Die Akademie für Ethik in der Medizin e. V. (AEM) trauert um ihr Mitglied, Prof. Dr. Klaus Gahl, der am 29. September 2023 im Alter von 86 Jahren verstorben ist.

Klaus Gahl war vom 1. April 1982 bis zum Juni 2002 Chefarzt der Klinik für Kardiologie am Klinikum Braunschweig. Das Klinikum dankt ihm vor allem für die Weiterentwicklung der Kardiologie, die ihm ein großes Anliegen war, und hebt darüber hinaus sein Engagement in der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft hervor. Welch große Bedeutung seine Persönlichkeit für Braunschweig und insbesondere für die Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft hatte, lässt sich in deren Nachruf auf diesen so aufgeschlossenen, liebenswürdigen Menschen nachlesen. Dort seien auch einige seiner Lebensdaten entnommen:

Klaus Gahl wurde am 14. Juni 1937 in Todtmoos im Südschwarzwald geboren. Nach dem Staatsexamen in Medizin in Marburg, der Promotion 1966 und der Habilitation für Innere Medizin/Kardiologie 1974 war er Oberarzt an der Medizinischen Hochschule Hannover und von 1982 bis 2002 Chefarzt der Medizinischen Klinik II des Städtischen Klinikums Braunschweig. Eines seiner Spezialgebiete war die infektiöse Endokarditis.

Klaus Gahl hat mit Hingabe auf vielen Gebieten kompetent mitgearbeitet und seine Erfahrungen geteilt. Gemeinsam mit seiner Frau, Dr. phil. Hilde Gahl, war er in Braunschweig u. a. Förderer von Literatur und Musik, engagiert in der Lessing-Akademie, im „Freundeskreis zur Förderung der Kirchenmusik an Sankt Katharinen e. V.“, und Gründungsmitglied der „Freunde der Weltliteratur e. V.“. Er hat sein umfangreiches Wissen immer mit großer Bescheidenheit und Zurückhaltung eingebracht. Ich persönlich erinnere mich aber u. a. noch gut an seine lebhaften und begeisterten Berichte von den Schubertiaden in Schwarzenberg (Vorarlberg).

Vor diesem Hintergrund sind meine Erinnerungen an Klaus Gahl nur ein kleines Mosaik aus seinem Leben, und sie rechtfertigen nicht den Begriff eines „Nachrufs“. Er war aber auch Mitglied der Akademie für Ethik in der Medizin e.V. seit ihren Anfängen, und von 1998 bis 2009 einer der Schriftleiter der Zeitschrift Ethik in der Medizin, so dass ich von Seiten der Redaktion viele Jahre lang mit ihm zusammenarbeiten durfte. Prof. Dr. Felix Anschütz, Darmstadt, hatte zum Jahresbeginn 1998 seine Arbeit in der Schriftleitung der Zeitschrift beendet, und für ihn war es wichtig, einen Nachfolger für die Zeitschrift zu finden, der aus der Medizin, genauer aus dem aktiven ärztlichen Bereich, kam. Seine Wahl fiel auf Klaus Gahl, der der ideale Nachfolger war und ab diesem Zeitpunkt die Rubrik „Fall und Kommentare“ übernahm. Er war für die Arbeit an der Zeitschrift schon seit ihrer Gründung im Jahr 1989 ein zuverlässiger Ansprechpartner, nicht zuletzt bei den wichtigen Peer Review-Verfahren, er schrieb für die verschiedenen Rubriken u. a. Tagungsberichte und Rezensionen, und schließlich war er über zehn Jahre lang ein fachkundiger und bewährter Schriftleiter bei den Redaktionssitzungen.

In den Anfängen der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. war es der interdisziplinär zusammengesetzten Gruppe der Gründungsmitglieder ein besonderes Anliegen, diejenigen zu erreichen, die von den Herausforderungen ethischer und auch rechtlicher Art in der Medizin betroffen waren, nämlich die Ärztinnen und Ärzte. Dazu bedurfte es zwangsläufig engagierter Ärzt*innen, die bereit waren, die eigene Tätigkeit kritisch zu hinterfragen und sich auf die oftmals schwierigen interdisziplinären Auseinandersetzungen einzulassen. Klaus Gahl war einer der ersten ärztlichen Kolleg*innen, der diese Schwierigkeiten nicht nur nicht scheute, sondern selbst den Finger in die Wunden legte. Betrachtet man die von ihm benannten Schwerpunkte seiner Arbeit in der Medizinethik, so umfassen sie exakt die Fragen und Probleme, an denen er sich mit hoher Sensibilität und bewundernswerter Nachdenklichkeit und Geduld sein Leben lang abgearbeitet hat: Arzt-Patient-Beziehung; Therapiebegrenzung und -abbruch; Sterben und Tod; Patientenverfügung; medizinische Anthropologie. Bei alledem war er ein außerordentlich einfühlsamer Mensch.

