Einleitung

Gespräche mit Palliativmedizinern zeigen, dass Schwerkranke, Hochbetagte und ältere Patienten, die sich vor einer schwer erträglichen Finalphase ihres zum Tode führenden Leidens fürchten, seit dem Februar 2020 häufiger als zuvor nach der Möglichkeit einer ärztlichen Hilfe bei der Selbsttötung fragen. Es scheint, als habe das einschlägige Urteil des Bundesverfassungsgerichts den Bann gebrochen, der in den fünf Jahren, in denen der § 217 Strafgesetzbuch (StGB) galt, über Gesprächen zwischen Patienten und Ärzten über Formen von Sterbehilfe lag, die eine wie immer geartete aktive Rolle des Arztes beinhalten. Zumindest teilweise scheint eine Hemmschwelle weggefallen zu sein, die verhinderte, dass Patienten das Thema Sterbehilfe bei ihren Ärzten ansprachen. Erklären lässt sich diese Hemmschwelle durch mehrere Faktoren: die Befürchtung, für den Wunsch nach Suizidassistenz auf der Seite der Ärzte kein Verständnis zu finden; die von vielen gemachte (und weitergegebene) Erfahrung, dass die Mehrzahl der Ärzte, auch dann, wenn sie Verständnis für den entsprechenden Wunsch des Patienten erkennen lässt, eine akute oder hypothetische Mitwirkung ablehnt; und die Ambivalenz gegenüber dem eigenen akuten oder hypothetischen Sterbewunsch. Der ausschlaggebende Faktor scheint die erwartete Bereitschaft der jeweiligen Ärzte zu sein. Das wird durch einen Vergleich zwischen der Situation in der Schweiz und in den Niederlanden nahegelegt. Obwohl in der Schweiz seit längerem die Suizidassistenz unter bestimmten Bedingungen legal ist, zieht die Mehrzahl der Sterbewilligen das Gespräch über Sterbehilfe mit nicht-ärztlichen Personen eines Vereins dem Gespräch mit einem Arzt vor. Eine jüngere Studie zeigt, dass dort nur ein Drittel der befragten Palliativärzte in der Suizidassistenz ein tatsächliches oder potenzielles Instrument der Palliativmedizin sieht. Dagegen äußerte sich ein Drittel ambivalent, u. a. mit dem Hinweis auf eine mögliche Stigmatisierung innerhalb der Profession bzw. der Klinik und mangelnde Sachkenntnis, und ein weiteres Drittel ablehnend (Gamondi et al. 2020, S. 5). In den Niederlanden besteht diese Hemmschwelle weniger, da hier die Ärzte für eine Mitwirkung an einer Suizidassistenz bzw. einer Tötung auf Verlangen überwiegend aufgeschlossen sind.

Es ist damit zu rechnen, dass der Wunsch nach einem selbstbestimmten Sterben, das über den Wechsel des Therapieziels von einem kurativen auf ein palliatives Behandlungsziel hinausgeht und eine in höherem Maße aktive Mitwirkung des Sterbehilfe Leistenden verlangt, auch in Deutschland zunehmen wird. Die gegenwärtigen Tendenzen zur Individualisierung des Lebensstils, zu einer zunehmend autonomen Lebensgestaltung und fortschreitender Säkularisierung dürften noch eine Weile anhalten. Hinzu kommt die wahrscheinliche weitere Zunahme der Lebenserwartung. Auch bei weiteren Verbesserungen in Qualität und Verfügbarkeit von Palliativmedizin und einem verbesserten Kenntnisstand über ihre Möglichkeiten wird sich ein bestimmter Prozentsatz der Schwerkranken nur schwer von dem Wunsch abbringen lassen, eine legale Form der Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, die die aktive Mitwirkung eines oder mehrerer Helfer erfordert. Ob zu diesen u. a. ein oder mehrere Ärzte gehören sollten, ist in Kreisen der Sterbehilfegesellschaften nicht unumstritten. Aber eine Reihe von guten Gründen spricht dafür, auf der Seite der Regulierung die Mitwirkung von Ärzten und insbesondere von Haus- und Palliativärzten vorzusehen. Ärztliche Fachkenntnisse scheinen unersetzbar, wenn es um die Beurteilung der medizinischen Situation und die Kenntnis von Alternativen der Leidenslinderung geht. Auch die Prüfung, wie weit ein Suizidverlangen als „freiverantwortlich“ gelten kann, d. h. auf einem hinreichend fundierten Informationsstand beruht, nicht von außen induziert ist und die erforderliche Festigkeit und Konstanz aufweist, ist bei Ärzten und insbesondere dem Hausarzt, der mit den Lebensumständen und der Persönlichkeit des Sterbewilligen vertraut ist, in guten Händen Nicht zuletzt kann die Durchführung im Einzelfall Risiken bergen, mit denen eine Arzt, soweit er über die relevante Sachkenntnis und Erfahrung verfügt, am ehesten umgehen kann. Das schließt nicht aus, dass auch Vertreter anderer Professionen wie Psychologen, Juristen und Sozialarbeiter beteiligt werden, insbesondere in Fällen, in denen sich nicht-medizinische Lösungen als Alternativen anbieten, etwa Änderungen des sozialen Settings oder ein Wechsel in der Heimunterbringung. Psychiater sollten regelmäßig beteiligt werden, wenn sich Anhaltspunkte dafür finden, dass der Suizidwunsch eines Patienten durch eine depressive Störung bedingt oder mitbedingt ist. Aber es besteht weitgehendes Einverständnis darüber, dass Ärzten bei der Suizidassistenz eine Schlüsselrolle zukommen sollte, idealiter den Ärzten, zu denen der suizidbegehrende Patient in einem Vertrauensverhältnis steht (vgl. Thöns et al. 2021, S. 13). Nicht von ungefähr sehen alle bisher präsentierten Vorschläge zu einer gesetzlichen Regelung der Suizidassistenz in Deutschland – aus Kreisen der Politik wie aus Kreisen der Rechtswissenschaft und der Patientenschutzorganisationen – eine Mitwirkung von Ärzten vor.

