Am 7. Dezember 2020 ist Prof. Dr. med. Eduard Seidler verstorben. Er war von 1967 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1994 Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin in Freiburg und u. a. von 1979 bis 1981 Prodekan und Dekan der Medizinischen Fakultät.

Im Jahr 1986 war Eduard Seidler Gründungsmitglied der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. (AEM) und in den Jahren bis 1992 deren Vizepräsident und Präsident. Darüber hinaus war er von 1989 bis 1998 Schriftleiter der Zeitschrift Ethik in der Medizin. Für vielfältige Anregungen und intensiven Einsatz schuldet die AEM ihm großen Dank!

Seidler war ein leidenschaftlicher Medizinhistoriker. Man wird ihm jedoch nicht gerecht, ohne seinen intensiven Einsatz für die Wahrnehmung moralischer Fragen in der Medizin, der erforderlichen ethischen Diskussion und der Etablierung der Medizinethik in der medizinischen Lehre und Praxis zu würdigen.

Eduard Seidler studierte in Mainz, Paris und Heidelberg Medizin, verbrachte die ersten Jahre seiner ärztlichen Tätigkeit in Heidelberg und Hamburg und absolvierte dann von 1955 bis 1961 in Heidelberg die Ausbildung zum Facharzt für Kinderheilkunde. Er hatte jedoch bereits während seiner Ausbildung zum Kinderarzt Forschungsarbeiten zur Medizingeschichte verfasst und habilitierte sich nach mehreren Frankreich-Aufenthalten mit einer Arbeit zur Medizingeschichte des Mittelalters in Paris bei Prof. Dr. Heinrich Schipperges am Institut für Geschichte der Medizin. Als Kinderarzt und Medizinhistoriker war er 1984 Mitbegründer der Historischen Kommission der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. Aus der Fülle seiner medizinhistorischen Arbeiten, die an anderen Stellen gewürdigt werden, muss hier aber wegen ihrer herausragenden Bedeutung seine Untersuchung zum Schicksal jüdischer Kinderärzte in der Zeit des Nationalsozialismus genannt werden, die er auf Beschluss der Kommission durchführte. Über die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde während des Nationalsozialismus hinaus bewahrte er auf diese Weise vor allem die Erinnerung an die jüdischen Kollegen und Kolleginnen und setzte ihnen ein Denkmal.

