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Publicly Available Published by De Gruyter (A) December 21, 2022

Glanz und Elend des Sozialen

Axel Honneths philosophischer Weg

  • Barbara Carnevali

Abstract

This article retraces and discusses the philosophical itinerary of Axel Honneth, from the groundbreaking book Struggle for Recognition up to the recent essays Freedom’s Right and The Idea of Socialism. In the first section, I examine Honneth’s programmatic concept of social pathology in relation to Ernst Cassirer’s idea of the secularisation of theodicy (i. e. the attribution of responsibility for human suffering to society) and to the enlightenment legacy of Jean-Jacques Rousseau. In the second section, after assessing Honneth’s position in the tradition of critical theory, I analyse his philosophical views. I identify two different theoretical frameworks in Honneth’s work: on the one hand, the theory of the struggle for recognition; on the other hand, the recent theory of social freedom. While the first is grounded in a formal and allegedly universal anthropology, the second draws on the Hegelian doctrine of the ethical life and develops a historicist and internalist model of reconstructive social criticism. Finally, in the third section, I critically address the “divinisation of the social” entailed in Honneth’s project of social pathologies’ critique, and argue that Honneth’s trust in the normative power of intersubjectivity might be excessive.

1 Prolog in Davos

Der Weg, der uns nach Frankfurt bringt, wird durch Davos führen, das Schweizer Alpendorf, wo sich die Handlung von Thomas Manns Zauberberg abspielt. Wir werden einen kleinen Umweg durch die Lobby des Berghofs machen, an einem jener Sonntage der Belle Époque, da die Kurgäste des Sanatoriums die Ankunft der Post erwarten. Ludovico Settembrini nimmt eine seiner pädagogischen Predigten in Angriff, in der Hoffnung, Hans Castorp abzulenken, der, bis über beide Ohren verliebt in Madame Chauchat, nicht mehr Herr seiner selbst ist. Als Gegenmittel für den ungesunden Charme der schönen Russin feiert der italienische Humanist das Programm einer humanitären Institution, der Liga für die Organisierung des Fortschritts, die sich den kollektiven Auftrag gegeben hat, eine immense Enzyklopädie mit dem Titel „Soziologie des Leidens“ zu erarbeiten. Das Werk, dessen Anspruch es ist, das Elend der Menschheit zu heilen, beruht auf zwei grundlegenden Überzeugungen. Der ersten zufolge kann das Böse durch das Wissen konfrontiert und unschädlich gemacht werden: „[D]er eigentlich furchtbare Feind ist der unbekannte.“ [1] Die zweite besagt, dass die Leiden der Einzelnen großenteils gesellschaftlich determiniert, „daß fast alle Leiden des Individuums Krankheiten des sozialen Organismus sind“ [2]. Diese beiden Intuitionen stecken das Feld einer neuen Disziplin ab, der Settembrini mit einer Formulierung, die erstaunlich nah an einem Grundbegriff von Axel Honneths Theorie ist, den Namen „Soziologische Pathologie“ gegeben hat:

Dies ist die Absicht der „Soziologischen Pathologie“. Sie wird also in etwa zwanzig Bänden von Lexikonformat alle menschlichen Leidensfälle aufführen und behandeln, die sich überhaupt erdenken lassen, von den persönlichsten und intimsten bis zu den großen Gruppenkonflikten, den Leiden, die aus Klassenfeindschaften und internationalen Zusammenstößen erwachsen, […] kurz gesagt, […] indem sie die Würde und das Glück der Menschheit zur Richtschnur nimmt, wird sie ihr in jedem Falle die Mittel und Maßnahmen an die Hand geben, die ihr zur Beseitigung der Leidensursachen angezeigt scheinen. [3]

Obwohl dieser Auszug gewisse Passagen der Soziologie der Leiden (1914) des Münchener Soziologen und Psychologen Franz Müller-Lyer aufnimmt, geht der Gebrauch des Zitats bei Mann weit über die Kategorie des Pastiches hinaus. Es handelt sich nämlich um eine philosophische Dramatisierung im Stile des deutschen Denkens des 19. und 20. Jahrhunderts, das es, dem Beispiel von Hegels Phänomenologie folgend, liebt, geistige Konflikte mittels philosophischer „Figuren“ zu inszenieren, wie etwa dem „unglücklichen Bewusstsein“ Hegels, dem „Christentum“ oder dem „Ressentiment“ Nietzsches, dem „Mythos“ und der „Vernunft“ Adornos und Horkheimers. Im Symbolsystem des Zauberbergs repräsentiert die Idee der soziologischen Pathologie, die den Begriff der Gesellschaft und jenen des Leidens, des pathos, zu einem Kausalnexus zusammenzieht, in der Tat eine Figur der Aufklärung* [4], nämlich die okzidentale Vernunft und das humanistische Emanzipationsprojekt, das aus ihr hervorgeht. Daher kann sie herangezogen werden, um die obskurantistische Bedrohung zu bekämpfen, die all jene Charaktere des Romans – Ärzte, Psychoanalytiker, Patienten und natürlich der Jesuit Naphta, Gegenspieler Settembrinis – repräsentieren, die sich auf der „orientalischen“ Seite verbinden. In der oben zitierten Episode lassen sich zwei entgegengesetzte Deutungen des menschlichen Leidens und damit zwei antithetische Ansätze der Philosophie des Bösen erkennen, die in den meisten Dialogen und Abschweifungen über das Thema der Krankheit, die diesen Roman konstellieren, wieder auftauchen. Die erste, die Mann mit dem Orient und der Philosophie Schopenhauers assoziiert, schreibt das Böse irrationalen und undurchdringlichen metaphysischen Gründen zu, denen der Mensch zum Opfer fällt und über die er keinerlei Kontrolle ausübt. Die andere, Tochter der humanistischen Zivilisation und der Aufklärung, führt dasselbe Böse auf seine soziohistorischen Wurzeln zurück und betrachtet es als die Auswirkung einer kontingenten Devianz des menschlichen Handelns, die die Vernunft erklären und die Praxis reformieren kann. Unter diesem Blickwinkel versteht sich das Leiden als ein Phänomen anthropologischer und historisch-gesellschaftlicher, nicht metaphysischer, Natur; dies verleiht der Gesellschaftskritik einen therapeutischen Zweck, zugleich auf der Ebene des theoretischen Wissens und auf jener des politischen Engagements.