Recht versus Anspruch

Das Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 26.02.2020 (2 BvR 2527/16) geht davon aus, dass Ärzte das Recht haben, unter bestimmten Bedingungen Suizidassistenz zu leisten. Es postuliert nicht, dass die um Suizidassistenz nachsuchenden Patienten ein Recht haben, unter denselben Bedingungen eine Suizidassistenz zu erhalten. Dem Freiheitsrecht der Sterbehilfe Leistenden wird kein entsprechendes Anspruchsrecht der Nachfragenden gegenübergestellt. Den Nachfragenden wird lediglich ein bedingtes in rem-Recht zugesprochen: Die nach Suizidassistenz Nachfragenden sollen, soweit bestimmte Bedingungen erfüllt sind, eine realistische Aussicht darauf haben, einen Helfer zu finden, der sie freiwillig und ohne erwerbsmäßige Interessen beim Suizid unterstützt. Sie haben keinen Anspruch darauf, diese Hilfe von jedem einzelnen möglichen Helfer zu erhalten. Kein potenzieller Helfer ist zu dieser Leistung verpflichtet. Soweit sie ein Anspruchsrecht auf diese Leistung haben, besteht dies Recht nur gegen das Kollektiv aller potenziellen Helfer, nicht gegen diese als Individuen. Theoretisch würde der Staat diesem ungerichteten Anspruchsrecht auch dann genügen, wenn sich kein einzelnes Mitglied der Ärzteschaft zu dieser Leistung bereitfände, er jedoch sicherstellt, dass es Vereine oder Einzelpersonen gibt, die diese Leistung ohne ärztliche Beteiligung anbieten und dabei die gesetzlich noch festzulegenden Bedingungen einhalten. Entscheidend ist lediglich, dass der Einzelne darauf vertrauen kann, dass er gegebenenfalls mit seinem Entschluss zu einer freiverantwortlichen Selbsttötung nicht auf sich gestellt bleibt. Jede regulatorische Einschränkung der assistierten Selbsttötung muss, so das Urteil, „sicherstellen, dass sie dem verfassungsrechtlich geschützten Recht des Einzelnen, aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden, … faktisch hinreichenden Raum zur Entfaltung und Umsetzung belässt“ (RN 342). Dem „Einzelnen“ sollen „verlässliche reale Möglichkeiten verbleiben, … einen Entschluss zur Selbsttötung umzusetzen“, Geschäftsmäßige, d. h. auf Wiederholung angelegte Angebote von Suizidassistenz, wie sie der § 217 StGB verboten hatte, dürften deshalb nicht unterbunden werden (RN 280).

Aus einem solchen schwachen Recht folgt für keinen Arzt eine rechtliche Verpflichtung zur Suizidassistenz. Die Freiheit jedes einzelnen Arztes – wie auch jedes anderen möglichen Helfers –, Nein zu sagen, bleibt unangetastet. Dieser Punkt war dem Gericht sogar in besonderer Weise wichtig. Das zeigt die emphatische Formulierung des letzten Satzes seines Urteils: „All dies lässt unberührt, dass es eine Verpflichtung zur Suizidhilfe nicht geben darf“ (RN 342).

Auch das Bundesverwaltungsgericht, das mit seinem Urteil vom 02.03.2017 (BVerwG 3 C 19.15) den (vergeblichen) Versuch unternahm, unheilbar kranken Sterbewilligen unter bestimmten Bedingungen die Chance einer Ausnahme vom damaligen § 217 StGB zu eröffnen, hat an dieser Begrenzung festgehalten. Es ist nicht so weit gegangen, dem Patienten, der sich in dem befindet, was das Gericht als „extreme Notlage“ definiert, ein Anspruchsrecht auf Suizidhilfe zuzuerkennen. „Extreme Notlage“ definierte dieses Gericht durch drei Bedingungen: 1. Der Patient leidet an einer schweren und unheilbaren Erkrankung, die mit gravierenden körperlichen Leiden, insbesondere starken Schmerzen verbunden ist, die bei dem Betroffenen zu einem unerträglichen Leidensdruck führen und nicht ausreichend gelindert werden können; 2. Der Betroffene ist entscheidungsfähig und hat sich frei und ernsthaft entschieden, sein Leben beenden zu wollen; 3. Eine andere zumutbare Möglichkeit zur Verwirklichung des Sterbewunsches steht nicht zur Verfügung (RN 31). Auch unter diesen Extrembedingungen besteht nach dem Gericht kein Rechtsanspruch auf die Unterstützung bei einem Suizid. In dieser Lage soll zwar ein Recht darauf bestehen, sich ein tödliches Mittel zu beschaffen. Das Urteil begründet aber keinen Anspruch darauf, das dafür notwendig Rezept zu erhalten, mögen die Richter für die Praxis auch davon ausgegangen sein, dass sich auf dem Hintergrund der mit dem Urteil vollzogenen Legalisierung der Beschaffung eines tödlichen Mittels ein dazu bereiter Arzt findet.

Ein Blick auf die internationale Gesetzeslage zeigt, dass in keinem der Länder, die die Suizidassistenz allein oder zusammen mit der Tötung auf Verlangen legalisiert haben, das Recht der Ärzte, den Wunsch eines Patienten nach Mitwirkung bei der Suizidassistenz abzulehnen, rechtlich eingeschränkt wird. In Kanada sind zwar auch so genannte nurse practioniers – qualifizierte Krankenschwestern, die teilweise die Aufgaben von Allgemeinärzten übernehmen – zur Leistung von Suizidassistenz und Tötung auf Verlangen autorisiert. Aber auch diese unterliegen keiner rechtlichen oder berufsrechtlichen Mitwirkungspflicht. Im Gegenteil betont das Berufsrecht gerade auch in den Ländern, in denen die Suizidassistenz allgemeinrechtlich zugelassen ist, dass diese, wie es häufig missverständlich heißt, „keine ärztliche Aufgabe“ ist.Footnote 1 Auch eine Diskussion einer möglichen rechtlichen oder berufsrechtlichen Verpflichtung zur Suizidassistenz findet international nur selten statt.