Klaus Gahl war praktizierender Arzt in der Begegnung mit dem kranken Menschen, und diese beiden Personen, Arzt und Patient, in ihrer je eigenen Autonomie, waren zentrales Thema seiner vielen Publikationen. In den Kreis um den kranken Menschen hat Gahl aber grundsätzlich auch die Angehörigen einbezogen. Eines seiner vielen Anliegen galt entsprechend dem Dialog zwischen Pflegepersonen, Ärzt*innen, Kranken und Angehörigen, den er als Initiator der Braunschweiger Patientenforen Medizinische Ethik organisierte und förderte.

Zum einen galt sein Augenmerk dem Kranken und der personbezogenen Ebene ärztlichen Handelns: „Was aber ist das ‚Wohl‘ des Kranken? Ist Beschwerdelinderung oder Lebensverlängerung für jeden Kranken das gewünschte Ziel von Behandlung? Bedeutet nicht für viele Kranke Lebensverlängerung auch Leidensverlängerung – physisch, psychisch und evtl. auch sozial? Lässt sich das rechtfertigen? Kann nicht die Behandlungsbegrenzung, der -abbruch, der -verzicht dem Kranken die ‚ersehnte Erlösung‘ bringen? Wir können nicht wissen, ob zu seinem Wohl; wohl aber oft die Befreiung, nicht weiter leben zu müssen. Es gibt ein Lebensrecht, aber keine Lebenspflicht in solchem Leiden. Kann aber aus diesem Lebensschutzrecht eine Lebenspflicht, noch dazu eine von außen, von Ärzten, Pflegepersonal, Angehörigen, Institutionen wie Krankenhaus, Versicherung oder auch von der Kirche eine Lebenspflicht auferlegt werden? Wessen Leben ist es überhaupt?“ (Gahl 2008). Mit Nachdruck hat er immer wieder auf die medizinische Sachbeurteilung einerseits und die Wertbeurteilung für den individuellen Kranken andererseits hingewiesen, auf die wahrzunehmenden Implikationen deskriptiver und präskriptiv/normativer Anteile ärztlicher Entscheidungen. Folgerichtig war das Wohl des Kranken für ihn unabdingbar mit dem Vorrang der Autonomie des Patienten, der Patientin verknüpft. Klaus Gahl war Mitglied in der „AG Sterben und Tod“ in der Akademie für Ethik in der Medizin e. V. (AEM) und Erstunterzeichner der „Göttinger Thesen zur gesetzlichen Regelung des Umgangs mit Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht“ (AEM 2006).

Zum anderen richtete er seine Aufmerksamkeit aber ebenso auf die Person des Arztes und dessen – wie Gahl es nannte – „Behandlungslast“. Besonders bemerkenswert ist schon sein erster Beitrag in der Zeitschrift Ethik in der Medizin, ein Kommentar zu einem Fallbericht, in dem Klaus Gahl den ärztlicherseits bewusst in Kauf genommenen Verzicht auf eine diagnostische Maßnahme (Herzkatheteruntersuchug) und das damit verbundene Risiko für die Patientin (Rezidivinfarkt) angesichts existenzieller Ängste der Betroffenen analysiert und im Einzelfall die „Richtigkeit“ eines ärztlichen Diagnoseverzichts begründet (Gahl 1989, S. 109–110).

Aus der Fülle der Veröffentlichungen von Klaus Gahl, nicht zuletzt zu einer medizinischen Anthropologie als Gegengewicht gegenüber einer einseitig naturwissenschaftlichen Anthropologie, die der leiblich-geistigen, personalen Würde des Menschen nicht gerecht werden kann, möchte ich zwei seiner Aspekte zum Handeln des Arztes hervorheben, die mir persönlich wichtig geworden sind.

