Einleitung

Eine schwangere Frau, wohnhaft in Frankreich in der Nähe der deutschen Grenze, sucht mit 23 + 2 Schwangerschaftswochen (SSW) wegen leichten Blutungen und des Verdachts auf einsetzende Wehen die gynäkologische Notfallaufnahme eines Krankenhauses in Süddeutschland auf. Die Wehentätigkeit und ein verkürzter Muttermund werden durch das gynäkologische Team bestätigt. Auch wenn das primäre Behandlungsziel der Erhalt der Schwangerschaft ist, werden die Kolleg*innen der Kinderklinik aufgrund der drohenden Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit hinzugezogen und darum gebeten, die Eltern über die möglichen Folgen und Therapieoptionen aufzuklären. Die Eltern werden darüber informiert, dass für den Fall, dass die Schwangerschaft bis zur 24 + 0 SSW aufrechterhalten werden kann, eine intensivmedizinische und auf das Überleben des Frühgeborenen gerichtete Therapie indiziert sei. Sollte das Kind früher auf die Welt kommen, müsse zwischen einer palliativen Behandlung oder einer auf das Überleben gerichteten intensivmedizinischen Behandlung entschieden und beide Behandlungsoptionen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Die Eltern, die in Frankreich leben und aktuell bei ihrer Familie in Süddeutschland zu Besuch sind, reagieren sehr verunsichert auf diese Informationen. Die Schwangere war eine Woche zuvor bereits in Frankreich kurzeitig stationär aufgenommen worden aufgrund vorzeitiger Wehen, welche spontan sistierten. Während dieses Krankenhausaufenthaltes wurde das Paar von dem dortigen Behandlungsteam darüber aufgeklärt, dass eine lebenserhaltende Versorgung ihres Kindes regulär erst ab einer Geburt in 26 + 0 SSW stattfinden würde und vor 24 + 0 SSW für diese Patientengruppe eine rein palliative Versorgung vorgesehen sei. Bei einer Geburt mit 25 SSW seien beide Therapieoptionen sorgfältig gegeneinander abzuwägen und insbesondere vom Zustand des Frühgeborenen direkt nach der Geburt abhängig zu machen. Die Eltern verstehen nicht, wie sie solch fundamental unterschiedliche Aufklärungen erhalten können. Das neonatologische Team informiert sie darüber, dass sich die medizinischen Leitlinien in beiden Ländern stark voneinander unterscheiden: In Frankreich ist in den Leitlinien für Frühgeborene vor 24 + 0 SSW eine palliative Versorgung und erst ab 26 + 0 SSW regelhaft eine intensivmedizinische Versorgung vorgesehen, in Deutschland wird hingegen bereits ab 24 + 0 SSW und einem Gewicht ≥ 400 g eine intensivmedizinische und damit kurative Versorgung als medizinisch indiziert angegeben.Footnote 1

Wie dieses verallgemeinerte Fallbeispiel zeigt, stellen Aufklärung und Behandlungsentscheidungen bei Frühgeburten an der Grenze der Lebensfähigkeit für alle Beteiligten eine große Herausforderung dar. Die medizinischen und ethischen Unsicherheiten in der Betreuung von extremen FrühgeburtenFootnote 2 führen dazu, dass sich die Vorgehensweisen im internationalen Vergleich zum Teil stark unterscheiden.Footnote 3 Die unterschiedlichen Vorgehensweisen und damit einhergehenden klinischen Erfahrungen in der Behandlung von extremen Frühgeburten tragen in Form einer selbsterfüllenden Prophezeiung dazu bei, dass auch die medizinischen Outcomes (Mortalitäts- und Morbiditätsraten) bei extremen Frühgeburten je nach Land und Zentrum stark differieren (Cummings et al. 2015; Kidszun 2022). Für Eltern kann es eine große Belastung darstellen, wenn sie im Nachhinein erfahren, dass ihr Kind bei einer um wenige Tage verschobenen Geburt eine maximale auf das Überleben gerichtete Therapie erhalten hätte, anstatt einer palliativen Versorgung (Hendriks und Abraham 2017). Das gleiche dürfte auf Paare zutreffen, die nachträglich erfahren, dass ein weiter entferntes Perinatalzentrum eine andere Herangehensweise hinsichtlich der Entscheidungsfindung bei extremen Frühgeburten etabliert hat. Mit Verweis auf die Wirkmächtigkeit des zwölften Glockenschlages im gleichnamigen Märchen wird dieser Einfluss des Gestationsalters (GA) und der medizinischen Leitlinien auf die klinische Entscheidungsfindung bisweilen auch als „Cinderella effect“ (Wilkinson et al. 2018) kritisiert.