Eine moralische Verpflichtung zur Suizidassistenz in „extremen Notlagen“?

Die nahezu universal anerkannte rechtliche und berufsrechtliche Freiheit der Ärzte, sich der Mitwirkung an einem Patientensuizid zu verweigern, lässt die Frage unberührt, inwieweit Ärzte möglicherweise unabhängig davon eine moralische Verpflichtung haben, einen Patienten unter bestimmten Bedingungen bei einer Selbsttötung zu unterstützen. Es versteht sich, dass eine solche Verpflichtung nur dann eine gewisse Anfangsplausibilität beanspruchen kann, wenn über die allgemein anerkannten Bedingungen der moralischen Vertretbarkeit einer ärztlichen Suizidassistenz hinaus Umstände vorliegen, die die Mitwirkung des Arztes nicht nur zu einer Erfüllung von Patientenwünschen, sondern zu einem echten Akt der Fürsorge machen. Um den Anspruch auf Suizidassistenz zu einem moralischen Recht zu qualifizieren, reicht es nicht hin, dass der dem Anspruch zugrunde liegende Wunsch hinreichend informiert, autonom und über einen bestimmten Zeitraum konstant ist. Er muss darüber hinaus auch einer Notlage entspringen, aus der sich der Patient weder aus eigener Kraft noch mithilfe der Palliativmedizin befreien kann oder nur mit Mitteln, die er für unzumutbar hält. Exemplarische Beispiele sind finale Phasen schwerer Erkrankungen, die dem Patienten nur mehr die Wahl zwischen einer schwer belastenden Symptomatik und einer bewusstseinstrübenden Medikation bzw. einer palliativen Sedierung lassen. Bei einigen dieser Fälle führt auch ein Abbruch der kurativen Behandlung (den der Patient jederzeit verlangen kann) nicht durchweg zu einer Leidenslinderung, und in einigen Fällen wird ihm seine Lage nicht ermöglichen, sich ohne die Mithilfe medizinischen Personals ein Suizidmittel zu beschaffen und ohne gravierende Risiken anzuwenden.

Nur ein Teil der in Deutschland bestehenden Nachfrage nach Suizidassistenz erfüllt diese Bedingung. Viele Anfragen betreffen Situationen weniger dramatischer Art, etwa der Unwille, bei eintretender Pflegebedürftigkeit seine letzte Lebensphase in einem Heim zu verbringen, oder die Furcht, spätere Phasen einer unausweichlich zunehmenden dementiellen Entwicklung durchleben zu müssen. Dies sind keine akuten Notlagen, bei denen eine entsprechende Verpflichtung naheliegen könnte. Eine eventuelle Suizidassistenz lässt sich in diesen Fällen der Kategorie der wunscherfüllenden Medizin zurechnen, bei der keine ärztliche Interventionspflicht besteht. Selbstverständlich gehört es zu den vom Arzt zu beachtenden Sorgfaltskriterien jeder Suizidassistenz, die „Freiverantwortlichkeit“ des Verlangens nach Suizid zu prüfen. Aber für das Bestehen einer ärztlichen Verpflichtung reicht das nicht hin. Es bedarf zusätzlich einer Prüfung des Bestehens einer anders nicht zu behebenden Notlage.

Auch dann, wenn es gute Gründe gibt, eine irgendwie geartete Rechtspflicht zur Mitwirkung an einem Suizid abzulehnen, bleibt die Frage, wie weit bzw. unter welchen Bedingungen es moralisch angemessen ist, eine Suizidassistenz in „extremen Notlagen“ in dem Sinn, in dem sie das Bundesverwaltungsgericht definiert hat, abzulehnen. In einer solchen Extremsituation, wie man sie niemanden wünschen möchte, scheint eine Ablehnung zumindest begründungsbedürftig. Ein Arzt, der mit einer Notlage wie dieser konfrontiert ist, wird, wenn er um entsprechende Hilfe gebeten wird, sich einer Antwort nicht einfach entziehen können. Er wird, wenn er zu einer Unterstützung des Patienten nicht bereit ist, Gründe nennen müssen. Welche Gründe wird er nennen können?

Gründe für ein Nein

Als Anhaltspunkte für die Gründe, die faktisch bei der Ablehnung eines Patientenverlangens nach Suizidassistenz genannt werden, können wiederum die Ergebnisse von Gamondi et al. (2020) aus der Schweiz dienen. Diese bieten sich auch deshalb an, weil bis zur Verabschiedung eines die Suizidassistenz näher regelnden Gesetzes die Rechtslage in Deutschland der in der Schweiz weitgehend ähnlich ist: Die Praxis der Suizidassistenz ist lediglich durch die internen Reglements der Sterbehilfegesellschaften eingeschränkt; ein berufsrechtliches Verbot besteht nicht (wo die entsprechenden Verbote der deutschen Berufsordnungen noch nicht angepasst worden sind, sind sie durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts unwirksam geworden), und die strafrechtlichen Grenzen der ärztlichen Suizidassistenz sind allein durch die Tatbestände des Totschlags (in Deutschland § 212 StGB), der Tötung auf Verlangen (§ 216 StGB) und der fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) definiert, wobei § 212 und § 222 auch durch Unterlassen verwirklicht werden können.