Rein zufällig findet fünf Jahre nach der Veröffentlichung des Zauberbergs, d. h. 1929, genau dort, in Davos, die Debatte zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger statt. Die Aufgabe, die um die Interpretation des Denkens Kants herum kristallisierte, war in vielen Punkten jener der imaginären Duelle von Settembrini und Naphta ähnlich: eine epochale Bilanz der Rolle der Vernunft und der humanistischen Zivilisation für das Schicksal des Okzidents. Um der Debatte etwas folgen zu lassen und eine alternative Philosophie zur heideggerschen Daseinsanalyse zu erarbeiten, stürzte sich Cassirer in seinen Essays zur Philosophiegeschichte Anfang der 1930er Jahre in eine Rettungsmission für die humanistischen Werte. Er beschwor damals – stark an die Grundlage von Settembrinis Reden gemahnend – die Idee, das Projekt der Aufklärung einer ,Säkularisierung der Theodizee‘ [5] zu widmen. Die Formulierung legt nahe, dass das menschliche Leiden nicht im Rekurs auf theologische Prinzipien – wie das Dogma der Erbsünde oder die Idee der göttlichen Vorsehung – gedeutet werden, sondern eher von den Mechanismen der gesellschaftlichen Ordnung her, als Ganzes betrachtet, erforscht werden soll. Der Hiob der Moderne braucht seine Augen nicht mehr zum Himmel zu erheben und Gott nach dem Grund seiner Leiden zu fragen, sondern er soll sich der profanen und historischen Realität zuwenden und Soziologen, Historiker, Kultur- und politische Philosophen anrufen. Die Gesellschaftsexperten können von nun an sich selbst Kompetenzen in Sachen Gerechtigkeit und Moral anmaßen, die einst den Theologen zukamen. So löst der soziale Raum die transzendente Welt als ätiologischer und therapeutischer Horizont des menschlichen Leidens ab: Wenn die Ursache des Bösen gesellschaftlich ist („it’s society’s fault“, wie es das geflügelte Wort sagt, das die Popkultur von jener modernen Wende der Philosophie geerbt hat), dann muss sich das Heilmittel für dieses Böse ebenfalls in der gesellschaftlichen Sphäre finden lassen (hier klingt auch eine von aufklärerischem Denken inspirierte Maxime an: „Das Rettende ist in der Gefahr“) [6]. Die große philosophische Revolution Jean-Jacques Rousseaus, so fügt Cassirer schließlich hinzu, geschieht in den Theorien des Zweiten Diskurses: Der Grund für die gesellschaftliche Ungerechtigkeit ist nicht in der Transzendenz zu finden, in den Plänen Gottes oder einer unterstellten Perversion der menschlichen Natur in einer vorgeschichtlichen oder außergeschichtlichen Zeit, sondern in der Geschichte, das heißt im Herzen des Prozesses der Zivilisation. Das Böse wird von nun an einem neuen Kollektivsubjekt zugeschrieben; dies ist nicht mehr das einzelne Individuum, sondern die ganze Gesellschaft:

Das ist die Lösung, die Rousseau dem Problem der Theodizee gegeben hat – und mit ihr hat er in der Tat dieses Problem auf einen völlig neuen Boden gestellt. Er hat es über den Kreis der Metaphysik hinausgeführt und es in den Mittelpunkt der Ethik und der Politik versetzt. Damit aber hat er ihm einen Impuls gegeben, der auch heute noch ungeschwächt fortwirkt. Alle sozialen Kämpfe der Gegenwart werden noch immer von diesem ursprünglichen Impuls bewegt und getrieben. Sie wurzeln in jenem Bewußtsein der Verantwortung der Gesellschaft, das Rousseau als erster besessen und das er der gesamten Folgezeit eingepflanzt hat. [7]

Wir stehen nun an den Ufern des Denkens von Honneth, der in seinem Essay „Die Pathologien des Sozialen“ [8], der als ein Manifest der ersten Phase seines Denkens betrachtet werden kann, Rousseaus Zweiten Diskurs als Startpunkt der modernen Sozialphilosophie darstellt, die auf dieser neuen Konzeption von historischer Verantwortung und Praxis des Menschen beruht. Vor der Untersuchung dieses Essays ist es jedoch in einem ersten Schritt notwendig, den letzten Teil des Weges nach Frankfurt nachzuvollziehen, dessen wesentliche Wendung das transatlantische Exil der deutschen Intellektuellen ist, die dem Nationalsozialismus zu entkommen suchten. Ohne die extreme Negativfigur, die sich im Ereignis der Shoah selbst kondensiert, zu berücksichtigen, wäre es unmöglich, das im Konzept der sozialen Pathologie implizite Wertesystem vollständig zu erfassen. Für die Vertreter der ersten Generation der Frankfurter Schule war es aufgrund der Erfahrung der tragischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts undenkbar geworden, Cassirers optimistischen Humanismus zu unterschreiben. In diese Verweigerung schreibt sich die Dialektik der Aufklärung ein, jene katastrophistische Verurteilung, durch die Adorno und Horkheimer mittels der Entwicklung einer pessimistischen Philosophie der Geschichte – gedacht als durch die transzendenten Kräfte von Vernunft und Mythos regierter Prozess – eine erneuerte Version des metaphysischen Zugangs zur Frage nach dem Bösen vorschlagen. Dieser Widerruf der Aufklärung* und ihres Begriffs von historischer Verantwortlichkeit dauert sogar während der Zeit der Rückkehr nach Deutschland fort und schlägt sich bei den Frankfurtern in einer Art intellektuellen Widerstandes nieder, der dennoch bestimmte Werte der humanistischen und bürgerlichen Zivilisation neu legitimiert, so etwa die Unantastbarkeit des Lebens und die Autonomie des Individuums. In Horkheimers letzter Reflexion, „Kritische Theorie gestern und heute“ von 1969, liest man:

Es gibt zwei Lehren der Religion, die für die heutige Kritische Theorie entscheidend sind, wenn auch in einer veränderten Form. Die erste ist die Lehre, die ein großer, ein ungläubiger Philosoph [Arthur Schopenhauer], die größte Einsicht aller Zeiten genannt hat: die Lehre von der Erbsünde. Wenn wir glücklich sein können, ist jeder Augenblick durch das Leiden unzähliger anderer erkauft, von Tieren und von Menschen. Die heutige Kultur ist das Resultat einer entsetzlichen Vergangenheit. […] Wir alle müssen mit unserer Freude und mit unserem Glück die Trauer verbinden; das Wissen, daß wir an einer Schuld teilhaben. [9]

Indem er auf seine Weise die Idee der Erbsünde aufnimmt, weist Horkheimer den Geist der Säkularisierung der Theodizee zurück, um sich eine Vision von Fehlen und Leiden zu eigen zu machen – nicht bloß menschlich, sondern universell –, die sich, polemisch gesagt, wieder jener gegenaufklärerischen Denkbewegung anschließt, die Mann im Zauberberg auch mit Schopenhauers Philosophie in Verbindung bringt. Der Versuch, die Verbindungen zwischen dem Auftrag der kritischen Theorie und dem Erbe der Aufklärung neu zu knüpfen, sollte daher den folgenden Generationen Frankfurter Philosophen zufallen.

2 Kritik der sozialen Pathologien: eine neue Figur der Dialektik der Vernunft

Für Honneth – seit 2001 Direktor des Instituts für Sozialforschung, des „Zuhauses“ der Frankfurter Schule – stellt sich die Sozialphilosophie als legitime Erbin (wenn auch erst nach Errichtung eines Nachlassinventars) der „kritischen Theorie“ dar; jene Bezeichnung hatte Horkheimer eingeführt, um einen Unterschied zur „traditionellen Theorie“ [10] zu etablieren. Die Beziehung, die Honneth zu der von den Frankfurter Denkern der ersten Generation ererbten Idee von Kritik unterhält, ist eine doppelte. Obschon er sich die reflexive Dimension und die emanzipatorische Zielsetzung, die jener Idee von Kritik inhärent sind, neu aneignet (die kritische Theorie muss sich ihrer gesellschaftlichen und materiellen Bedingungen bewusst sein und zur Anfechtung des Status quo tendieren), verwirft er umstandslos die polemische anti-rationalistische Anklage, die die Dialektik der Aufklärung charakterisiert. Dieses neue sozialphilosophische Projekt, das auf einer neuen und positiven Konzeption der Aufklärung* beruht, rückt die normative Frage zurück in den Vordergrund und eröffnet daselbst erneut den dialektischen Prozess der Vernunft. Erinnern wir uns daran, dass, Adorno und Horkheimer zufolge, dieser Prozess durch den definitiven Umschlag der Vernunft in Mythos und den Umschlag der Bedingungen von Emanzipation und Freiheit in Instrumente von Knechtschaft und Macht abgeschlossen worden war.