Die Überlebensrate von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit steigt mit dem GA an, ohne dass eine feste Grenze gezogen werden kann, ab der sich die Prognose so stark verschlechtert, dass eine lebenserhaltende Therapie eindeutig als nicht mehr indiziert und ethisch vertretbar anzusehen ist (Wilkinson et al. 2018). Die Grenze der Lebensfähigkeit hängt zudem stark von den verfügbaren technischen Möglichkeiten, den Erfahrungen des Behandlungsteams sowie dem Stand der medizinischen Wissenschaft ab. Im internationalen Diskurs hat sich das Konzept einer prognostischen Grauzone („grey/gray zone“) etabliert, das dabei helfen soll, Entscheidungen im Rahmen von Frühgeburten an der Grenze der Lebensfähigkeit entsprechend zu rahmen (Wilkinson et al. 2018; Harrison 2008).

Die prognostische Grauzone bei Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit

Mehrere Gründe dürften zur Etablierung des Konzepts einer Grauzone beigetragen haben. Zum einen hat Anfang der 1990er-Jahre die Einführung der Surfactant-Therapie in die Neonatologie die Prognose der Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit stark verbessert. Die verfügbaren klinischen Erfahrungen und Daten ließen sich in der Folge nicht mehr ohne weiteres auf die Prognose der extremen Frühgeburten nach der Einführung der Surfactant-Therapie übertragen. Zudem hat die Ausweitung der Behandlungsmöglichkeiten in zuvor nicht gekannter Dringlichkeit die ethische Frage aufgeworfen, welche Langzeitfolgen für Frühgeborene prinzipiell in Kauf genommen werden dürfen. Durch die Surfactantgabe konnten scheinbar immer jüngere Frühgeborene „gerettet“ werden, allerdings mit unklaren langfristigen Folgen für die Kinder in Form von Entwicklungsstörungen, Behinderungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen (Herting 2010). Zugleich wurde von den Eltern ein stärkeres Mitspracherecht bei Therapieentscheidungen an der Grenze der Lebensfähigkeit eingefordert (Harrison 1993, 2008). Diese Entwicklungen haben in den 1990er und 2000er Jahren auf internationaler Ebene sukzessive zu der Etablierung einer Grauzone geführt, die insgesamt als ein Grenzbereich verstanden wird, in dem aus medizinischer Sicht die Nutzen-Risiko-Abwägung aufgrund der unsicheren Kurz- und Langzeitprognose ausgesprochen komplex ist und sich aus ethischer Sicht sowohl eine kurative als auch eine palliative Versorgung der Patient*innen prinzipiell rechtfertigen lassen. In der Grauzone ist einerseits die für Frühgeborene stark belastende Intensivtherapie durch eine hohe Mortalitätsrate und Wahrscheinlichkeit von neurokognitiven Beeinträchtigungen gekennzeichnet. Andererseits ist davon auszugehen, dass bei Einleitung einer palliativen Versorgung mehreren Frühgeborenen die Chance auf eine langfristig gute Lebensqualität und weitgehend normale Entwicklung verwehrt wird.

Innerhalb der Grauzone sehen sich das Behandlungsteam und die Eltern sowohl mit medizinischen Unsicherheiten hinsichtlich der Prognose als auch mit ethischen Unsicherheiten hinsichtlich des Umgangs mit diesen prognostischen Unklarheiten konfrontiert. Obwohl das Konzept einer prognostischen Grauzone in vielen Ländern Eingang in die medizinischen Leitlinien gefunden hat, wird die Grauzone jeweils unterschiedlich festgesetzt. Die prognostische Grauzone definiert nach unten hin eine (vornehmlich am GA orientierte) Grenze, bis zu der (in der Regel) intensivmedizinische, auf das Überleben gerichtete Maßnahmen aufgrund der damit einhergehenden hohen Mortalitäts- und Komplikationsraten als medizinisch nicht indiziert anzusehen sind und regelhaft eine palliative Versorgung eingeleitet werden sollte. Die obere Grenze der Grauzone definiert hingegen das GA, bei dem in der Regel eine kurative Versorgung als indiziert anzusehen ist (Syltern et al. 2022). Innerhalb der Grauzone ließen sich prinzipiell unterschiedliche Vorgehensweisen im Umgang mit der unsicheren Prognose ethisch rechtfertigen. Im internationalen Diskurs lässt sich eine klare Favorisierung einer individualisierten Entscheidungsfindung identifizieren: Aufgrund der mit der intensivmedizinischen Behandlung einhergehenden Belastungen, hohen Mortalitätsrate sowie möglichen lebenslangen gesundheitlichen und neurokognitiven Einschränkungen der Kinder sollte jeweils eine individualisierte Entscheidungsfindung mit den Eltern angestrebt werden. Gemäß dieser Vorgehensweise sind innerhalb der Grauzone sowohl die palliative als auch kurative Therapie als vertretbare Therapieoptionen anzusehen und den Präferenzen der Eltern ein besonderer Stellenwert im Prozess der Entscheidungsfindung einzuräumen.