Den Gründen, die in der Schweiz für die Ablehnung von Wünschen nach Suizidassistenz gegeben werden, wird man nicht allen dasselbe moralische Gewicht beilegen können. Ein Grund, der häufiger angegeben wird, ist mangelnde fachliche Kompetenz. Diese Begründung ist bei Ärzten, die nicht routinemäßig mit Narkotika umgehen, glaubwürdig. Es ist nicht nur ein Vorwand, um sich die vielfältigen mit einer Suizidassistenz einhergehenden Belastungen zu ersparen. Weniger glaubwürdig ist sie bei Ärzten der Fachrichtungen Anästhesie und Palliativmedizin, bei denen in der Regel mit den relevanten Kenntnissen gerechnet werden kann. Wie immer das sein mag: Ethisch hat diese Begründung zweifellos Gewicht, wenn auch kein durchschlagendes. Das mangelnde Wissen lässt sich gewöhnlich bei Kollegen, die darüber verfügen, relativ leicht beschaffen. Dass eine eventuelle Verpflichtung, sich diese Kenntnisse zu beschaffen, möglicherweise als Zumutung abgelehnt wird, kann für sich genommen kein eigenständiger Grund für die Weigerung sein, da diese auch in anderen Fällen von mangelnder Kompetenz wenig akzeptabel erscheint, zumindest solange kein anderer Arzt mit der entsprechenden Kompetenz verfügbar ist.

Ein prima facie stärkeres Argument für eine Weigerung ist die in den schweizerischen Befragungen häufig genannte Furcht vor Stigmatisierung innerhalb der Profession. Dieses Argument kann sich auf einen von zwei unterschiedlichen Sachverhalten beziehen oder auf beide gemeinsam: den tatsächlichen von einer Mitwirkung an einem Patientensuizid zu erwartenden Verlust an Reputation innerhalb der Kollegenschaft oder das mit dem Gedanken eines eventuellen Reputationsverlusts einhergehende subjektive Unbehagen, einen Schritt in ein Terrain zu tun, der von vielen wenn nicht sogar der Mehrheit der Kollegen als moralisch problematisch gesehen werden könnte.

Wie ist diese Begründung einzuschätzen? Sie verdient zweifellos ebenso wie das Argument der mangelnden Kompetenz als prima facie bedeutsam eingestuft zu werden. Erstens ist es so weit glaubwürdig, wie sich der betreffende Arzt in Kreisen bewegt, in denen eine Suizidassistenz moralisch abgelehnt wird. Zweitens wird man von einem Arzt, bei dem diese Bedingung erfüllt ist, kein Übermaß an Heroismus erwarten wollen. Auch wenn die Streichung des Verbots der ärztlichen Suizidassistenz in der Musterberufsordnung von den Delegierten des Ärztetags im Mai 2021 mit großer Mehrheit gebilligt worden ist, ist davon auszugehen, dass viele oder sogar eine Mehrheit der deutschen Ärzte für sich bzw. für sich und andere eine solche Mitwirkung ablehnt. Eine mehrheitliche Ablehnung in allen befragten Ärztegruppen ergab etwa die von der Bundesärztekammer initiierte Repräsentativbefragung deutscher Ärzte von 2010. 53 % der Befragten würden das Ansinnen, in bestimmten Fällen Suizidassistenz zu leisten, als eine übermäßige Bürde empfinden (Institut für Demoskopie Allensbach 2010, S. 13).Footnote 2 Von besonderer politischer Bedeutung sind dabei die Vorstände einiger Fachgesellschaften, die sich die bei ihren Mitgliedern überwiegende Ablehnung zu eigen machen und sie in die Öffentlichkeit transportieren. So formuliert etwa die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin im neuesten Entwurf zu Empfehlungen zum Umgang mit dem Wunsch nach Suizidhilfe in der Hospiz- und Palliativversorgung, es sei „in den ambulanten und stationären Diensten und Einrichtungen … Aufgabe der Träger, die Rahmenbedingungen festzulegen, ob z. B. Suizidhilfe in der Einrichtung (mit oder ohne Beteiligung von Mitarbeitenden) geduldet wird oder ob Vorgaben für den Umgang mit Patient*innen mit dem Wunsch nach Suizidhilfe eingeführt werden“ (DGP 2021, S. 14). Die Vokabel „dulden“ zeigt, wie weit sich diese Gesellschaft von einer eventuellen Praxis der Suizidhilfe in der Palliativmedizin distanziert: „Geduldet“ wird etwas, was abgelehnt wird. Auch wenn sich der Entwurf nur auf „Dienste und Einrichtungen“ und nicht auf einzelne Ärzte bezieht, können dieserart Formulierungen dem Einzelnen doch den Gedanken nahelegen, dass er sich durch ein Eingehen auf die entsprechende Bitte eines Patienten nicht nur Freunde macht.

Zu bezweifeln ist allerdings, ob die Gefahr der innerprofessionellen Stigmatisierung auf Dauer weiterbesteht. Gegenwärtig scheint vielen nicht klar, dass mit dem Urteilsspruch aus Karlsruhe und mit der Streichung des Verbots der Suizidassistenz aus der Musterberufsordnung im Wesentlichen ein Rechtszustand bzw. ein Stand des Berufsrechts wiederhergestellt worden ist, der vor 2015 bzw. 2011 gegolten hat. Bis dahin galt die Beteiligung an einem Patientensuizid weder als strafrechtlich riskant noch als ehrenrührig. Auf den Jahrestagungen der Akademie für Ethik in der Medizin war mehrfach zu erleben, dass Ärzte keine Bedenken hatten, Fälle von Suizidassistenz, an denen sie aktiv beteiligt waren, vor der medizinethischen Fachöffentlichkeit zu diskutieren.