Von dieser Perspektive gesehen tritt Honneth in die Fußstapfen Habermas’, der den Bruch initiiert hatte, der zur Geburt der zweiten Frankfurter Generation führte [11]; und mehrere Gründe erlauben es, die neue Forschungslinie als eine Fortsetzung des Projekts der Aufklärung zu betrachten. Zuallererst, weil sie die Vernunft zu rehabilitieren hofft, indem sie sich weigert, sie auf eine einfache subjektive instrumentelle Fähigkeit zu reduzieren, und indem sie ihre „objektive“ Fähigkeit, Normen hervorzubringen und sich Zwecke zu setzen, neu betrachtet; des Weiteren, weil sie eine bestimmte Idee des Fortschritts wieder in Wert setzen will, sicherlich eine bescheidenere und in Folge der geschichtlichen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts revidierte; und zuletzt, weil sie die Autonomie und die Legitimität des Sozialen zu restaurieren wünscht, indem sie die Tendenz Adornos und Horkheimers zurückweist, die zwischenmenschlichen Verhältnisse ausschließlich nach dem Modell der Naturbeherrschung zu denken, d. h. als Verhältnisse der Verdinglichung, der Beherrschung und der Ausbeutung [12]. Die Gelegenheit, den Idealen der Emanzipation wieder ein gewisses Fundament zu geben, stützt sich auf die normativen Ressourcen, die in der Gesellschaft selbst als wirksam enthalten sind. Dies in dem Maße, in dem die „Verzerrung“ der sozialen Prozesse, die den Ursprung der pathologischen Effekte bildet – im Kern der fortschreitenden Kolonisierung der Lebenswelt durch den Kapitalismus geschuldet –, dergestalt neugeordnet werden kann, dass sie von Neuem Geltung und Verständnis hervorbringen. Dieses Vorgehen ist, Habermas zufolge, der ersten Frankfurter Generation fremd, die sich, im Versuch, sich der Sackgasse der Vernunft zu entledigen, Sphären zugewandt hatte, die nun genau diesseits und jenseits des Sozialen situiert sind, wie zum Beispiel Gott (das Ganz Andere, Unvorstellbare), der Natur (auf die sich der ästhetische Impetus der adornoschen Mimesis richtet) oder auch dem Individuum (wie Kierkegaard es versteht, das heißt, als nicht auf die Gesellschaft reduzibler Wert).

Die Art, auf die er das normative Potenzial versteht, das in sozialen Erfahrungen liegt, ist ein erster Punkt, durch den sich Honneth von Habermas unterscheidet. Während sie für letzteren kommunikativ sind, sind sie für Honneth deutlicher praktisch, da er zugleich die Rolle der Vernunft und jene der Affekte neu bewertet (jene sind fähig, einerseits Zustimmung und Solidarität hervorzubringen: dies ist der Fall bei Liebe, Respekt, Anerkennung, Sympathie, Empathie; oder andererseits die Würde der Menschen zu beschädigen, im Falle der Verachtung). [13] Honneth grenzt sich aber darüber hinaus noch in zwei weiteren signifikanten Punkten von Habermas ab. Er beansprucht nämlich ein Primat der negativen sozialen Erfahrungen, d. h., er setzt in seiner Theorie bei den moralischen Verletzungen an, die normale Menschen als störend und ungerecht empfinden: Es ist die Erfahrung der Negativität, die die Kritik auslöst, sowohl als Verurteilung wie als Kampf begriffen [14]. Und er versöhnt die großen Fragen der Gerechtigkeit mit der Frage der Ethik des Glücks und des guten Lebens. Habermas, der von der Philosophie verlangte, sich auf die Untersuchung von Problemen zu beschränken, deren Gegenstand die soziale Gerechtigkeit ist – und der somit der Frage der Gerechtigkeit Priorität gegenüber der Frage nach dem Guten einräumte –, bleibt Kantianer. Aber Honneth geht weiter: Ihm gelingt es, das moralische Anliegen Kants und das ethische von Rousseau und Hegel zu versöhnen, indem er der Sozialphilosophie die zusätzliche Aufgabe zuweist, die Bedingungen der menschlichen Selbstverwirklichung sowie die essenziellen Kriterien des „gut“ genannten Lebens zu untersuchen [15].

Um Honneths Geste zu verstehen, muss man mit der Vorstellungswelt der Klinik beginnen, Bühnenhorizont des Begriffs der sozialen Pathologie. Die Gesellschaft, so Honneth, ähnelt einem kranken Körper, den man mit einer korrekten Diagnose und korrekten Therapien behandeln könnte, während die Aufgabe des kritischen Philosophen jene eines Arztes wäre, der mit einem kniffligen methodologischen Problem ringt: Das Auffinden einer Krankheit in einem Körper erfordert eine vorgängige Vorstellung vom gesunden Zustand; es ist unmöglich, eine Krankheit zu diagnostizieren, ohne das normale Funktionieren des betreffenden Körpers zu unterstellen. Dieses Prinzip der medizinischen Praxis, das bereits zweifelhaft ist, sofern man es nicht mehr nur auf die Idee der körperlichen, sondern auch der seelischen Gesundheit anwendet, wird nur noch ungewisser, sobald die Kopplung Pathologie–Physiologie in das Feld der Gesellschaft hineingetragen wird, um ihre Praktiken und Institutionen zu beurteilen: Worin genau kann der „gesunde“ Zustand einer gesellschaftlichen Formation bestehen? Wie ist es möglich, einen solchen Zustand zu bestimmen, wenn man nicht bloß die offensichtliche Relativität kultureller Werte berücksichtigt, aber auch das Misstrauen, das Foucault uns gelehrt hat, gegenüber jedem zu haben, der ein Kriterium gesellschaftlicher Normalität definieren möchte? Und selbst, wenn man annimmt, dass dieses diagnostische Kriterium existierte und widerspruchsfrei angewendet werden könnte: Wie kann es sich die Gesellschaftskritik aneignen? Durch welche Mittel kann es ihr gelingen, ihm einen Grund zu geben und es zu rechtfertigen?

Die Besonderheit von Honneths Position erscheint klarer, wenn man sie aufs Tapet der gegenwärtigen Debatte holt. In einem Essay, der einige Jahre nach den „Pathologien des Sozialen“ auf die Frage der Kritik zurückkommt, beginnt Honneth damit, die bekannte Unterscheidung Michael Walzers zwischen prophetischer, inventiver und hermeneutischer Kritik zu erläutern – die beiden ersteren werden auch „extern“ und die dritte „intern“ [16] genannt –, um sich danach an die Seite des dritten Typs von Kritik zu begeben: Die interne, immanente Methode hat den Vorteil, nicht auf normative Kriterien zu rekurrieren, die, durch die sozialen Subjekte, als paternalistische oder sogar kolonisatorische Setzungen wahrgenommen werden könnten. In der Tat sind es die normativen Intuitionen, die den sozialen Subjekten schon bekannt sind, die ihrer Kultur eigenen Werte und Ideale, die das Fundament der immanenten Methode bilden. Eher als ein Prophet oder als ein Architekt ist der Kritiker hier ein hermeneutischer Vermittler, der den Prozess der Selbstinterpretation und der Selbstkritik seines Patienten unterstützt und vorzieht. Walzer akzeptiert ebenso wie Honneth ein „analytisches“ Kritikmodell; aber dort, wo Walzer die Kritik als eine gewöhnliche soziale Aktivität konzipiert und dem Intellektuellen keine privilegierte Rolle bei der internen Deutung der Werte zuerkennt, räumt Honneth dem Philosophen eine besondere Aufgabe ein, die man als Äquivalent der Haltung des Psychoanalytikers auf gesellschaftlicher Ebene betrachten könnte.