Allerdings findet sich auch hier kein internationaler Konsens dazu, wie genau die gemeinsame und individualisierte Entscheidungsfindung strukturiert und ethisch gerahmt werden sollte. Häufig wird in diesem Kontext der Begriff des „shared-decision making“ (SDM) genutzt (so auch in der deutschen Leitlinie, vgl. Bührer et al. 2020), bzw. SDM als das geeignetste Modell der klinischen Entscheidungsfindung in der Grauzone herausgestellt (Ding et al. 2023). In den meisten Fällen wird allerdings nicht explizit definiert, was genau unter SDM zu verstehen ist, wie diese zu strukturieren ist und sich insofern von einem regulären Prozess der informierten Einwilligung unterscheidet. Eine weitere Herausforderung ist, dass SDM sich in diesem Fall auf eine Gruppe von Patient*innen bezieht, die nicht selbst am Entscheidungsprozess teilnehmen und bisher auch keine eigenen Präferenzen ausbilden konnten. Aus diesem Grund wird zumeist darauf verwiesen, dass sich die gemeinsame Entscheidungsfindung an dem besten Interesse („best interest“) des Neugeborenen orientieren solle (Moriette et al. 2010b; Schouten et al. 2022). Die Orientierung am besten bzw. objektiven Interesse von Patient*innen findet in der Medizin vornehmlich dort Anwendung, wo (ähnlich wie in der Neonatologie) eine stellvertretende Entscheidung getroffen werden muss und keine hinreichenden Informationen zum geäußerten, schriftlich dokumentierten oder mutmaßlichen Willen der Patient*innen zur Verfügung steht, so dass die Behandlungsentscheidungen letztendlich auf der Grundlage der prognostischen Faktoren und einer Abwägung der Risiken und des Nutzens der verfügbaren Therapieoptionen getroffen werden muss. Letzteres stellt in der prognostischen Grauzone nun aber gerade eine besondere Herausforderung dar, so dass die geforderte Orientierung an dem besten Interesse des Neugeborenen häufig genauso unterbestimmt bleibt wie das Konzept des SDM. Im Folgenden wird auf beide Fragestellungen näher eingegangen. Es soll unter Einbeziehung empirischer Daten und in der Literatur diskutierter Modelle des SDM in der prognostischen Grauzone dargelegt werden, welche ethischen Gründe für die Implementierung von Modellen des SDM sprechen und welche grundlegenden ethischen Anforderungen an deren Strukturierung und inhaltliche Ausgestaltung zu stellen sind. Zudem wird auf die Bestimmung des besten Interesses des Kindes eingegangen, insbesondere die Frage, ob die Einbeziehung der zu erwartenden Lebensqualität der Kinder die oben angeführte Leerstelle der unsicheren Mortalitäts- und Morbiditätsraten teilweise auszufüllen vermag.

Shared decision making als Modell klinischer Entscheidungsfindung in der prognostischen Grauzone: konzeptuelle Modelle und empirische Ergebnisse

Dass SDM als Konzept nicht immer klar definiert wird, ist keine Feststellung, die sich auf den Bereich der Neonatologie beschränkt. Insgesamt lassen sich in der Literatur unterschiedliche Konzeptualisierungen des SDM identifizieren (Makoul und Clayman 2006; Moumjid et al. 2007). Im Allgemeinen wird ein besonderer Fokus auf die ausführliche Darlegung der verfügbaren Handlungsoptionen und die Eruierung der Präferenzen der Patient*innen gelegt. SDM wird generell als Mittelweg gesehen zwischen dem Modell einer paternalistischen Einstellung seitens des Behandlungsteams und dem Modell einer informierten Entscheidung, bei der Patient*innen aufgeklärt und die Entscheidung und Feststellung der eigenen Präferenzen weitestgehend ihnen überlassen wird (Charles et al. 1999; Makoul und Clayman 2006).Footnote 4 Im Zentrum von SDM steht das Ideal der Kommunikation im Sinne eines beidseitigen Informationsaustauschs, im Gegensatz zu einer einseitigen Kommunikation, bei der vornehmlich Informationen von Seiten des Behandlungsteams an die Patient*innen gegeben (Charles et al. 1999; Makoul und Clayman 2006; Stiggelbout et al. 2015) und diese sodann zu einer Entscheidung bzw. Einwilligung in die vorgeschlagene Vorgehensweise aufgefordert werden. Hiermit verbunden ist die Überzeugung, dass das Behandlungsteam das notwendige Fachwissen in den Prozess der Entscheidungsfindung einbringt, die Patient*innen hingegen die an ihrer individuellen Lebenssituation orientierten Präferenzen und Wertvorstellungen, die allererst eine evaluative Einordnung der verfügbaren Handlungsoptionen ermöglichen. Diese evaluative Einordnung ist insbesondere dann notwendig, wenn es mehrere als medizinisch gleichwertig anzusehende Behandlungsoptionen gibt („equipoise“, Stiggelbout et al. 2015) – eine Voraussetzung, die insbesondere auf die Frühgeburten im Bereich der prognostischen Grauzone zutrifft. Die folgenden Überlegungen beziehen sich auf die besondere Situation des SDM im Kontext der drohenden Frühgeburt, in dem sich die gemeinsame Gestaltung des Prozesses der Entscheidungsfindung auf die Einbeziehung der Schwangeren bzw. Eltern richtet.