Gewissensgründe

Das zweifellos stärkste Prima-facie-Argument gegen eine Mitwirkung an einem Patientensuizid ist eines, das nicht nur für Ärzte gilt und das in der bisherigen ethischen Debatte nahezu ausschließlich im Mittelpunkt stand: das Argument, dass eine Mitwirkung am Suizid möglicherweise mit moralischen Überzeugungen des potenziell Verpflichteten unvereinbar ist und eine etwaige Verpflichtung zur Mitwirkung ihm einen schweren Gewissenskonflikt zumuten würde. Selbst Autoren wie Schüklenk und Smalling, die darauf aus sind, die Selbstverständlichkeit in Frage zu stellen, mit der „Gewissensgründe“ zur Befreiung von ansonsten bestehenden Verpflichtungen honoriert werden, kommen nicht umhin zuzugestehen, „that asking someone to violate their conscience-based convictions in matters that are of great importance to them is also asking such individuals to accept a potentially fairly high psychological cost“ (Schuklenk und Smalling 2016, S. 2). In der Tat können die „Kosten“, – um das Understatement in dieser Aussage ein Stück weit zu korrigieren – nicht nur „fairly high“, sondern exorbitant sein, insbesondere dann, wenn die moralischen Überzeugungen, denen die Verpflichtung widerspricht, für den der sie hat, von existenzieller Bedeutung sind und sein Selbstverständnis als Individuum tangieren.

Derartige existenzielle Überzeugungen werden gern als „Gewissensgründe“ gegen anderweitige moralische Gründe abgegrenzt, nicht selten in der Absicht, ihnen ein besonderes Gewicht beizumessen, das eine Abwägung dieser Gründe gegen die moralischen Gründe, die für eine Zumutung des Gewissenskonflikts sprechen, erschwert. Dieses Verständnis von „Gewissensgründen“ ist unglücklich. Es legt nahe, dass die diesen Gründen zugrunde liegenden Überzeugungen sich von anderen moralischen Überzeugungen nicht nur durch ihre Intensität und Bedeutung für die Identität des jeweils Betroffenen, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht unterscheiden, nämlich durch die idiosynkratischen, vom moralischen Common Sense abweichende und rationalitätsferne Begründungen, die dafür gegeben werden. So wird von „Gewissensgründen“ vorzugsweise dann gesprochen, wenn diese Gründe vor dem Forum öffentlicher Vernunft, vor dem moralische Gründe im Allgemeinen bestehen müssen, keinen Bestand haben, sondern etwa in religiösen oder esoterischen Überzeugungen wurzeln, die sich weit von dem vorherrschenden Weltbild entfernen und für die Mehrheit wenig nachvollziehbar sind. Deutlich wird diese Konnotation des Begriffs „Gewissen“ etwa in der Bemerkung von Giubilini (2014, S. 182): „Appealing to the idea of conscience entails appealing to a private sphere that requires each individual to provide justifications only to herself, not to anyone else.“ Damit entsprächen Berufungen auf „Gewissensgründe“ gerade nicht den Anforderungen des öffentlichen Vernunftgebrauchs, die den Diskurs über Fragen der Sozialmoral und der Politik überwiegend bestimmen.

Auch wenn der von Giubilini diagnostizierte Privatismus des Gewissensbegriff dem gängigen Sprachgebrauch entsprechen mag: Unter normativen Gesichtspunkten fragt sich, wie weit eine etwaige Sonderstellung des „Gewissens“ für den moralischen Rang dieser Überzeugungen entscheidend sein kann. Kann es für das Ausmaß, in dem „Gewissensgründe“ normativ honoriert zu werden verdienen, überhaupt einen Unterschied machen, wie weit sie nach den gängigen Vernunftmaßstäben akzeptabel oder auch nur diskutabel sind? Es erscheint zweifelhaft, ob die intellektuelle Respektabilität einer moralischen Wert- oder Normüberzeugung für die Verpflichtung zu ihrer Respektierung relevant sein kann. Kriterial bedeutsam scheint letztlich nur die Tiefe, existenzielle Bedeutung und Stabilität der jeweiligen Überzeugung, nicht das Ausmaß, in dem sie auf Vernunftgründe zurückgeht oder mit Vernunftgründen gerechtfertigt werden kann. „Gewissensgründen“ sollte dementsprechend kein geringeres Gewicht beigemessen werden als anderweitigen moralischen Überzeugungen.

Andererseits sollte ihnen aber auch kein höheres beigemessen werden. Ein geringeres Gewicht würde ihnen beigemessen, wenn wie vorgeschlagen worden ist (vgl. Card 2017), Respektabilität danach abgestuft würde, wie weit sie rationalen Gesichtspunkten standhalten und universalisierbar sind. Ein höheres Gewicht würde ihnen beigemessen, wenn ihre Respektabilität danach abgestuft würde, wie weit sie den höchstpersönlichen Idealen des Betroffenen entsprechen. Beide Tendenzen führen gleichermaßen in die Irre. Gegen die erstere spricht, dass die universalisierbaren Werte und Normen des moralischen Common Sense für den Einzelnen häufig nur wenig existenziell tragfähig sind. Gegen die zweite spricht, dass im Einzelfall moralische Gründe auch dann identitätsstiftend sein können, wenn sie mit von der Gemeinschaft überwiegend akzeptierten Werten zusammenfallen, etwa dem Bekenntnis zur Demokratie, zum Rechtsstaat, zum Sozialstaat oder zur Geschlechtergleichheit.

Das wesentliche Kriterium der Zumutbarkeit einer Verpflichtung kann nur darin gesehen werden, wie weit es – in der Formulierung von Murphy und Genius (2013, S. 315) – die persönliche Integrität des Einzelnen verletzt und ihm damit einen schweren Schaden zufügt. Murphy und Genius sprechen in ihrem eloquenten Plädoyer für die Gewissensfreiheit allerdings von Verletzungen der persönlichen Integrität durch einen potenziellen Zwang, gegen die eigenen moralischen Überzeugungen zu handeln, und nicht von Verletzungen der persönlichen Integrität durch potenzielle moralische Forderungen. Im Allgemeinen dürfte die Beschädigung der moralischen Integrität, die in einem Zwang zum Handeln gegen eigene identitätsstiftende Überzeugungen liegt, erheblicher sein als durch den von einer allgemein anerkannten moralischen Verpflichtung unablösbaren moralischen Druck. (Murphy und Genius sehen in einem solchen Zwang in Extremfällen sogar eine Verletzung der Menschenwürde des Betroffenen.) Andererseits wird es nicht immer leicht sein, zwischen moralischem Druck und Zwang eine eindeutige Grenze zu ziehen, insbesondere nicht in werthomogenen „geschlossenen“ Gesellschaften, die dem einzelnen nur geringe Spielräume moralischer Abweichung lassen.