Ich glaube, dass ich Honneths Denken keine Gewalt antue, wenn ich bekräftige, dass seine Idee immanenter Kritik in einer gänzlich originellen Übertragung des therapeutischen Modells der freudschen Analyse (oder besser gesagt, einer bestimmten unorthodoxen Interpretation dieses Modells) ins soziale Feld besteht. Im Laufe des kritischen Prozesses ist der Philosoph mit den Pathologien der Gesellschaft in gleicher Weise konfrontiert, wie der Psychoanalytiker mit den Neurosen und Psychosen seiner Patienten konfrontiert ist. In beiden Fällen bleibt das kranke Subjekt der Protagonist der Therapie, während der Therapeut sich darauf beschränkt, den Patienten durch den Prozess der Selbstreflexion zu führen, indem er die richtigen Fragen stellt, und ohne dass er irgendeine Antwort suggeriert, damit er keine externe Lesart der Phänomene unterstellt. Die interne Kritik hilft dem Subjekt, sich zu verstehen, sich über die eigenen Ziele klar zu werden, die Knoten, die seinen Willen einschränken, zu lösen, und sich damit ,seine Freiheit wieder anzueignen‘ [17]. Honneth gibt zudem der „Rekonstruktion“ großes Gewicht, d. h. dem wesentlich narrativen Moment der Wiedererinnerung und Befragung der Vergangenheit, den er gerne hegelianisch als „Rückkehr zu sich“ beschreibt. Auch wenn dies unsere Analogie zu stärken scheint, besteht dennoch ein entscheidender Unterschied zwischen Sozialphilosophie und Psychoanalyse: Während der Patient sich aus eigenem freien Willen an den Analytiker wendet, damit dieser seiner Heilung hilft, nimmt der Sozialkritiker aus seiner eigenen Initiative heraus die Rolle des Diagnostikers ein und untersucht die Gesellschaft. Diese Initiative, die kein Gegenstand irgendeiner expliziten oder klar zu erkennenden Anfrage ist, riskiert es dennoch, als die typische Haltung des herablassenden Vaters oder der sprechenden Grille [18] wahrgenommen zu werden, die die interne Kritik hinter sich zu lassen hofft. Der Begriff der sozialen Pathologie lässt somit eine ganze Reihe von Fragen in der Schwebe, die im Zentrum der aktuellen Debatte über Gesellschaftskritik stehen [19]. Es bleibt zum Beispiel noch zu erklären, wie die Beziehung zwischen dem Philosophen als Therapeuten und der Gesellschaft als „Patientin“ sich konkret artikuliert. Letztere kann sich ja schließlich nicht in die Praxis des Analytikers begeben, da die Intentionalität und die Agency des Individuums ihr abgehen; alle ihr Leiden und ihre normativen Ansprüche betreffenden Daten müssen durch repräsentierende und vermittelnde Instanzen interpretiert und übertragen werden.

In der honnethschen Theorie fällt den Sozialwissenschaften – Soziologie, Psychologie und Geschichte – die Aufgabe der Repräsentation zu (die Ethnolo-gie und Kulturanthropologie sind wahrscheinlich deswegen ausgeschlossen, weil eine Parallele zu anderen Kulturen es riskierte, den Rahmen des internalistischen Modells zu sprengen). Ihre Forschung verhindert die spekulative Versuchung, die dem von Honneth akzeptierten hegelschen Paradigma stets latent ist: Beauftragt damit, einen Bericht über die vergangenen und laufenden sozialen Transformationen abzuliefern, verlangen sie darüber hinaus vom Kritiker, dass er seine Diagnosen auf empirische Rekonstruktionen statt persönliche Intuitionen aufbaut. Die Sozialwissenschaften sind daher das unverzichtbare Medium der kritischen Selbstreflexion der Gesellschaft. Die Lehre, die das Frankfurter Institut der zeitgenössischen Sozialphilosophie mitgegeben hat, ist von unschätzbarem Wert: Sie scheint in der Fähigkeit hervor, die verschiedenen Disziplinen mittels eines fruchtbaren Dialogs zwischen theoretischem und empirischem Wissen zu koordinieren. Um bei der klinischen Metapher zu bleiben, könnte man sagen, dass, in der honnethschen Konzeption, die sozialwissenschaftlichen Forscher die Rolle von Fachärzten spielen, während der Philosoph, der die Stellung des Allgemeinmediziners einnimmt, die Aufgabe hat, sie zu befragen, um anschließend an ihrer Seite eine vollständige allgemeine Diagnose zusammenzustellen [20]. Soziale Bewegungen haben ihrerseits auch eine wichtige Rolle zu spielen, und die neue Kritik erkennt ihnen einen doppelten Auftrag zu: zum einen, die Proteste und die Forderungen der Empörten, der Leidenden und der Ausgeschlossenen vorzutragen, und zum anderen, den Impetus des historischen Fortschritts zu verkörpern. Die Geschichte entwickelt sich, Honneth zufolge, nicht aufgrund eines teleologischen Impetus, der ihr eigen ist, sondern schreitet im Maße der konkreten Kämpfe sozialer Gruppen fort. Dieses Motiv, mehr marxsch als hegelsch, das der Titel seines ersten großen Werks, „Kampf um Anerkennung“ (1992), bereits ins Zentrum der Diskussion stellt, scheint nichtsdestoweniger im Laufe der Zeit seine Kraft verloren zu haben. In der Tat ist es der in den Institutionen und Sitten verkörperte objektive Geist, der sich in Das Recht der Freiheit (2011) und den Essays, die darauf Bezug nehmen, als wahrhafter Akteur des geschichtlichen Prozesses vorstellt; und zugleich erscheint, hinter dem Begriff der Rationalisierung verborgen, von Neuem eine Form von Geschichtsphilosophie, die vom sozialen Konflikt freigemacht ist [21]. Wir werden darauf zurückkommen.

Parallel zu dieser Entwicklung hat auch die von Honneth verteidigte Vorstellung von Kritik ihrerseits im Laufe der Zeit eine signifikante Veränderung durchgemacht. Im Zuge einer ersten Phase hat sein normatives Modell nämlich einen klar universalistischen Pfad eingeschlagen, mit dem Vorschlag, zu einer formalen Ethik zurückzugehen, die auf einem gleichermaßen formalen, „schwachen“ Konzept philosophischer Anthropologie beruht. Neben der Entlarvung der Formen von Entfremdung – jener negativen sozialen Phänomene, die den Weg zur freien menschlichen Selbstverwirklichung versperren –, muss der Kritiker auch versuchen, die Ermöglichungsbedingungen eines erfüllten Daseins zu definieren: Wenn diese Vorbedingungen auch nichts über die konkreten Zwecke, die eine Lebensform sich geben kann, aussagen, und genauso wenig beanspruchen, eine widerspruchsfreie und substanzielle Definition der menschlichen Natur zu liefern, sind sie doch im Gegenzug unentbehrlich, um die Entwicklung der Autonomie zu fördern, die die Bestimmung der vorgenannten Ziele verlangt. Dieses formale ethische Kriterium findet seinen Ausdruck im Begriff der Anerkennung, der ideellen intersubjektiven Bedingungen, die es jedem erlaubt, Grundfähigkeiten zu erwerben – Selbstvertrauen, -achtung und -wertschätzung –, die unentbehrlich dafür sind, sich selbst frei zu bestimmen. [22] In „Pathologien des Sozialen“ richtet Honneth, indem er die Vorteile dieses ethisch-anthropologischen Ansatzes mit der kontextuellen Alternative konfrontiert, das Augenmerk auf die Tatsache, dass eine Strategie der geschichtlich relativen Begründung es riskiert, die klassische Ambition der Sozialphilosophie zu gefährden – nämlich Wertungen nach Kriterien aufzustellen, die ihre Kontexte transzendieren. [23] In den späteren Schriften macht diese Ambition allerdings Platz für einen zunehmend betonten Lokalismus, während die geschichtliche und vor allem „objektive“ Dimension der moralischen Ideale an Bedeutung gewinnt. In der Tat schlägt die Gesellschaftskritik vor, diese Ideale zurückzugewinnen, indem sie die im Gewebe der Praktiken und der konkreten Institutionen materiell verkörperten Normen „expliziert“. In dieser Hinsicht löst der Begriff der Sittlichkeit jenen der Anerkennung ab; er hofft nicht mehr, eine auf verschiedene Kulturen anwendbare Grammatik zu liefern, sondern fügt sich in ein historisches Projekt der „Rekonstruktion“ der okzidentalen demokratischen Sittlichkeit ein, das durch die hegelsche Rechtsphilosophie inspiriert ist. Daher bezeichnet das Konzept der Anerkennung* in den Essays, die die Fragen von Das Recht der Freiheit weiterentwickeln, nicht mehr eine formale universalistische Ethik, sondern die spezifische Bedingung der okzidentalen Sittlichkeit*, die es den sozialen Subjekten – und zwar ausschließlich modernen, und einzig innerhalb von modernen Institutionen – erlaubt, sich zugleich als Absender und Empfänger der moralischen Normen zu begreifen. Dem Philosophen fällt es zu, eine Legitimität zu rekonstruieren und dem System normativer Praktiken zurückzugeben, indem er sie auf ihre Ursprünge zurückführt und ihre volle Verwirklichung anstrebt, die nach wie vor durch Hindernisse und Widersprüche verbaut ist.

„Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt“: Mit dieser Formel schließt Honneth die Bilanz der Frankfurter Schule [24] und setzt zugleich die Aufgabe der kritischen Theorie der Idee der „Rekonstruktion“ gleich: Die Normen, die die Wertungen unserer Lebensformen begründen, werden uns bereits durch die Sitten geliefert, nach denen wir leben. Das Risiko des Teleologismus, im idealistischen Modell immer noch beträchtlich, wird erheblich durch das reduziert, was Honneth den nietzscheschen und foucaultschen „genealogischen Vorbehalt“ nennt. Die Gesellschaftskritik muss immer zweierlei bedenken: zum ersten, dass es zwischen einem Ideal und seiner Verwirklichung stets einen Hiatus gibt, die Möglichkeit einer Abtrift oder einer Verzerrung; und zum zweiten, dass selbst die am edelsten erscheinenden Werte zugleich als Instrument der Beherrschung und der Ausbeutung dienen können. Der Vorbehalt ist eine Art in das Projekt der Aufklärung introjiziertes Vorsichtsprinzip, das – entgegen dem Gebrauch, den Nietzsche von der Genealogie macht – die normative Kompetenz der Vernunft nicht delegitimiert: Die Kritik reduziert sich weder auf eine dekonstruktive Operation noch auf eine Entmystifizierung der von den Machtverhältnissen umkleideten Normen, und zwar aus dem Grund, dass ihre Fähigkeit, zu idealen Zielen zu tendieren, formal erhalten bleibt. Zugleich scheint Honneth aber den emanzipatorischen Impetus abzuschwächen, da er die Unmöglichkeit zugesteht, das radikal Neue hervorzubringen, und dies für das Denken ebenso wie für die Praxis. Nur die bestehende Realität kann der Kritik, als Rekonstruktion der Vergangenheit und „Rückkehr zu sich“ konzipiert, Kriterien liefern, um eben diese Realität zu beurteilen. Diese Ideale können, ganz ohne Zweifel, berichtigt, an ihrer Quelle neu belebt, reaktualisiert werden. Es bleibt jedoch für das Prinzip der Kritik stets das Risiko eines Gefangenseins in einem erstickenden Kreisprozess. In der Tat bleiben zwei Eindrücke zurück. Zunächst jener einer nach wie vor sehr präsenten Herrschaft des unverbrüchlichen Gesetzes der Realität (wenn auch in seiner linkshegelianischen Version konzipiert, d. h. als vernünftiger, positiver und vor allem dialektisch offener Prozess). Danach jener, dass man im Gefolge der transzendentalen Prätention der prophetischen und der konstruktiven Kritik jenen utopischen Elan verlöschen sieht, der, als Reaktion auf eine unerträgliche Realität, die „dialektische Vorstellungskraft“ der frühen kritischen Theorie inspiriert hatte.

3 Das Paradies, das sind die anderen: Von der Anerkennung zur sozialen Freiheit

Die von der Philosophie der Aufklärung abgeleitete Konzeption der modernen Theodizee, d. h. der „Soziodizee“, auf der der Begriff der sozialen Pathologie beruht, setzt eine Theorie der Säkularisierung voraus; und an dieser Stelle leistete die Moderne eine doppelte Innovation. Sie besteht zunächst daraus, die Frage nach Leiden und Glück anzugehen, indem man „der Gesellschaft“ eine Reihe von Kompetenzen zuschreibt, die einstmals, für die christliche Theologie, noch göttliches Vorrecht gewesen waren. Sie drückt sich im Weiteren besonders in dem Projekt aus, die Hypothek des Heils, Vermächtnis der christlichen Religion, zu übernehmen [25]. Wenn man diesen Prozess der Sakralisierung oder Vergöttlichung des Sozialen – der den Weg der religiösen Entfremdung Feuerbachs rückwärts beschreitet und dabei Tuchfühlung mit dem Denken zahlreicher moderner Autoren wie Hegel oder Durkheim hält – berücksichtigt, ist es nicht schwer zu verstehen, warum die Frage der Anerkennung zum Schlussstein des Gewölbes nicht nur von Honneths Philosophie, sondern auch von vielen modernen Gesellschaftstheorien geworden ist. Eines der Hauptvorrechte des christlichen Gottes ist namentlich jenes des Richtens, diese außerordentliche Macht, den Wert des Daseins der menschlichen Wesen zu sanktionieren und sie zum Heil oder zur Verdammnis zu bestimmen. Dieses theologische Motiv – das die moderne Philosophie zu einem großen Teil von der augustinischen Doktrin der Rechtfertigung und der Selbstliebe geerbt hat – hat ein weltliches Äquivalent in jenen Theorien, die, auf einer Ebene historischer Immanenz, zeigen, dass das Individuum vom gesellschaftlichen Urteil abhängt, und die die „Macht, anzuerkennen“, anders gesagt: die Macht, über die Bedeutung eines menschlichen Wesens zu entscheiden und dem Dasein eines jeden einen Sinn zuzumessen, der Figur des Anderen [26] zuschreiben. Die Verwendung des Großbuchstabens bei vielen Autoren des 20. Jahrhunderts hebt einmal mehr die theologische Grundierung des Problems hervor.

Pierre Bourdieu hat in einem Kapitel der Meditationen sehr zu Recht auf diesem Punkt beharrt; dort zögert er nicht, aus der Frage nach der Anerkennung das gesellschaftliche Äquivalent des theologischen Problems der Rechtfertigung zu machen:

[D]ie Frage nach der Legimität einer Existenz, […] das Recht eines Individuums, sich so, wie es ist, gerechtfertigt zu fühlen. Eine ebenso eschatologische wie soziologische Frage. Niemand kann vor den anderen noch auch und vor allem vor sich selbst wirklich verkünden, dass er „keiner Rechtfertigung bedarf“. Wen aber darum ersuchen, wenn Gott tot ist? Wen, wenn nicht das Urteil der anderen, die Hauptquelle von Ungewißheit und Unsicherheit, aber auch und gerade deswegen die Quelle aller Gewißheit, Sicherheit, Anerkennung? [27]

In ähnlicher Formulierung hat René Girard unterstrichen, dass die Investition in die der Moderne eigentümlichen intersubjektiven Beziehungen dem Grad der Säkularisierung der geschichtlichen Erfahrung direkt proportional ist: „In dem Maße, in dem der Himmel sich entvölkert, fließt das Opfer zur Erde zurück“; und wenn „Gott tot ist, ist es am Menschen seinen Ort einzunehmen“, „Die Negation Gottes zerstört nicht die Transzendenz, aber sie lenkt sie vom Jenseits ins Diesseits um“ [28].