Dem Behandlungsteam kommt im Rahmen des SDM die zusätzliche Aufgabe zu, die Eltern bzw. Schwangere in der Ausbildung und Anwendung ihrer Präferenzen auf die verfügbaren Behandlungsoptionen zu unterstützen (Charles et al. 1999; Makoul und Clayman 2006; Stiggelbout et al. 2015). Diese Unterstützung ist insbesondere in akuten und existentiellen Situationen wie derjenigen einer extremen Frühgeburt von besonderer Relevanz, da die betroffenen Eltern und Schwangeren zumeist bisher nicht die Möglichkeit hatten, ihre Präfenzen für oder gegen eine palliative bzw. intensivmedizinische Behandlung eigens zu reflektieren und für sich auszuformulieren (Kidszun 2022). Als Teil dieses Aushandlungsprozesses sollte auch die Rolle der Schwangeren bzw. der Eltern in der weiteren Behandlungsentscheidung thematisiert werden (Charles et al. 1999; Stiggelbout et al. 2015). Dies ist bei Behandlungsentscheidungen in der prognostischen Grauzone insofern von Relevanz, da die potenzielle Überforderung oder emotionale Belastung der Eltern bisweilen als kritischer Einwand gegen Ansätze des SDM angeführt werden. Eine Geburt an der Grenze der Lebensfähigkeit kann für die Eltern ein traumatisches Erlebnis darstellen. Sie fühlen sich bisweilen machtlos und in ihrer elterlichen Rolle in Frage gestellt (Al Maghaireh et al. 2016). Die Fähigkeit der Eltern, die Situation adäquat einzuschätzen und zu verstehen, sollte jedoch nicht mit Verweis auf ihre emotionale Belastung pauschal in Frage gestellt werden. De Vos et al. (2015) legten in ihrer empirisch-qualitativen Studie zur Behandlungsentscheidung bei bereits geborenen Kindern auf der pädiatrischen Intensivstation dar, dass zwar alle Eltern während Beratungsgesprächen zur Therapiebegrenzung starke emotionale Reaktionen zeigten. Dies hinderte sie jedoch nicht daran, aktiv am Gespräch teilzunehmen. Die Mehrheit der Eltern vermittelte ein gutes Verständnis der Situation und war in der Lage, eigene Präferenzen und Wertevorstellungen zu formulieren (De Vos et al. 2015). Obwohl es relevante Unterschiede zwischen Situationen der Entscheidungsfindung bei drohender Frühgeburt und den von de Vos et al. (2015) untersuchten Fällen gibt, veranschaulicht diese Studie dennoch, dass die emotionale Belastung nicht per se als Argument gegen SDM sowie die gemeinsame Diskussion und Einbeziehung der Präferenzen der Schwangeren bzw. Eltern gewertet werden kann. Auch kann das Behandlungsteam die emotionale Belastung der Eltern durch eine professionelle Kommunikation auffangen und reduzieren (Kharrat et al. 2018). Diese sollte entsprechend nicht als Einwand gegen Modelle des SDM verstanden werden, sondern vielmehr als Aufforderung an das Behandlungsteam, den Eltern trotz der emotionalen Belastungen eine Beteiligung am Entscheidungsprozess zu ermöglichen – sofern sie dies wünschen und sich dazu in der Lage sehen.Footnote 5 Die Gestaltung des Entscheidungsprozesses sollte sich an den Präferenzen und Wünschen der Schwangeren bzw. Eltern orientieren. Dies beinhaltet auch die Möglichkeit, dass diese die finale Therapieentscheidung dem Behandlungsteam überlassen möchten. Letzteres steht nicht per se im Gegensatz zum Konzept einer SDM. Die Bezeichnung dieser Modelle als SDM bezieht sich vornehmlich auf die gemeinsame Gestaltung des Entscheidungsprozesses, nicht darauf, dass alle Parteien gleichermaßen an der finalen Therapieentscheidung beteiligt sein müssen (Ubel et al. 2018).