Kritiker der Berufung auf Gewissensgründe wie Giubilini (2014), Savulescu (2006) und Schuklenk und Smalling (2016) führen zwei Argumente dafür an, dass diese Sichtweise unangemessen verkürzt ist. Erstens weisen sie auf die pragmatische Schwierigkeit hin, die Glaubwürdigkeit von „Gewissensgründen“ einzuschätzen, mit denen sich Ärzte von der Befolgung einer anderweitig gut begründeten moralischen Verpflichtung dispensieren. Dieses Bedenken ist so weit berechtigt, als die Erfahrung zeigt, dass die Intensität, mit der Menschen ihre Bedenken gegen ihnen angesonnene Verpflichtungen geltend machen, nicht durchweg der Intensität entspricht, mit der sie sie empfinden. Es gibt jedoch zur Einschätzung ihrer Glaubwürdigkeit keinen Königsweg. Dafür ist die Innenseite des moralischen Empfindens und des Selbstverständnisses zu schwer eruierbar und häufig zu instabil. Aber wenn wir irren, sollten wir im Zweifel zugunsten des Betroffenen irren. Falls keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die moralische Bedenken, die die Befolgung einer ansonsten bestehenden Verpflichtung nahelegen, lediglich Vorwände sind, sollten wir davon ausgehen, dass sie den tatsächlichen Überzeugungen des Verpflichteten entsprechen und demgemäß zu respektieren sind.

Zweitens wenden die Kritiker ein, dass ein Arzt bereits bei der anfänglichen Berufswahl hätte wissen können, dass seine Berufspflichten ihm möglicherweise ein Zuwiderhandeln gegen seine Prinzipien abverlangen. Da er dieses Risiko freiwillig eingegangen ist, sei es recht und billig, ihm die Folgen dieser Entscheidung zuzumuten (vgl. LaFollette 2017). Wer sich zum Arztberuf entschließt, könne den Umstand nicht ignorieren, dass sich das Aufgabenspektrum der Ärzte in einer aus individueller Sicht nicht gewünschten Richtung verschieben kann, einerseits aufgrund von technischen Fortschritten, andererseits aufgrund des gesellschaftlichen Wertwandels. Die Aufgaben des Arztes sind nicht wie eine platonische Idee festgeschrieben. Es gibt kein inhärentes Telos des Arztberufs, sondern dies wird zwar nicht im Kern, aber doch in den Randzonen jeweils aufs Neue durch gesellschaftliche Vereinbarung definiert. Was als „ärztlich“ und was als „unärztlich“ gilt, ist ebenso wie die Berufspflichten anderer Professionen keine feststehende Größe (vgl. Schuklenk und Smalling 2016, S. 5). Aber ist dieses Argument geeignet, das Recht auf Verweigerung einer gesellschaftlich überwiegend gewünschten Mitwirkung am Patientensuizid unter bestimmten Bedingungen zu stützen?

Das erscheint zweifelhaft, zumindest was die Älteren unter den Mitgliedern der heilenden Berufe betrifft. Schon allein die Fortschritte in der technischen Machbarkeit brachten in den letzten fünfzig Jahren Erweiterungen der medizinischen Angebote mit sich, die wenig voraussehbar waren und bei denen viele Ärzte Schwierigkeiten haben, sie mit ihren persönlichen moralischen Prinzipien und ihrem Bild von den Aufgaben des Arztes zu vereinbaren. Auffällig ist das insbesondere im Bereich der Reproduktionsmedizin. Therapien mit aus entwicklungsfähigen Embryonen gewonnenen embryonalen Stammzellen, die Möglichkeiten der vorgeburtlichen Geschlechtswahl durch Spermiensortierung oder die Präimplantationsdiagnostik mit anschließender selektiver Einpflanzung waren vor fünfzig Jahren allenfalls am Horizont sichtbar. Auch dass eine Suizidassistenz möglicherweise einmal den „ärztlichen Aufgaben“ zugerechnet werden könnte, konnte noch vor noch zwanzig Jahren niemand voraussehen und war bei der Berufswahl nicht einkalkuliert. Insofern erscheinen mir beide Argumente der Kritiker wenig schlagkräftig. Weder der Einwand der Unglaubwürdigkeit noch der der anfänglichen Berufswahl scheint geeignet, die Position zu entkräften, dass tiefliegende und im eigenen Selbstverständnis verankerte moralische Bedenken gegen eine Praxis starke, wenn auch nicht in allen Fällen konklusive Gründe gegen eine ethische Verpflichtung zur Mitwirkung an einem Patientensuizid sind. Einem Arzt sollte die Beteiligung an dieser Praxis in der Regel nicht nur nicht aufgezwungen werden; er sollte dazu auch nicht ethisch verpflichtet werden.