Medizin als Erfolgsgeschichte stand nie im Mittelpunkt von Seidlers Forschung, vielmehr beschäftigten ihn die epochenspezifischen Erklärungsmodelle für die Phänomene Gesundheit, Kranksein und Heilung. Auch die recht beliebten medizinhistorischen Festvorträge der klinischen Gesellschaften waren für ihn immer Anlass, anthropologische und sozialmedizinische Aspekte zu erläutern. Es ist also nicht verwunderlich, dass er sehr früh die Notwendigkeit erkannte, die ethischen Herausforderungen durch den rasanten Fortschritt der Medizin und den gesellschaftlichen Wandel zu thematisieren, und sich bereits in den 1970er-Jahren vertieft damit befasste. Der Standort des Freiburger Instituts in Baden-Württemberg führte über die Kontakte zur Landesärztekammer dazu, dass er eine vierteljährliche Beilage „Medizinische Ethik“ im Ärzteblatt Baden-Württemberg initiierte und gestaltete, die von August 1981 bis 1999 erschien. Zudem war er von 1983 bis 1990 Vorsitzender der Ethikkommission der Landesärztekammer Baden-Württemberg. Auch Ausbildungsfragen im Medizinstudium und in der Lehre waren für Seidler ein besonderes Anliegen, und die medizinische Ethik als Thema der ärztlichen Fortbildung war Teil dieses Engagements. Beginnend im Jahr 1977 führte er gemeinsam mit seinem Schüler Ulrich Brand eine erste Untersuchung zur „Medizinischen Ethik in der Ausbildung des Arztes an Hochschulen in der BRD, in Österreich und in der Schweiz“ durch. Die Ergebnisse bestätigten die Erfahrungen in Baden-Württemberg, dass nämlich die vorhandenen Curricula keine Beschäftigung mit Medizinethik vorsahen, zugleich jedoch viele Einzelaktivitäten in den universitären Kliniken aufgeführt waren. Gelegentlich gab es auch Bemühungen um interdisziplinäre Veranstaltungen. Die Verankerung der Diskussion im interdisziplinären Raum von Medizin sowie anderen Heilberufen mit Recht, Theologie, Soziologie und Philosophie war für Seidler ein unverzichtbares Ziel. So führten ihn seine vielfältigen Kontakte auch in den Kreis um Pastor Udo Schlaudraff und zur Gründung der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. (AEM) am 06.12.1986. Wie schwierig die Anfänge für alle am Diskurs Beteiligten waren, ist heute kaum mehr nachvollziehbar. Alle Berufsgruppen waren nur sehr begrenzt auf die Herausforderungen eines interdisziplinären Austauschs vorbereitet, und bei der Umsetzung in der Praxis war der Widerstand auf Seiten der Ärzteschaft groß. Dennoch war die Gründung der AEM ein gesellschaftlicher Aufbruch, der mit der nötigen Geduld, Ausdauer und der Bemühung um einen konstruktiven Theorie-Praxis-Dialog vorangebracht wurde. Seidler hat mit viel Begeisterungsfähigkeit, Zuwendung und Überzeugungskraft bei den ärztlichen Kollegen und Kolleginnen für die Bedeutung der Ethik-Reflexion geworben. Mit der Habilitation von Franz Josef Illhardt und zahlreichen Dissertationen gab er der Medizinethik an seinem Freiburger Institut einen weiteren Schwerpunkt. Dieses Engagement brachte er in die noch junge AEM ein, deren Präsident er von 1988 bis 1992 war. Er pflegte den europäischen und internationalen Austausch, wozu u. a. 1990 auch die Teilnahme am IV. Extended European Bioethics Course des Kennedy Institute of Ethics in Washington DC gehörte. Neben zahlreichen Aktivitäten – u. v. a. eine intensive Nacharbeitung der erworbenen Erfahrungen in Washington, einer Jahrestagung der AEM in Freiburg i. Br. und einer Diskussionsveranstaltung zum sog. „Erlanger Baby“ 1992 in Mainz – sind Seidler ganz wesentlich Gründung und Aufbauarbeit der Zeitschrift „Ethik in der Medizin“, dem Organ der AEM zu verdanken. Gemeinsam mit Dietrich Ritschl und Felix Anschütz hatte er von 1989 bis 1998 die Schriftleitung der Zeitschrift inne.

Mit seinem ganz spezifischen Ansatz als Arzt und als Medizinhistoriker bereicherte Eduard Seidler die Arbeit der AEM in herausragender Weise. Ihn beschäftigten vorrangig die konstitutiv bedingten Herausforderungen an den Arzt, d. h. die ärztlichen Voraussetzungen für die ethische Entscheidungsfindung. Diese sah er beispielsweise in den neuen technischen Entwicklungen wie etwa In-vitro-Fertilisation oder Pränataldiagnostik gegeben, die als Anspruch der Gesellschaft an die Medizin zurückschlugen und im Alltag des Arztes/der Ärztin angekommen waren. Das galt auch für neuartige Entscheidungskonflikte am Lebensende angesichts von Fortschritten der Medizin, die menschliches Leben zu erhalten vermochten, das bisher aufgegeben werden musste, oder für die erkennbaren Probleme der Verteilungsgerechtigkeit. Für Seidler war klar, dass der Appell zunächst an Ärzte und Ärztinnen gehen musste, dass ihre Fähigkeit zur Wahrnehmung und zur Akzeptanz ethischer Herausforderungen gefordert war. Er mahnte immer wieder als Verpflichtung des Arztes an, dass er

  • Leben schützt

  • seinem Patienten nicht schadet

  • das Wohl des Kranken voranstellt

  • die Menschenwürde im Kranken achtet

  • und durch Kompetenz und Gewissensfähigkeit selbst vertrauenswürdig ist.