Mehrere qualitative Studien legen nahe, dass Eltern bisweilen trotz der emotionalen Belastung in Behandlungsentscheidungen mit einbezogen werden wollen (Kharrat et al. 2018). Die Einbindung in die Entscheidungsfindung wird zum Teil als Handlung elterlicher Verantwortung gesehen und nimmt für diese Eltern einen zentralen Stellenwert ein, um ihre Elternrolle auszuüben (Hendriks und Abraham 2017; French 2017). Im Nachhinein sehen es einige Eltern gerade als belastend an, mit einer Entscheidung leben zu müssen, die durch Außenstehende getroffen wurde (Brinchmann et al. 2002; Orfali 2004). Zwar geben Eltern bisweilen auch an, nicht in der Lage gewesen zu sein, aktiv an der Entscheidungsfindung teilzunehmen oder nach einer solchen Entscheidung Schuldgefühle empfunden zu haben (Botti et al. 2009; Hendriks und Abraham 2017). Bisweilen wollen die Eltern auch an der Entscheidungsfindung beteiligt sein, ohne jedoch selbst entscheiden zu müssen (Brinchmann et al. 2002; Partridge et al. 2005). Diese Einwände und Bedenken gilt es im Prozess des SDM zu berücksichtigen. Hierbei gilt es auch zu bedenken, dass eine gemeinsame Entscheidungsfindung sich zudem auch positiv auf den Trauerprozess auswirken kann (Caeymaex et al. 2013).

Insgesamt legen die empirischen Ergebnisse nahe, dass Eltern unterschiedliche Präferenzen hinsichtlich des Ausmaßes und der Art der Einbindung in die Entscheidungsfindung haben können. Hieraus ergibt sich aus ethischer Sicht die Anforderung an das Behandlungsteam, individuell und gemeinsam mit den Eltern herauszuarbeiten, welche Rolle sie bei der Entscheidungsfindung einnehmen wollen (Brinchmann et al. 2002; Sullivan et al. 2014) – eine Forderung, die sich nun gerade am ehesten im Rahmen eines Modells der partizipativen Entscheidungsfindung (SDM) realisieren lässt. Wie oben betont, zielt die Bezeichnung derartiger Modelle als SDM nicht darauf ab, dass die finale Therapieentscheidung gemeinsam getroffen werden muss, sondern vornehmlich auf die gemeinsame Gestaltung des Entscheidungsprozesses.

Sofern ein explizites Modell des SDM genannt wird, verweisen Empfehlungen oder empirische Studien im Kontext der neonatalen Intensivmedizin zumeist auf die Modelle von Stiggelbout et al. (2015)Footnote 6 und Charles et al. (1999)Footnote 7, während andere Autor*innen mehr oder weniger ausdifferenzierte eigene Modelle der gemeinsamen Entscheidungsfindung formulieren (Caeymaex et al. 2013, Janvier et al. 2014). All diese Modelle differenzieren jeweils 3–6 Elemente der gemeinsamen Entscheidungsfindung, die in der klinischen Praxis jeweils iterativ zu durchlaufen und als dynamisches Kommunikationsmodell zu verstehen sind. Aus diesen Modellen sowie den dargelegten empirischen Ergebnissen lassen sich in Bezug auf die Entscheidungsfindung in der prognostischen Grauzone Empfehlungen für eine Strukturierung des SDM ableiten, die im Folgenden in Form von drei wesentlichen inhaltlichen Elementen des SDM zusammengefasst werden.

  1. 1.

    Den Eltern bzw. der Schwangeren sind hinreichende Informationen zu den Umständen und den im weiteren Behandlungsverlauf zu treffenden Entscheidung(en) zu vermitteln, ebenso wie zu den Behandlungsmöglichkeiten mit ihren jeweiligen Chancen, Risiken, möglichen Outcomes und prognostischen Unsicherheiten, sowie zu der möglichen Rolle, die sie im weiteren Entscheidungsprozess einnehmen können. Die ausführliche Aufklärung ist von zentraler Bedeutung, unabhängig davon, welche Rolle die Eltern letztendlich in der Entscheidungsfindung einnehmen wollen. Eltern von Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit geben bisweilen an, nicht genug über die Situation informiert gewesen zu sein (Wilder 2000). Dieses erste Element des SDM beinhaltet einen Informationsaustausch, der stärker vom Behandlungsteam in Richtung der Eltern bzw. Schwangeren verläuft, wobei auch hier die aktive Einbindung der Letzteren zu ermöglichen ist, in Form der Einladung und Aufforderung, Verständnisschwierigkeiten und offene Fragen zu adressieren. In den folgenden Abschnitten wird die Frage zu klären sein, inwiefern hier auch Informationen zu der zu erwartenden Lebensqualität der Frühgeborenen einzubeziehen sind.

  2. 2.