Die Unumgänglichkeit von Abwägungen

Einer angesonnenen Verpflichtung mit Berufung auf moralische Normen (wie in diesem Fall der Pflicht zur Leidensminderung zusammen mit der Pflicht zur Respektierung der Selbstbestimmung), der eine andere persönliche moralische Überzeugung (wie in diesem Fall der Unzulässigkeit der Mitwirkung an einem Suizid) entgegensteht, kann als ein in besonderer Weise zugespitzter Fall von Überforderung betrachtet werden. Ein Arzt kann sich durch ein Patientenverlangen in vielen Weisen überfordert fühlen und daraus das Recht ableiten, die Erfüllung des Patientenverlangens zu verweigern oder, falls möglich, in andere Hände zu geben: mangelnde fachliche Kompetenz, Erschöpfung der verfügbaren physischen, psychischen und zeitlichen Ressourcen, im psychotherapeutischen Bereich eine fehlende „Passung“ zwischen Behandler und Behandeltem (Ehl et al. 2005, S. 582). Überforderung ist allerdings ein ausgesprochen interpretationsfähiges Konzept. Im Allgemeinen erfordert das Argument der Überforderung eine sorgfältige Prüfung, wie weit die Belastungen aufgrund der Annahme und Befolgung einer Verpflichtung für den Verpflichteten die Belastungen für den, zugunsten dessen die Verpflichtung besteht, unter normativen Gesichtspunkten überwiegt. Im Fall der ärztlichen Suizidassistenz fühlen sich Ärzte, an die das entsprechende Verlangen gestellt wird, häufig nicht nur – sofern sie diese Handlungsweise ablehnen – moralisch überfordert. Sie sehen sich vielfach auch psychologisch überfordert (ist das Verlangen nach Suizidhilfe möglicherweise nur Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung?), vor allem aber emotional durch die gelegentliche Heftigkeit und Aggressivität, mit der dieses Verlangen an sie gerichtet wird.

Wie in anderen Fällen von Überforderung kommt es ethisch darauf an, wie weit die Sicherung der ärztlichen Autonomie angesichts des Verlangens des betroffenen Patienten nach Leidensminderung als verhältnismäßig gelten kann. Die Belastung, die der Arzt infolge der möglichen Notwendigkeit erfährt, gegen eigene Überzeugungen zu handeln, muss zu den Belastungen, die dem Patienten durch die Verweigerung der nachgesuchten Leistung erwachsen, in einem angemessenen Verhältnis stehen. Je schwerwiegender die Vordringlichkeit der Erfüllung des Verlangens, desto mehr schrumpft der „discretionary space“ (Pellegrino 1977) des Arztes. Im Einzelfall ist eine solche Abwägung nicht leicht und häufig kontrovers. Einfache Regeln werden der Komplexität der denkbaren Konstellationen dabei sicher nicht gerecht, etwa die von John Davis (2004, S. 76) vorgeschlagene Regel „a doctor may refuse a patient’s request provided the refusal leaves the patient no worse off than the patient would have been had the patient never met that doctor in the first place“. Diese Bedingung erscheint zu stark: Geringfügige Unbequemlichkeiten sollten dem Patienten durchaus zugemutet werden dürfen, etwa die Suche nach dem anderen Arzt, der zu der umstrittenen Leistung bereit ist, sofern dies den Patienten keine übermäßige Mühe kostet.

Je offener der Spielraum für kontextspezifische Trade-offs, so größer freilich auch das Risiko, dass der Spielraum durch rein intuitive Einschätzungen ohne wie immer geartete empirische Absicherung gefüllt wird. So urteilt etwa die British Medical Association, dass die ärztliche Verweigerung eines Schwangerschaftsabbruchs akzeptabler sei als die eines Behandlungsabbruchs bei einem nicht-einwilligungsfähigen Patienten, diese wiederum akzeptabler als die Verweigerung einer Fertilitätsbehandlung bei einem homosexuellen Paar. In diesem letzten Fall soll eine Weigerung sogar durchgehend ungültig sein (British Medical Association 2020). Eine nähere Begründung für diese Abstufung wird allerdings nicht gegeben.

Mit größerer Eindeutigkeit lassen sich lediglich Ausschlusskriterien angeben. Dazu gehört, dass die dem Arzt angesonnene Handlungsweise mit dem geltenden Recht vereinbar als auch nach intersubjektiv weithin akzeptierten Maßstäben moralisch nicht von vornherein problematisch ist. In Deutschland ist die erste Bedingung nicht erfüllt, wenn der Patient verlangen würde, eine strafrechtlich verbotene Tötung auf Verlangen zu leisten, die letztere nicht, wenn von dem Arzt verlangt würde, die umstrittene Handlung lediglich oder primär aus ökonomischen Gründen vorzunehmen, vergleichbar dem so genannten tuning von Diagnosen oder der Durchführung medizinisch nicht indizierter Operationen zur Aufbesserung der Klinikbilanz.