Mit der Frage nach dem „Heilziel“ rückt für Gahl der Begriff der ärztlichen Indikation in den Mittelpunkt. Aber: „Was zunächst so selbstverständlich scheint, ist bei näherer Betrachtung sehr komplex. Und gerade wegen der Komplexität sind wir Ärzte in dem handlungsleitenden Begriff der Indikation so leicht korrumpierbar“ (Gahl 2008, S. 1155). Gahl fragt penibel nach den vielfältigen Determinanten der Begründungsargumentation für eine Indikation. Dazu gehören beispielsweise der aktuelle Krankheitszustand des Patienten/der Patientin, Lebensbedrohung oder Heilbarkeit, Effektivität und Effizienz medizinischer Möglichkeiten, die biopsychosoziale Situation des Kranken, aber auch die erforderliche Subsumtion des Individuellen unter das Allgemeine kollektiver Erfahrung sowie umgekehrt die Anwendung des Allgemeinen auf die individuelle einzigartige Situation des Kranken. Nicht zuletzt bringt die Person des Arztes Wissen und Erfahrung sowie Vertrauen und Verantwortungsbereitschaft in die Situation. Zur Präzisierung der Frage nach den für den Arzt verpflichtenden Bedingtheiten übernimmt Gahl das „pathische Pentagramm“ von Viktor von Weizsäcker mit den Fragen nach dem Müssen, dem Sollen, dem Dürfen, dem Können und dem Wollen (Gahl 2005, S. 1156). Dies alles muss in der Frage gipfeln, für wen Ärzt*innen jeweils handeln: „Die vielfältige Einbindung und komplexe Abhängigkeit fordert die Wachsamkeit gegenüber den Möglichkeiten der Korruption. Damit ist nicht, mindestens nicht allein die pekuniäre Bestechlichkeit gemeint; die versteckte Handlungsbegründung von Diagnostik und Therapie, ein Gerät müsse sich amortisieren. Es ist auch die Argumentation mit der Gründlichkeit, der Vollständigkeit, das Argument der Absicherung gegen den Vorwurf der Unterlassung, die eine im Einzelfall fadenscheinige Begründung bietet. Nicht zuletzt ist die ‚Überwertigkeit‘ statistischer Begründung, die u. U. für den einzelnen Patienten sach-, vor allem aber wertorientiert inadäquat sein kann. Es kann auch der psychische Druck sein, nicht aushalten zu können, ‚nichts‘ zu tun. Schließlich ist auch die mögliche mehr oder weniger starke Einflussnahme organisatorischer, institutioneller oder auch personell-hierarchischer Innen- und Außenstrukturen zu denken“ (Gahl 2005, S. 1157–1158).

Der zweite ebenso wichtige Aspekt benennt aber auch die „Behandlungslast“, die das ärztliche Handeln stets begleitet:

  • Ärztliche Behandlungspflicht: psychologisch – juristisch – moralisch, im Selbstverständnis des Arztes und in der Erwartung des Kranken und der Öffentlichkeit;

  • Pflicht der Sachbeurteilung und der Befähigung zur Behandlung (u. U. mit Assistenz; logistische Regelungen) und der Möglichkeiten im Blick auf die aktuelle Situation und die Prognose;

  • Last der „Aufklärung“, Kommunikation mit dem Kranken und den Angehörigen, dem Behandlungsteam u. a.;

  • Last der Durchführung der beschlossenen Handlung oder „Intervention“; Rechtfertigungsdruck bei Ge- oder Misslingen, bei Behandlungsbegrenzung oder -verzicht;

  • Last der Verantwortung, gemäß dem Willen des Kranken zu handeln (Gahl 2008).

„Begegnung und Verantwortung“ (Gahl 2020) – der Titel seiner letzten großen Publikation – ist die Summe seiner unermüdlichen Bemühungen um die Arzt-Patienten-Beziehung. „Begegnung und Verantwortung“ sind aber auch die Begriffe für den Lebensentwurf und die Überzeugung, mit denen Klaus Gahl Arzt war. An seinen Erfahrungen konnte die Akademie für Ethik in der Medizin e. V. teilhaben, von seinem Engagement dankbar profitieren. Sie wird ihm ein ehrendes Angedenken bewahren.