    Des Weiteren ist im Kontext von Modellen des SDM zu betonen, dass den Eltern bzw. der Schwangeren der kommunikative Raum und die Gelegenheit eröffnet werden soll, ihre Präferenzen und Wertvorstellen, ebenso wie ihre Hoffnungen, Ängste und Wünsche mit dem Behandlungsteam zu teilen – sowohl die Therapieentscheidungen betreffend, als auch bezüglich ihrer eigenen Rolle im weiteren Entscheidungsprozess. Empirische Untersuchungen legen nahe, dass in pränatalen Beratungsgesprächen überwiegend Ärzt*innen reden, wobei die Eltern eher wenig aktiv beteiligt und ihnen nur selten konkrete Fragen gestellt werden (Boss et al. 2012; Lamiani et al. 2009). Die Beteiligung der Eltern an der Entscheidungsfindung wird dadurch vereinfacht, dass sie aktiv dazu aufgefordert werden, ihre Ängste und Sorgen, aber auch Wünsche und Hoffnungen mitzuteilen (Meert et al. 2005; Meyer et al. 2006). Der Informationsaustausch verläuft in diesem Element des SDM stärker von den Eltern bzw. der Schwangeren in Richtung des Behandlungsteams. Den Eltern bzw. der Schwangeren ist die Relevanz dieser Informationen für die gemeinsame Entscheidungsfindung in der prognostischen Grauzone zu verdeutlichen. Das Behandlungsteam ist an dieser Stelle aufgefordert die Eltern bzw. Schwangere bei der Ausbildung und Anwendung ihrer Präferenzen auf die verfügbaren Behandlungsoptionen zu unterstützen und gemeinsam mit ihnen zu thematisieren, welche Rolle sie in dem weiteren Prozess der Entscheidungsfindung einnehmen können und möchten – ein Prozessschritt, der in der Literatur zu SDM häufig als gemeinsame Deliberation bezeichnet wird. Auch wenn die Eltern bzw. Schwangere sich nicht dazu in der Lage sehen, sich selbst in die finale Entscheidungsfindung einzubringen, sind die in diesem Schritt geäußerten Präferenzen und Wünsche vom Behandlungsteam dennoch in die weitere Entscheidungsfindung einzubeziehen.

  3. 3.

    Im Idealfall steht am Ende des Prozesses des SDM eine gemeinsam getragene Behandlungsentscheidung, für welche sodann die notwendigen Schritte und möglichen Unwägbarkeiten im Rahmen einer extremen Frühgeburt (z. B. geringeres Geburtsgewicht als pränatal erwartet, Lebendgeburt trotz gemeinsam beschlossener palliativer Versorgung) zu besprechen sind. Da die Betroffenen häufig mehr als ein Gespräch benötigen und nicht immer direkt eine Entscheidung getroffen werden kann, kann ein Zwischenergebnis des Prozesses des SDM auch darin bestehen, dass erst einmal nur das weitere Vorgehen zur gemeinsamen Entscheidungsfindung verabredet wird.

Zahlreiche Herausforderungen und notwendige Rahmenbedingungen für eine gelungene Umsetzung des SDM im Kontext der Behandlungsentscheidungen in der prognostischen Grauzone werden angeführt, z. B. dass für die (im Idealfall wiederholten) Gespräche hinreichend Zeit und Möglichkeiten vorhanden sein müssen, um sich bereits vor der Geburt über das weitere Vorgehen abzusprechen und die Eltern entsprechend vorbereiten zu können, dass es einer aufeinander abgestimmten interdisziplinären Vorgehensweise aller involvierten Fachdisziplinen (Gynäkologie, Neonatologie, Psychologie) und Gesundheitsberufe (Ärzt*innen, Pflegefachkräfte, Hebammen, Psycholog*innen) bedarf, sowie dass die Gespräche mit den Eltern bzw. der Schwangeren idealerweise immer von den gleichen Personen geführt werden sollten (Lamiani et al. 2009; French 2017; Kavanaugh et al. 2005; De Vos et al. 2015; Kharrat et al. 2018). Die Initiative zu wiederholten Gesprächen sollte vom Behandlungsteam ausgehen, da Eltern gegebenenfalls aus Sorge darüber, den Stationsablauf zu stören, keine weiteren Gespräche fordern (French 2017). Zum Teil wird der Vorschlag geäußert, nach einer Geburt in der prognostischen Grauzone lebenserhaltende Maßnahmen vorläufig einzuleiten, um den Beteiligten genügend Zeit für eine gemeinsame Entscheidungsfindung zu ermöglichen (Syltern et al. 2022).

Die Orientierung des SDM an dem besten Interesse des Frühgeborenen

Eine weitere, in der Literatur häufig geäußerte Forderung ist diejenige, dass sich die gemeinsame Entscheidungsfindung in der prognostischen Grauzone am besten Interesse (best interest) des Frühgeborenen orientieren soll (Syltern et al. 2022; Schouten et al. 2022; Moriette et al. 2010b). Wie oben erläutert, findet die Orientierung am besten oder dem objektiven Interesse der Patient*innen im klinischen Kontext insbesondere dort seine Anwendung, wo eine stellvertretende Entscheidung getroffen werden muss und keine Informationen zum Willen der Letzteren zur Verfügung stehen. Dies entspricht der besonderen Herausforderung des SDM im Kontext einer Frühgeburt, bei der die unmittelbar betroffenen Patient*innen nicht zu den eigenen Präferenzen und Wünschen befragt werden können. Da im Falle der drohenden Frühgeburt die Interessen des Kindes unausweichlich mit denen der Eltern verbunden sind (Bester 2019), wird dies auch als zusätzlicher Grund für die Anwendung des Modells des SDM und die enge Einbindung der Eltern in die Entscheidungsfindung gesehen.

Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob der Forderung nach der Orientierung an dem besten Interesse des Kindes über diese Feststellung hinaus, nämlich dass in der prognostischen Grauzone das beste Interesse des Kindes über die Präferenzen der Eltern zu definieren ist, eine nähere inhaltliche Bestimmung gegeben werden kann. Das Konzept des besten Interesses des Kindes ist als regulative Idee zu verstehen, die eine Orientierung der klinischen Entscheidungsfindung an dem Wohlergehen und den Interessen des Kindes fordert. Hierunter sind sowohl die kurzfristigen als auch langfristigen Interessen des Kindes (u. a. Leidensfreiheit und Wohlempfinden, Möglichkeiten der Befriedigung körperlicher, kognitiver und sozialer Bedürfnisse) zu subsumieren, wobei die Rolle der Eltern bei der Erfüllung dieser Interessen gemeinhin hervorgehoben wird (Bester 2019). Um näher zu bestimmen, welche der verfügbaren medizinischen Behandlungsoptionen am ehesten den kurz- und langfristigen Interessen des Kindes entspricht, werden gemeinhin die mit der Intensivtherapie einhergehenden Belastungen sowie die kurz- und mittelfristigen Mortalitäts- und Morbiditätsraten, aber auch die Frage nach möglichen neurokognitiven Beeinträchtigungen in die Beratung der Schwangeren bzw. Eltern und die gemeinsame Entscheidungsfindung miteinbezogen. Hinsichtlich der hiermit angesprochenen kurz- und mittelfristigen Überlebens- und Komplikationsraten wurde bereits erwähnt, dass diese in der Grauzone nun gerade durch eine sehr große prognostische Unsicherheit gekennzeichnet sind und daher eine eher dürftige Grundlage für die Bestimmung des besten Interesses des Kindes darstellen. Im Folgenden wird daher auf die zu erwartende langfristige Lebensqualität eingegangen und die Frage, inwiefern diese eine erweiterte Grundlage für die Ausrichtung der gemeinsamen Entscheidungsfindung am besten Interesse des Kindes bieten und die Modelle des SDM in der prognostischen Grauzone entsprechend ergänzen kann.

Empirische Studien zur Lebensqualität von ehemaligen Frühgeborenen

In der Neonatologie werden Mortalität und Morbidität zunehmend als unzureichend angesehen, um die Folgen von Behandlungen in der prognostischen Grauzone für das Leben der Patient*innen und ihrer Familien adäquat einschätzen zu können (Saigal und Tyson 2008, S. 59). Die Bewertung der Lebensqualität hat sich seit den 1970er-Jahren in vielen medizinischen Fachbereichen als zusätzliches Erfolgs- und Bewertungskriterium etabliert, an dem sich die medizinische Versorgung und gemeinsame Entscheidungsfindung orientieren sollte. Hierbei lassen sich unterschiedliche Konzeptionen von Lebensqualität differenzieren (Kovács et al. 2016). Eine aus ethisch-philosophischer Sicht relevante Unterscheidung ist diejenige zwischen subjektivistischen und objektivistischen Ansätzen sowie die Differenzierung der Ansätze in allgemeine, gesundheitsbezogene und krankheitsbezogene Lebensqualität (Woopen 2014, S. 142).

Subjektivistische Ansätze stellen die Perspektive und Selbsteinschätzung der Betroffenen in den Mittelpunkt der Definition und Messung von Lebensqualität, da die gleichen Lebensumstände von Personen bisweilen sehr unterschiedlich evaluiert werden. Lebensqualität kann einer inter- und intraindividuellen Variabilität unterliegen. Objektivistische Theorien beziehen sich hingegen explizit nicht auf die subjektive Einschätzung (zum Teil gerade aufgrund ihrer Variabilität), sondern vielmehr auf möglichst objektive Gegebenheiten, die als relevant für das Wohlergehen und damit die Lebensqualität von Menschen anzusehen sind, wie z. B. sozioökonomische Ressourcen, körperliche und geistige Fähigkeiten, sowie gesundheitliche Einschränkungen (Woopen 2014, S. 141 f.). Die Ansätze zur Bestimmung der Lebensqualität lassen sich zudem hinsichtlich der Lebensbereiche differenzieren, die diese umfassen (Woopen 2014, S. 142). Obwohl auch im Rahmen der medizinischen Versorgung aus guten Gründen für die Erhebung einer allgemeinen, alle Lebensbereiche umfassende Lebensqualität plädiert wird, weisen die angewandten Messinstrumente häufig eine Fokussierung auf gesundheitsbezogene und krankheitsspezifische Konzepte von Lebensqualität auf, die die empirische Erhebung stärker einschränken auf gesundheitsbezogene Fragestellungen (physische und mentale Gesundheit) bzw. Ausprägungen und Auswirkungen spezifischer Krankheitssymptome (Woopen 2014, S. 142). Hierbei gilt es zu bedenken, dass empirische Erhebungen von Lebensqualität immer näher an die Erfassung von Morbiditätsraten heranrücken, je objektivistischer und fokussierter auf gesundheits- bzw. krankheitsbezogene Faktoren diese konzipiert sind, was zum Teil der ursprünglichen Intention der Einführung der Lebensqualitätskonzepte in der Gesundheitsversorgung widerspricht, nämlich die Lebensqualität als Ergänzung zu den Mortalitäts- und Morbiditätsraten zu nutzen.