Eines der emblematischsten Zeugnisse dieser umgelenkten Transzendenz, die die soziale Erfahrung der Moderne durchgeistert, findet sich im Werk Rousseaus, des ersten modernen Philosophen, der eine Gesellschaftstheorie zur Gänze auf der Frage der Anerkennung aufgebaut hat, die innerhalb seines Denkens das theoretische Mittel der Soziodizee darstellt: als geschichtliche Ursache des Bösen (die Menschen werden im Moment der ersten Sozialisationserfahrungen korrumpiert, als sie beginnen, den Blick des anderen zu suchen), aber auch Heilmittel vom Bösen (die Suche nach Respekt und Wertschätzung Anderer wird in Émile und im Gesellschaftsvertrag die Funktion haben, den neuen Menschen zu schmieden), ist die Selbstliebe zugleich Vehikel der sozialen Entfremdung und der sozialen Erlösung [29]. Sie schreitet den gesamten Umkreis des menschlichen Daseins ab. Schließlich und vor allem ist die Anerkennung jene Erfahrung, durch die – wie in der eschatologischen Szene, mit der die Bekenntnisse beginnen – das moderne Subjekt das Drama der Rechtfertigung durchlebt, indem es andere anruft wie ein Orakel, das allein durch seinen Spruch die Macht ausübt, über es zu richten und über seinen Wert zu entscheiden:

Mag die Posaune des Jüngsten Gerichts wann immer erschallen, ich werde mit diesem Buch in der Hand mich vor den obersten Richter stellen. Ich werde laut sagen: „Sieh, so handelte ich, so dachte ich, so war ich! […] Ewiges Wesen, versammle um mich die unzählbare Schar meiner Mitmenschen; sie sollen meine Bekenntnisse hören, über meine Nichtswürdigkeit seufzen und über meine Nöte erröten. Jeder von ihnen enthülle seinerseits sein Herz mit der gleichen Aufrichtigkeit zu den Füßen deines Throns, und dann möge auch nur einer dir sagen, wenn er es wagt: Ich war besser als dieser Mensch da!“ [30]

Auf den ersten Blick scheint Honneth diesem Säkularisierungsdiskurs fremd zu sein, der zu weit von seinen soziologischen Anliegen und seinem postmetaphysischen Denkstil entfernt ist. Nichtsdestoweniger gewinnt seine Theorie, liest man sie noch einmal im Schein der Vorstellungen von umgelenkter Transzendenz und Heilshypothek, eine spezielle Bedeutung. Eben weil sie durch ein Ziel völliger Immanenz geleitet ist, hat sie die Neigung, das Gesellschaftliche zu verabsolutieren, es dermaßen zu vergöttlichen, dass man sie unter die schlagende Formel bringen könnte, in der Girard das humanistische Projekt der Moderne kristallisieren lässt: „Die Menschen werden einander Götter sein“ [31]. Honneths Überzeugung, die seine gesamte philosophische Flugbahn lenkt und die sich über die Zeit noch verstärkt zu haben scheint, ist, dass das Paradies der Modernen sich auf Erden findet, in der Welt der Brüderlichkeit und der „schönen Sittlichkeit“. Das gute Leben, physiologische Heilsbedingung, die die kritische Philosophie restaurieren wollte, verströmt sich frei im Schoße der sozialen Beziehungen, in der Einheit und der Solidarität mit dem Anderen, wenn jedes Individuum von der Liebe, der Achtung und der Wertschätzung seinesgleichen profitiert [32].

Um die Tragweite dieser These zu erfassen, muss man vorweg präzisieren, dass Honneth, im Gegensatz zu den Autoren, die das Anerkennungsproblem im Paradigma der Subjektphilosophie behandelt haben, nicht bei der Analyse individueller Motivationen ansetzt, sondern bei der Idee der Beziehung, Grundlage des intersubjektiven Modells von Habermas und Mead: Der Startpunkt ist nicht das sogenannte Bedürfnis nach Anerkennung, das Begehren nach Begehren Kojèves, durch das der Mensch sich dem anderen öffnet und seine Bestätigung und seine Wertschätzung sucht; er ist eher in einem interaktiven Mechanismus lokalisiert, der auf der Reziprozität der Rollen und der Verbindung zwischen Pflichten und Erwartungen beruht [33]. Es sind Fichte – mit der Doktrin des Naturrechts – und Hegel – in den Jenaer Schriften –, denen Honneth die Entdeckung dieses philosophischen Kunstgriffs zuschreibt. Und zwei intersubjektive Erfahrungen illustrieren, in seinen Augen auf exemplarische Weise, sein Funktionieren: das Recht (in der rechtlichen Anerkennung sind die Subjekte zugleich ermutigt, ihre Autonomie zu gebrauchen und sich selbst zu begrenzen, indem sie den Status des freien Individuums gebrauchen, der jedem von ihnen zukommt) und die romantische Liebe (konzipiert als delikate Balance zwischen Autonomie und Abhängigkeit, gegründet auf solidarische Zusammenarbeit im Hinblick auf gemeinsame Ziele) [34]. Das Beispiel der romantischen Liebe zeigt recht deutlich, wie die Theorie Honneths mit dem Alltagsverständnis bricht: Wo das subjektivistische Denken zwei Individuen erblickt, die gehalten sind, einen Teil ihres Daseins zu opfern, um gemeinsam zu leben, sieht die Anerkennungstheorie eine reziproke Beziehung, ein „Wir“ [35], das eine kollektive Person darstellt und in dessen Innerem die involvierten Individuen gerade durch diese wechselseitige Bindung autonomer und freier werden und nicht trotz ihrer. Anders gesagt: Das autonome und freie Subjekt der modernen liberalen Tradition stellt sich nicht so sehr als Anfang der sozialen Beziehungen denn als ihr Produkt heraus – in dieser Umkehrung der logischen und geschichtlichen Ordnung der Analyse der Intersubjektivität ist vermutlich der echteste hegelsche Aspekt von Honneths Methode zu suchen. Dieselbe Umkehrung berührt alle Grundbegriffe seines Denkens – abgesehen von der Anerkennung könnte man Sittlichkeit oder soziale Freiheit nennen, die ihrerseits auf dem Begriff der Selbstbeziehung* beruhen, d. h. auf der praktischen Beziehung zu sich selbst. Als nahezu dunkles, aber nichtsdestoweniger unverzichtbares Prinzip des honnethschen Systems bezeichnet die Selbstbeziehung* die Grundstruktur des Selbst, die es dem Subjekt erlaubt, eine hinreichend robuste Identität zu konstruieren, um sich in Verhältnisse zur Außenwelt zu begeben und auf autonome Weise über die zu verwirklichenden Zwecke zu entscheiden. Für Honneth ist diese Disposition nichts Spontanes, sondern wird im Zuge positiver Sozialisationserfahrungen erworben.

