisierung zugeschrieben wird, wie die militanten Aktionsformen der Klimaproteste, die Coronapolitik der Bundesregierung, genderpolitische Sprachregelungen, die Wahlerfolge der AfD in Ostdeutschland oder der Ukraine-Krieg, werden als Wirklichkeitsreferenz in die fiktionale Kommunikationssituation aufgenommen und als figurativer Konflikt mit antagonistischen Deutungsmustern reinszeniert. Die beiden Figuren kommentieren die aufgerufenen Gegenwartsbezüge, indem sie diese unter normativen Gesichtspunkten bewerten. Stefan schreibt beispielsweise per E‑Mail an Theresa: »Eine durchmoralisierte, hasserfüllte, zutiefst zerstrittene Gesellschaft entsteht. Statt konstruktiven Kompromissen blüht erbarmungsloser Vernichtungswille.«Footnote 34 Der Text dekonstruiert weniger die performative Erzeugung von gesellschaftlichen Bedrohungsatmosphären, er partizipiert an ihnen, um Beachtungserfolge zu erzielen. Die Zwei-Welten-Theorie mit getrennten und konsistenten gesellschaftlichen Glaubenssystemen, die in der empirischen Wirklichkeit medial und politisch hergestellt ist, wird in Zwischen Welten zu einem Literatureffekt.Footnote 35

Für die literarische Wertungskommunikation wird der Debattenroman zu einem skandalträchtigen »Irritationsfaktor«,Footnote 36 da er sein heteronomes Bezugssystem bewusst ausstellt. In der Literaturkritik erzeugt der Roman ähnlich polar strukturierte ästhetische Konfliktlinien wie jene, die der Roman in der gesellschaftlichen Kommunikation verortet. Auf der einen Seite finden sich Kritiken, die dem Roman eine mangelnde Literarizität attestieren, da er lediglich eine literarisch überformte Intervention in die öffentliche Debatte um die Polarisierungsthese sei – und dadurch die Fiktivität der Gesprächssituation unterlaufe. Katharina Teutsch spricht in der Zeit von einem »notdürftig als Roman verkleideten gesellschaftstheoretischem Stammtisch samt Katerfrühstück«; Dirk Knipphals kritisiert in der taz die »Klischeedichte« und Patrick Bahners moniert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die »WG-Ästhetik der erzählerischen Zweitverwertung«.Footnote 37 Als Debattenroman erzeuge er eine Rezeptionshaltung, die der faktualer Texte ähnele, und fiktionalisiere die diskursive Gegenwart aber gleichzeitig auf eine schlechte Weise, da er sie den Beachtungsprämissen des öffentlichen Diskussionsgeschehens unterordne. Auf der anderen Seite heben andere Kritiken gerade die Wirklichkeitsreferenzen als authentischen zeitdiagnostischen Kommentar hervor. Jörg Magenau betont im Deutschlandfunk, dass die fiktionale Simulation digitaler Kommunikation im Roman die »ideologische Verengung der Positionen« vorführe, gerade weil »sämtliche aktuellen Debatten« aufgegriffen würden; Burkhard Müller wertet den Roman in der Süddeutschen Zeitung als selbstreflexiven Kommentar der Debattenkultur, da in ihm die »Frage, wie Diskurs heute abläuft, figürliche Gestalt« erlange, und Denis Scheck liest ihn in Druckfrisch als »schriftliche Konfrontationstherapie« der Gegenwart mit sich selbst und schlussfolgert: »soviel Gegenwart war selten in der deutschen Literatur«.Footnote 38 So konträr die literaturkritischen Wertungen, sie alle sind sich über den »Bestsellerstatus« des Romans einig, da er die populäre Polarisierungsdiagnostik zum erzählerischen Prinzip erhebt. Tatsächlich war der Roman unmittelbar nach Erscheinen der höchste Neueinsteiger auf der Spiegel-Bestsellerliste.Footnote 39 Deutlich wird: Die Genrebezeichnung Debattenroman, die sich momentan in der literarischen Wertungskommunikation herauskristallisiert, ist in erster Linie keine formale oder inhaltliche Bestimmung, sondern eine wertende, die entweder verurteilt oder reaktiv aufwertet.