Ethische Herausforderungen entstehen also nach seiner Überzeugung nicht primär durch rechtliche oder philosophisch-theologische Implikationen, sondern sie sind situationsimmanent und verpflichten den Arzt zur qualitativen und sittlichen Rechtfertigung. Für ihn galt damit aber auch, dass philosophisch, theologisch oder juristisch begründete normative Argumentationsstrukturen nicht konfliktfrei in die Praxis klinischer Entscheidungen übernommen werden können. Als Medizinhistoriker sah er seine Aufgabe darin, zu vermitteln, dass bestimmte historische Elemente in der Medizin als ethische Fragen erhalten bleiben, Phänomene und epochenspezifischen Modelle, die er in seiner Forschung immer wieder aufgegriffen hat:

  • Wann beginnt und wann endet menschliches Leben?

  • Welche Konzepte wurden für Leben und Gesundheit, für Krankheit und Sterben entwickelt?

  • Gibt es hierfür Bewertungsstrategien, kann oder darf es sie geben?

  • Welche Elemente konstituieren die Arzt-Patient-Beziehung?

  • Wem ist der Arzt verpflichtet, dem Einzelnen oder der Gemeinschaft? U. v. m.

Seidler konnte mit den eigenen Erfahrungen aus der Nachkriegszeit und dem Wissen des Medizinhistorikers aufzeigen und erklären, warum sich der Diskussionsprozess in der Bundesrepublik nach den Verbrechen des Nationalsozialismus vorsichtiger und befangener entwickelte als in anderen Ländern. Zugleich gab er der Diskussion umgekehrt die deutlich breiteren Bemühungen derer mit auf den Weg, die sich schon seit den 1920er-Jahren aus anthropologischer und psychosomatischer Sicht den neu entstandenen Fragen der Arzt-Patienten-Beziehung gewidmet hatten.

In einem Rückblick auf die ersten fünf Jahre der Akademie konnte Seidler 1992 festhalten, dass die AEM zum interdisziplinären Forum für Wissenschaftler geworden war, die sich professionell oder aus ihrem Beruf heraus vorwiegend mit Fragen der Ethik in der Medizin beschäftigen. Zugleich war der Ethik-Diskurs seiner Beobachtung entsprechend nach wie vor fragil angesichts des Streits um theoretische Regeln für die ethischen Entscheidungen am Krankenbett einerseits und der Abneigung vieler Ärzte andererseits, philosophische, theologische oder juristisch begründete Argumente in ihre Entscheidungen zu übernehmen. Zu Recht ging er davon aus, dass die Akademiearbeit noch einen langen Atem brauchen würde und mit „ungebrochenem Engagement geduldig Einzelarbeit“ würde leisten müssen.

Ungefähr seit der Jahrtausendwende entwickelte sich die Ethik in der Medizin zu einem eigenständigen Fachgebiet. Der Vorstand der Akademie erarbeitete 2003 eine Vorlage für das Curriculum Medizinethik, das in die Approbationsordnung des Medizinstudiums einfloss, so dass Medizinethik seit 2004 im Rahmen des Querschnittsfachs GTE zum Pflichtfach für Medizinstudierende wurde. Vielfältige Einrichtungen wie beispielsweise Klinische Ethikkomitees und Ethikberatung in Klinken, Altenpflegeheimen und Einrichtungen der Behindertenhilfe gingen aus der Arbeit der AEM hervor, Nachwuchsförderung und nicht zuletzt Politikberatung gehören zu ihren Aktivitäten. Die erhofften Ziele der Gründungsmitglieder wurden erreicht, die AEM ist ein Erfolg geworden.

Auch heute brauchen diejenigen, die professionell in der Medizinethik arbeiten, nicht selten einen langen Atem. Vorbild aber bleiben das ungebrochene Engagement und die geduldige Einzelarbeit, mit denen Eduard Seidler die frühe Entwicklung der Akademie für Ethik in der Medizin förderte und begleitete. Die Akademie für Ethik in der Medizin wird ihn nicht vergessen und ihm ein ehrendes Andenken bewahren.