Dass moralische Bedenken kein abschließender Grund sein können, eine Suizidassistenz abzulehnen, heißt, dass Fälle denkbar sind, in denen den anzuerkennenden Rechten des Arztes auf Gewissensfreiheit, Selbstbestimmung und Verschonung vor emotionaler Überforderung ein normativ stärkerer Anspruch des Patienten gegenübersteht und Alternativen wie eine Verweisung auf Kollegen, die zu einer Assistenz bereit sind, nicht gegeben sind. Solche Fälle dürften selten sein, sind aber vorstellbar, etwa wenn sich der Patient in einer von ihm als qualvoll erlebten Terminalphase seiner Erkrankung befindet und eine leidensmindernde Symptomkontrolle an Bedingungen wie Bewusstseinstrübung und Autonomieverlust geknüpft sind, die er nicht nur nicht bereit ist in Kauf zu nehmen, sondern die auch mit in seiner Persönlichkeit und Lebenseinstellung verankerten Grundwerten unvereinbar sind. Auch in diesen Fällen hieße es allerdings, einen Schritt zu weit zu gehen, wollte man eine Mitwirkung an einem vom Patienten gewünschten Suizid erzwingen, etwa durch eine gesetzliche oder berufsrechtliche Verpflichtung. Ein Rechtszwang erscheint gemessen an den auf dem Spiel stehenden ärztlichen Rechtsgütern unverhältnismäßig. Auch pragmatische Gesichtspunkte sprechen dagegen. Ein Zwang könnte bei Ärzten, die gegen eine Mitwirkung Bedenken haben, zu Verzerrungen in der Kommunikation mit dem Patienten führen, dem wider alle Evidenz Hoffnung auf Besserung gemacht wird, oder zu einem entsprechenden bias in der Einschätzung von dessen Situation. Gegen eine lediglich moralische Verpflichtung ohne rechtliche Sanktionen sind diese Gründe weniger durchschlagend. Die British Medical Association will in ihren Empfehlungen (die allerdings nicht für die in Großbritannien vorerst weiter verbotene Suizidassistenz gelten) das Recht auf Verweigerung bei Schwangerschaftsabbruch, Behandlungsabbruch und Fertilitätsbehandlung sogar ausschließlich in Fällen einräumen, in denen der betreffende Patient auf einen anderen Arzt zurückgreifen kann, der zu der entsprechenden Leistung bereit ist (British Medical Association 2020). Diese Auffassung lässt sich im Grundsatz auf den Fall der Suizidassistenz in „extremen Notlagen“ übertragen. Die moralische Verpflichtung zur Mitwirkung sollte umso stärker wiegen, je größer der Aufwand für den Patienten ist, auf Alternativen zurückzugreifen und allein oder mit der Hilfe anderer einen Arzt zu finden, der sein Vorhaben unterstützt. Wie hoch dieser Aufwand ist, bemisst sich u. a. an Äußerlichkeiten wie der geografischen Verteilung der entsprechenden Bereitschaften. Giubilini (2014, S. 168) verweist etwa auf die Schwierigkeiten, auch in einigen Ländern, in denen kein gesetzliches Verbot des Schwangerschaftsabbruchs besteht (wie in Italien), einen zur Durchführung eines zu einem Schwangerschaftsabbruch bereiten Gynäkologen zu finden (vgl. Minerva 2015). Eine vergleichbare Lage besteht zumindest gegenwärtig in Deutschland in Sachen Suizidhilfe. Trotz einer im weltweiten Vergleich großzügigen Rechtslage beschränkt sich die Bereitschaft bisher auf eine kleine Gruppe von Ärzten. Willkommen wäre die von mehreren Seiten angekündigte gesetzliche Regelung der Suizidassistenz schon deshalb, weil sie die gefühlte Rechtsunsicherheit vieler Ärzte abmildern und Orientierungspunkte für rechtlich abgesicherte Entscheidungen bieten könnte. Erst dann können detailliertere Verfahrensregeln festgelegt werden, wie sie jüngst die Deutsche Schmerzliga gefordert hat (Überall et al. 2021).

Konflikte zwischen Patientenwerten und ärztlichen Wertüberzeugungen könnten darüber hinaus in dem Maße entschärft werden, als die Möglichkeit der Überweisung an einen anderen Arzt, der zur Mitwirkung bereit ist, als Alternative verfügbar ist. Damit würde eine Verpflichtung zur Mitwirkung entfallen. Noch weiter entschärft würden sie durch öffentlich zugängliche Informationsquellen oder Beratungs- und Vermittlungsstellen, bei denen der Patient ohne unzumutbaren Aufwand Hilfe erfragen könnte und die keine oder weniger lange Wartefristen als die bei Sterbehilfegesellschaften üblichen vorsehen. In einigen kanadischen Provinzen ist diese Möglichkeit bereits realisiert.Footnote 3

Sollte der Arzt die Überweisung verweigern können?

Im Ergebnis sollte danach der Patient nur ein sehr begrenztes Recht auf Suizidassistenz gegen seine behandelnden Ärzte haben. Die zwei wichtigsten Grenzen sind einerseits, dass er sich in einer schweren Notlage befindet, die sich nicht mit anderen zumutbaren Mittel beheben lässt, andererseits, dass die behandelnden Ärzte keine Möglichkeit sehen (sowie diese nicht mit einem unzumutbaren Aufwand für den Patienten verbunden ist), den Patienten mit seinem Anliegen an einen Kollegen überweisen.

Auf der anderen Seite sollten Ärzte jedoch kein Recht haben, in diesem letzteren Fall die Überweisung mit dem Argument zu verweigern, dass sie dadurch zu Komplizen einer Handlung werden, die sie nicht nur für ihre jeweils eigene Person, sondern allgemeinverbindlich für verwerflich halten. Durch eine solche Weigerung würde das Zugeständnis der Beachtlichkeit der Weigerung zunichte gemacht und die Balance zwischen Patienten- und ärztlichem Interesse gestört. Dadurch, dass er der Verpflichtung zur Leidenslinderung auf indirekte Weise nachkommt, macht sich ein verweigernder Arzt nicht zu einem bloßen Handlanger der von ihm abgelehnten Entscheidung des Patienten. Der Einwand, dass wenn es moralisch falsch ist, × auszuführen, es ebenfalls moralisch falsch sein muss, einen Patienten an einen Kollegen zu verweisen, der × ausführt, gilt nur begrenzt. Daraus, dass A es für moralisch falsch hält, × an B auszuführen, folgt nicht, dass er es ebenfalls für moralisch falsch halten muss, B an einen anderen Akteur C zu überweisen, der × nicht für moralisch falsch hält und bereit ist, × auszuführen.Footnote 4 Dies gilt allenfalls dann nicht, wenn A × für eindeutig und in einem so erheblichen Maß für moralisch falsch hält, dass er das Recht hat, auf die Überweisung von B zu verzichten oder dazu sogar verpflichtet ist (etwa dann, wenn ein atemnophiler Patient verlangt, ihm ohne medizinische Indikation beide Beine zu amputieren). Auch wenn A zwangsläufig einen Teil der Verantwortung für die Ausführung der Handlung mitträgt, verbleibt die primäre Verantwortung bei B.Footnote 5