Der Grundsatz, demzufolge die moderne Person, durch eine positive Selbstbeziehung charakterisiert, nicht den Anfang, sondern das Ergebnis der sozialen Beziehungen darstellt, ist in Honneths Theorie stabil geblieben. Nichtsdestoweniger hat dieser Grundsatz, ebenso wie sein Konzept von Kritik, eine Bahn durchlaufen, die von der formalen Anthropologie zur geschichtlichen Sittlichkeit verläuft. Während der Periode von Kampf um Anerkennung wird die Triade Liebe– Recht–soziale Rücksicht als universelle moralische Grammatik dargestellt, verwurzelt in primären sozialen Erfahrungen. Die notwendigen Bedingungen zur vollständigen Herstellung der Selbstbeziehung* sind nämlich das Selbstvertrauen als Fähigkeit, physische und körperliche Bedürfnisse auszudrücken, die das Individuum dank der Erfahrung von Liebe und ihm zuteil werdender Zuwendung im Rahmen befriedigender intimer Beziehungen erworben hat; die Selbstachtung als autonomer und verantwortlicher Akteur, Produkt der rechtlichen Anerkennung; die Wertschätzung seiner selbst, die die Gesellschaft dem Individuum zurückgibt, wenn sie seinen spezifischen Beitrag zum gemeinschaftlichen Leben honoriert. Diese drei Formen der Anerkennung, untereinander verbunden wie Sprossen einer Leiter zunehmender Komplexität, wo folglich jede errungene Fähigkeit die Voraussetzung der darauffolgenden ist, müssen als „Transzendentalien der Freiheit“ begriffen werden. Auf diese drei Formen baut sich allererst die formale Ethik auf, die den Rahmen des erfüllten Daseins setzt: Es kommt dem Subjekt zu, das Bild zu vervollständigen, d. h. seine Vision des Guten frei aufzubauen. Anschließend organisiert sich im Angesicht dieser drei Formen der Kampf um Anerkennung von Individuen und Gruppen, die dafür fechten, dass Institutionen und kollektives Ethos ihnen die symbolischen, rechtlichen und materiellen Bedingungen ihrer Freiheit garantieren.

In Das Recht der Freiheit wird die Anerkennung von der sozialen Freiheit abgelöst, die, mit dem Begriff der Sittlichkeit verbunden, auf der institutionellen und konkreten Dimension besteht: Die Autonomie verliert jeden Sinn, wenn sie nicht objektiv ist, anders gesagt, wenn sie ihre Ermöglichungsbedingungen nicht in der Wirklichkeit findet. Die Zwecke, die ich mir als autonomes Subjekt setze, sind erst ab dem Moment wirklich frei, da sie durch die Wirklichkeit selbst ermutigt werden, anders gesagt, ab dem Moment, in dem sie in den ethischen Sphären der demokratischen Gesellschaft eine Brutstätte vorfinden, die für ihre Entfaltung geeignet ist: die intimen Beziehungen (Freundschaft, romantische Liebe, Familie), der Markt (für den Honneth eine originelle Neubewertung vorschlägt) und die Öffentlichkeit. Um die Missverständnisse zu vermeiden, die diese Apologie der modernen Freiheit bei den Anhängern einer traditionelleren Konzeption der kritischen Theorie auslösen könnte, erinnert Honneth daran, dass dieselbe Definition von Freiheit sich bei den Autoren des französischen „Frühsozialismus“ wie Fourier und Proudhon findet, und dass sie die Schriften des jungen Marx beseelt. Genau dies ist das Thema seines Buchs Die Idee des Sozialismus (2016): Die Angehörigen einer Gesellschaft werden erst ab jenem Moment wirklich frei, da ihr individuelles Handeln sich wechselseitig anerkennt, sodass die Freiheit der einen eine Voraussetzung für die Freiheit der anderen bildet [36]. Kooperation zwischen Arbeitern, Liebe und Freundschaft sind Beispiele jenes „Wir“ [37], jener Gemeinschaft solidarischer Subjekte, in der die Zwecke der Individuen nicht bloß verflochten, sondern ununterscheidbar sind. Die Idee, derzufolge ein jeder „im Anderen zuhause“ sein können muss, ist ein Bild, das mehrere Male in den Essays der letzten Periode aufscheint, und das in sich bereits den gesamten Geist eines Denkweges birgt, der von der Anerkennung zur sozialen Freiheit führt.

Wie soll man diesen Theorievorschlag bewerten? Ich schätze, dass unter all den Kritiken, die bis heute formuliert wurden, die interessantesten jene sind, die auf das Herz von Honneths Theorie zielen und die Probleme an der Quelle angehen. Ich erinnere nichtsdestoweniger an die wichtigsten äußeren Kritiken und beginne mit der Debatte mit Nancy Fraser [38]. Honneth antwortet auf den marxistischen Einwand, indem er versucht zu zeigen, dass die Fragen der ökonomischen Umverteilung als Korollare zu den Fragen der Anerkennung betrachtet werden können, solange man letztere nicht als einfache identitäre Forderungen konzipiert, sondern als Konflikte, die den moralischen Status von Subjekten innerhalb der gemeinsamen ethischen Ordnung betreffen; die Wahl zwischen einer moralischen und einer materialistischen Auffassung von Gerechtigkeit bleibt stets offen und kann Gegenstand einer Überprüfung in der konkreten Politik werden. In diesem Fall bleibt der Einwand äußerlich, da er sich auf einen Konflikt zwischen Paradigmen bezieht und weniger die Solidität und Kohärenz von Honneths philosophischem Vorschlag in Zweifel zieht denn seine Effizienz als Mittel zur Deutung der sozialen Welt und Werkzeug im Kampf. Dasselbe gilt für jene, die von einem radikalen Standpunkt aus Honneth vorwerfen, das Erbe der Frankfurter Schule verraten zu haben, eine konservative Politikvision zu verteidigen, gar zur Rechtfertigung des Neoliberalismus beizutragen, oder aber eine veraltete Vorstellung von Selbst und Identität aus der Schublade zu holen [39]. Auch hier ist der Konflikt einer zwischen Weltbildern und scheint die Substanz von Honneths philosophischer Argumentation nicht zu berühren. Jedoch scheint es mir, dass die fragliche Substanz nicht wirklich ins Wanken gerät, bevor die Kritik nicht das Herz der Anerkennungstheorie selbst anvisiert. Ich werde abschließend zwei Probleme ansprechen.

Das erste betrifft die Verbindung zwischen Macht und Anerkennung, ein Thema, mit dem sich Honneth in seinem Essay über Anerkennung als Ideologie auseinandersetzt [40]. Mehrere Kritiker haben, von Standpunkten analog zu jenen von Foucault oder Judith Butler [41] aus, angemerkt, dass das Prinzip der Subjektivierung durch Anerkennung leicht den entgegengesetzten Sinn zu dem annehmen kann, den Honneth beschreibt. Im Grunde ist es der Begriff der Selbstbeziehung* selbst, als praktische Disposition gegenüber sich selbst, erworben durch soziale Beziehungen, der von dem schmalen Spalt zeugt, der Subjektivierung und Unterwerfung trennt: Was stellt sicher, dass das Zeugnis eines anderen, statt das Individuum zu befreien, es nicht in einem Zustand einsperrt – indem es zu einer Etikettierung oder einer Klassifizierung von Identität gelangt – und es nicht am Ende dazu zwingt, Aufgaben zu übernehmen, die seinen eigenen Interessen widersprechen, aber jenen der sozialen Ordnung dienlich sind? Da es nach Zuspruch sucht, erweist sich das Subjekt nämlich als zur freiwilligen Knechtschaft disponiert und wird mit wachsender Befriedigung seiner symbolischen Forderungen zunehmend zahm und treu.

Honneth erkennt die Begründetheit dieses Einwandes und versucht darauf mit seiner progressiven Geschichtsauffassung zu antworten, indem er nacheinander die Beispiele dreier typischer Figuren „glücklicher Sklaven“ (die aufopferungsvolle Mutter, Onkel Tom, der gute Soldat) bespricht. Die ideologische Natur dieser Figuren erscheint ihm zufolge erst a posteriori, vom Standpunkt unserer eigenen gegenwärtigen Sittlichkeit aus, die inzwischen die jedem Beispiel eigenen Wertesysteme hinter sich gelassen hat. Auch wenn sie uns mittlerweile archaisch erscheinen, können die alten Anerkennungsformen positive Effekte bei der Hervorbringung des Selbstbewusstseins und der Autonomie der betroffenen Subjekte gehabt haben. Und es ist in der Tat möglich, dass diese Formen die spätere Emanzipation dieser Subjekte positiv bedingt haben. Aber diese Antwort ist in ihrem Relativismus und für die Augen der Geschichtsphilosophie zu angreifbar, und sie antwortet nicht klar auf die Frage danach, warum sich zu einem bestimmten Moment dieser Geschichte bestimmte Sklaven gegen ihre Unterwerfung erhoben haben; namentlich, indem sie ein neues, unabhängiges Selbstverständnis einforderten, und indem sie all jene als Komplizen der Macht verdammten, die noch Opfer der alten symbolischen Kategorisierungen waren.