Ein weiterer Aspekt, der ästhetische Prinzipien literarischer Wertungskommunikation provoziert, ist die Steuerungsanstrengung des auktorialen Paratextes, der in diesem Fall eine autorintentionale Interpretation nahelegt.Footnote 40 Insbesondere die Autorschaft Juli Zehs stattet den Leser mit einem Vorwissen aus, die seine Lektüre gewollt oder ungewollt beeinflusst.Footnote 41 Im vorliegenden Fall nehmen die Autorin und der Autor in einem Interview für die Neue Zürcher Zeitung den Roman zum Gesprächsanlass, um über die »Kommunikationsverwerfungen« zu reden, »die wir ja wohl alle in unserer Gesellschaft beobachten«, so Zeh. Über den Roman erfährt man in dem Interview wenig, stattdessen über die Positionierung der beiden Autoren in einem »ideologischen Graben«. Das literarische Werk dient hier mehr als untergeordneter Paratext für einen übergeordneten Text, der öffentlichen Debatte. Und eben dies wird gleichzeitig geleugnet, so fasst Zeh am Ende des Interviews die Funktion des Romans mit folgenden Worten zusammen: »Mit dem neuen Buch treten wir für Differenzierung ein, für perspektivische Vielfalt, für Pluralismus, für die Ambivalenz und Vielschichtigkeit der Literatur.«Footnote 42 Der explizite Verweis auf literarische Ambiguität und der implizite auf das ästhetische Autonomieparadigma wirkt angesichts des zuvor diagnostizierten Großgruppendualismus wie eine auktoriale Schutzbehauptung gegen eine intentionale Lektüre, die zuvor nahegelegt wurde. Doch dagegen zeigt sich die Leserschaft erstaunlich immun. Nicht nur auf Twitter wird in den zahlreichen Kommentaren, die das Interview auslöste, das literarische Werk mit dem Autorenstandpunkt selbstverständlich gleichgesetzt,Footnote 43 auch die Amazon-Kundenrezensionen lesen sich wie ein »ästhetisches Plebiszit«,Footnote 44 in dem sich Machtkonflikte um ästhetische Wertigkeitszuschreibungen mit politischen Positionierungskämpfen verknüpfen. Die meist beachtete Bewertung auf Amazon (178 Personen fanden diese hilfreich) rezipiert das NZZ-Interview als ein Interpretationsangebot, das eine angemessene Lektüre ermögliche; und den literarischen Text als eine diskursive Munition der dort formulierten Autorintention: »Juli Zeh kämpft engagiert gegen den bevormundenden Staat und gegen sich gegenseitig bevormundende Bürger«, heißt es dort.Footnote 45

Am sich ausbildenden Genre des Debattenromans lässt sich zusammengefasst eine Verschiebung in der Bearbeitung von ökonomischer Ungewissheit auf dem Buchmarkt beobachten. Der Handel mit Büchern beruht auf »fiktiven Zukunftserwartungen«.Footnote 46 Ein Buch ist kontingenten Marktdynamiken unterworfen, sein Erfolg nur schwer berechenbar. Um die unkalkulierbare Unsicherheit der Buchware in ein messbares Risiko zu transformieren, handeln die am Buch beteiligten Akteure und Institutionen so, als ob es Erfolg hätte, damit es letztlich Erfolg haben wird.Footnote 47 In diesen Erzeugungsweisen prätendierten Erfolges lassen sich derzeit Wertigkeitsprüfungen beobachten, die eine Buchware in den Konventionen heteronomer Beachtungslogiken vergleichen, um so eine Gleichwertigkeit herzustellen. Wir haben gesehen, dass in den paratextuellen Programmvorschauen außerliterarische Wertigkeiten der Aktualität und Gegenwärtigkeit eine Kommensurabilität zwischen den fiktiven Erfolgserwartungen von Buchwaren und den realisierten Beachtungserfolgen öffentlicher Konflikte, Themen oder Fragen herstellen sollen. Im Genre des Debattenromans wird diese Moderation von Ungewissheit ein erzählerisches Prinzip, indem Gegenwartsbezüge nicht nur die ökonomische Daseinsberechtigung des Werks untermauern, sondern gleichzeitig die Beachtungswürdigkeit des literarischen Texts als ästhetischen Kommentar im öffentlichen Diskursraum belegen sollen.Footnote 48

III.

Debattenwissenschaften: Gegenwart und Geisteswissenschaft

Kehren wir abschließend zu der eingangs geschilderten Beobachtung zurück, die akademische Gebrauchsliteratur könne Aufschluss über fachinterne Moderationen von öffentlichen Legitimationsproblemen geben. Die Sozialwissenschaften können sich nicht über einen Mangel an gesellschaftsrelevanten Gegenständen beklagen, strittig ist lediglich die Art und Weise ihrer öffentlichen Wissensvermittlung.Footnote 49 Im Zuge der fachinternen Debatte um public sociology nutzen die Sozialwissenschaften zunehmend literarische Werke und Erzähltechniken, um das von ihnen gewonnene Wissen über die Gesellschaft für diese zurück zu übersetzen. Man liest Gegenwartsliteratur, um die eigene Gegenwartsdiagnose erzählbar zu machen.Footnote 50 In den Literaturwissenschaften ist die Sachlage hingegen etwas diffiziler, ihnen wird in öffentlichen Debatten ein gegenläufiges Legitimationsdefizit attestiert. Beklagt wird in den notorischen Krisen der Germanistik, die 2017 einen erneuten Höhepunkt erreichten, regelmäßig ihre Unsichtbarkeit in konfliktgeladenen öffentlichen Aushandlungsprozessen: für gesellschaftliche Problembearbeitungen besäßen ihre Erkenntnisse schlicht keine Relevanz und der geisteswissenschaftliche Fachjargon sei abgehoben und unverständlich.Footnote 51 Eine gewisse Dringlichkeit erhielten diese Vorwürfe, als 2022 die sinkenden Studierendenzahlen der Germanistik öffentlich diskutiert wurden.Footnote 52 Waren die zuvor konstatierten Krisen der Geisteswissenschaften immer auch ein Vehikel, um den eigenen akademischen Rang zu rechtfertigen, stellte der in Zahlen sichtbare Beachtungsverlust im Ranking der Fachdisziplinen ihre gesellschaftliche Leistungsfähigkeit infrage. Um den quantitativ messbaren Bedeutungseinbruch einzudämmen, werden derzeit verschiedene Lösungsmodelle diskutiert, die zwischen den Polen der Rückbesinnung auf die eigenen Kernkompetenzen (Kontingenz‑, Fiktions- oder Historisierungskompetenz) und der Neubesinnung auf ausgeweitete Aufgabenbereiche (politischer, sozialer oder digitaler Lebenswelten) changieren.

Dass gegenwärtig in den Literaturwissenschaften verstärkt soziologische Gesellschaftsbeschreibungen konsultiert werden, ist selbstverständlich nicht vordergründig, aber eben auch eine fachliche Reaktion auf einen öffentlichen Rechtfertigungszwang. Die Germanistik müsse ihre »direkte Relevanz für gesellschaftliche Fragen wieder mehr beweisen«, äußerte etwa der Vizedirektor der Universität Basel Thomas Grob gegenüber der NZZ angesichts der gesunkenen Immatrikulationen.Footnote 53 Ebenso wie Gegenwartsliteratur mithilfe heteronomer Valorisierungen auf ihre Gegenwärtigkeit hin geprüft wird, steht die Germanistik vor ähnlichen Wertigkeitsprüfungen, in denen fachinterne mit fachexternen Geltungs- und Wertungsansprüchen gleichwertig gesetzt werden: um Verbreitungs- und Akzeptanzchancen zu vergrößern, sollen Geisteswissenschaften ihre Gegenwärtigkeit unter Beweis stellen. Germanistik soll, so die überspitzte Aufforderung, Debattenwissenschaft werden. Der messbare Beachtungsverlust erzeugt darum auch in den Geisteswissenschaften Realitätseffekte, sie werden begründungsbedürftiger. Wird die Germanistik allerdings an den Beachtungserfolgen in öffentlichen Debatten gemessen, werden ihre Grundbegriffe und ihr methodisches Instrumentarium ihrer gesellschaftlichen Problemlösungsfähigkeit untergeordnet.Footnote 54 Die Wahrscheinlichkeit fachimmanenter Konflikte darum, welche Werte Geltung erhalten und welche Geltung einbüßen, nimmt dadurch höchstwahrscheinlich zu.

Gerade die Multinormativität geistiger Verstehenspraktiken bringt es mit sich, dass man noch nicht absehen kann, auf welche Weise der gewachsene Begründungszwang das geisteswissenschaftliche Ordnungsgefüge beeinflussen wird.Footnote 55 Werden die Kollaborationen mit den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften ausgebaut, wozu Nicola Gess vor Kurzem in dieser Zeitschrift aufgerufen hat, um die eigenen Interpretations- und Bewertungspraktiken angesichts wachsender heteronomer Bezugssysteme in der Literatur und Literaturwissenschaft zu erweitern?Footnote 56 Wie geht man in interdisziplinären Konstellationen mit dem Umstand um, dass literarische Texte in den Sozialwissenschaften anders gelesen werden? Dort gibt es kaum, wie Julika Griem zutreffend beobachtet, Berührungsängste mit identifikatorischen Lektüren, in denen die erzählerische Handlung und die Figuren lediglich als Illustrations- und Anschauungsmaterial für Sozialtheorien fungieren, während die ästhetische Struktur und Beschaffenheit eines Textes kaum von Interesse sind.Footnote 57 Können Barrieren abgebaut werden, die aus den unterschiedlichen Umgangsweisen (instrumentell vs. autonomistisch) resultieren? Oder provozieren Aushandlungen um angemessene und adäquate Verstehenspraktiken in den Literaturwissenschaften eher einen reaktiven Rückzug auf das methodische und terminologische Kerninstrumentarium? Zumal die interdisziplinäre Kollaboration in ein asymmetrisches Gefälle des akademischen Wettbewerbs eingebettet ist, in dem sich die Geisteswissenschaften gegenüber empirisch arbeitenden Gesellschaftswissenschaften behaupten müssen. Auch wenn sich die Antworten erst in dem variablen Zusammenspiel der wissenschaftlichen Praktiken zeigen, können Kollaborationen mit den Sozialwissenschaften unseren Blick auf die impliziten Logiken, die trägen Beharrungskräfte und schleichenden Transformationsprozesse geistiger Verstehensarbeit schärfen.