Man kann sich nur schwer vorstellen, dass die Selbstbestätigung der Feministinnen das Produkt von Anerkennung für aufopferungsvolle Mütter war. Es muss zu einem bestimmten Moment einen harten Bruch gegeben haben; eine Dezentrierung muss die eingeübten Werte in Stücke gesprengt und die irreduziblen Spannungen zwischen verschiedenen ethischen Systemen zum Hervortreten gebracht haben. Anerkennung als eine progressive Integration innerhalb je schon gegebener und vor allem homogener sittlicher Verhältnisse zu denken – was insgesamt darauf hinausläuft, Anerkennung als Integration in das zu denken, was die Psychologie eine funktionierende Familie nennt, oder gar als Anpassung an die Realität –, führt Honneth dazu, den ethischen Pluralismus abzustreiten und das subversive Potenzial des Kampfs um Anerkennung zu ersticken. Wie bereits zur zirkulären Verfasstheit der internen Kritik gesagt, lässt Honneths Theorie hinsichtlich zweier Punkte eine gewisse Schwäche erkennen. Es gelingt ihr nicht nur nicht, auf überzeugende Weise die Schaffung neuer Werte zu erklären, sondern sie hat darüber hinaus noch die Tendenz, die irreduzible Gewalt moralischer Konflikte durch das irenische Ideal schöner hegelscher Sittlichkeit abzudämpfen.

Ähnliche Zweifel können bei der Lektüre des wichtigen Essays über die Unsichtbarkeit aufkommen [42]. Dieser schlägt eine Analyse der erkenntnistheoretischen und moralischen Bedingungen der Anerkennung vor und untersucht jenen Teil davon, der auf die menschliche Ausdruckskraft zurückgeht. Auch hier umgeht Honneths Gedankengang absichtlich das Problem der Macht, indem er sich allen Fragen entzieht, die sich für ihn nicht nur aus der foucaultschen Überwachungstheorie, sondern auch aus einer dialektischeren Auffassung der Anthropologie der Sichtbarkeit ergeben könnten. Letztere ist, wie es Hans Blumenberg und vor ihm Helmuth Plessner – Autor, der Honneth dazu inspiriert hat, das Konzept der „expressiven Geste“ zu prägen – gezeigt haben, auch und vor allem eine Bedingung des Ausgesetztseins und der Verletzlichkeit. [43] In der Tat verwirklicht sich die Moral der Anerkennung durch die Einforderung und die Erringung einer öffentlichen Sichtbarkeit, die vom Blick des anderen abhängt, dem man die performative Fähigkeit zuschreibt, die soziale Existenz des Subjekts „in Wert zu setzen“. Aber indem man dem Blick des Anderen die Macht gibt, die soziale Existenz des Subjekts in Wert zu setzen, überlässt man ihm auch den Zugriff auf die Möglichkeit, diese soziale Existenz zu kontrollieren. Die Moral der Anerkennung schützt das Subjekt nicht vor einer Unterwerfung unter die Macht des Blicks des Anderen, die sich durch verschiedene Formen deklinieren lässt: zuallererst als Macht, physisch anzugreifen und zu terrorisieren (was zugleich die physische Sicherheit vernichtet, die nach Honneth aus der gelungenen Intimität entspringt); zudem als Macht, zu identifizieren, zu überwachen, zu klassifizieren und auszuschließen (das Gegenteil der rechtlichen Anerkennung und der sozialen Rücksichtnahme); und schlussendlich als Macht, das Subjekt durch ein Urteil, das seine Freiheit „einfriert“, zu verdinglichen. Es ist in dieser Hinsicht bemerkenswert, dass Honneth in seinem Essay Verdinglichung (2015) für dasselbe Konzept – die Verdinglichung des Menschen vollzieht sich, wenn ihm die durch den Blick des Anderen übertragene Empathie verweigert wird – eine Definition vorschlägt, die jener Sartres diametral entgegengesetzt ist, da dieser gerade im Blick des Anderen den Grund der Verdinglichung des Subjekts sieht [44]. So ergeben sich zwei entgegengesetzte Vorstellungen von Anerkennung und Freiheit. Der Möglichkeit einer sozialen Freiheit oder Freiheit in den Anderen steht die Möglichkeit einer Freiheit vorbehaltlich der anderen entgegen: die Freiheit, nicht gemäß jemand anderem zu sein, oder Authentizität [45].

Wir stoßen hier auf das, was mir ein wesentliches Problem von Honneths Theorie zu sein scheint, nämlich das Fehlen einer ambivalenten Auffassung von Intersubjektivität. Honneth übergeht, indem er sich entscheidet, sich völlig auf die normative Natur der sozialen Beziehungen zu konzentrieren – ein Ansatz, der in seinen Augen die Berufung der deutschen Schule charakterisiert –, fast zur Gänze die „dunkle Seite“ der Anerkennung. Als bevorzugter Gegenstand der französischen Tradition, von Pascal bis Sartre, von Girard bis Bourdieu, von Althusser bis Lacan, stellt die finstere Dimension der Beziehungen zum Anderen das charakteristischste und das tragischste Thema des Zweiten Diskurses Rousseaus dar. Honneth folgt, wenn er das Elend des Sozialen anklagt, dem rousseauistischen Beispiel nur zur Hälfte. Der pathologische Faktor ist nämlich weniger in den intersubjektiven Beziehungen als solchen denn in den historischen Vorbedingungen situiert, die die Entfaltung positiver Anerkennungsbeziehungen behindern (bei Rousseau sind hingegen die zwei Faktoren der anthropologischen und der historischen Erklärung kopräsent und in ständiger Spannung) [46]. In Honneths Augen ist es das Eindringen des Kapitalismus in die Lebenswelt und nicht die inhärenten Spannungen zwischen mir und dem Anderen, die Phänomene wie Rivalität, Ungleichheit, Gewalt und Leistungsdruck erzeugen [47]. Die honnethsche Anerkennungsvorstellung gesteht nur die moralische und sozialisatorische Dimension der Interaktion zu, die, dem kantischen Leitmotiv entsprechend, das in seinen Schriften wiederholt auftaucht, zur Achtung des Anderen durch „Absetzung“ des individuellen Egoismus führt. Rousseau hingegen hat, mit einem Realismus à la Hobbes, gezeigt, dass die sozialisierende Kraft der Eigenliebe auch eine unkontrollierbare mimetische und zerstörerische Tendenz einschließt, und dass die Leidenschaften, die die Menschen dazu bringen, einander zu brauchen, auch jene sind, die die Macht haben, das Leben in eine Hölle aus Wettbewerb, Konformismus und Inauthentizität zu verwandeln. Honneth, für den sich das intellektuelle Erbe Rousseaus dennoch unter der Ambivalenz der Anerkennung subsumieren lässt [48], möchte sein Vermächtnis nicht vollständig annehmen. Und seine Idee des Sozialen bleibt von einem zu schwachen Begriff der Negativität gekennzeichnet. [49]

Aus dem Französischen von Matthias Warkus

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Published Online: 2022-12-21
Published in Print: 2022-12-16

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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