Im Folgenden werden die zur Verfügung stehenden Studien zur Lebensqualität von ehemaligen Frühgeborenen zusammengefasst. Ein systematisches Review oder eine Metaanalyse der empirischen Ergebnisse kann im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht geleistet werden. Stattdessen werden mit Blick auf die hier verfolgte Fragestellung, nämlich inwiefern aus ethischer Sicht Informationen zur erwartbaren langfristigen Lebensqualität als Erweiterung des SDM und Bestimmung des besten Interesses des Kindes in der prognostischen Grauzone herangezogen werden können, die wesentlichen Aspekte zusammengefasst, die einer derartigen Erweiterung entgegenstehen oder diese zukünftig ermöglichen könnten. Zur Ermittlung der aktuellen Studienlage wurde mittels der Schlagwörter „quality of life“, „extremely premature infant“, „premature birth“ eine Literatursuche in PubMed durchgeführt. Die Suche ergab 97 Studien. Die Suchergebnisse wurden anhand der Titel und Abstracts durchgesehen und auf 29 für unsere Fragestellung unmittelbar relevante Studien eingegrenzt. Die Literaturrecherche wurde auf ehemalige Frühgeborene ausgeweitet, da in den Studien häufig nicht nach Gestationsalter, sondern nach Geburtsgewicht differenziert wird.

Die empirischen Studien zur Lebensqualität ehemaliger Frühgeborener lassen sich differenzieren in Erhebungen der Lebensqualität im Vorschulalter (1–4 Jahre), im Schulalter (5–10 Jahre), im Jugendalter (11–19 Jahre), sowie im Erwachsenenalter. Die Lebensqualität im Vorschulalter wird jeweils anhand von Fragebögen ermittelt, die von den Eltern zu beantworten sind. Die Mehrzahl der Items fokussiert den Gesundheits- und Funktionsstatus der Kinder, z. B. in Bezug auf Verdauung, Haut, Lungen, Schlaf, Appetit, Lebhaftigkeit, Verhaltensstörungen, oder motorische Funktionen. Einige Fragebögen bilden zusätzliche Aspekte wie das soziale Verhalten oder die Kommunikation ab. Positiv hervorzuheben sind diejenigen Fragebögen, die darüber hinaus versuchen, auch die emotionale Reaktion des Kindes auf gesundheitliche Einschränkungen zu erheben. Die Eltern können hier jeweils angeben, ob das Kind sich in Bezug auf bestimmte gesundheitliche Einschränkungen „gut“, „nicht so gut“, „relativ schlecht“ oder „schlecht“ gefühlt habe, so dass hier eine durch Dritte („proxies“) vermittelte Annäherung an die subjektiv empfundene, gesundheitsbezogene Lebensqualität der Kinder versucht wird (Theunissen et al. 2001; Chien et al. 2006). Im Allgemeinen legen die Studien nahe, dass ehemalige Frühgeborene im Vorschulalter eine niedrigere Lebensqualität im Vergleich zu Reifgeborenen aufweisen.

In den Studien zur Lebensqualität von ehemaligen Frühgeborenen im Schulalter (5–10 Jahre) werden die Fragebögen teilweise durch die Eltern (Berbis et al. 2012; Vederhus et al. 2010), teilweise aber auch durch die ehemaligen Frühgeborenen selbst beantwortet (Stahlmann et al. 2009; Huhtala et al. 2016). Hierbei kommen unterschiedliche Fragebögen zum Einsatz, die wiederum sehr stark auf den Gesundheitszustand der ehemaligen Frühgeborenen abzielen (u. a. Mobilität, Seh- und Hörvermögen, Sprache, Atmung, Schlaf, Essverhalten, Ausscheidung), zum Teil aber auch andere Lebensbereiche umfassen (z. B. schulische Leistungen, Freizeitaktivitäten, Freunde, Vitalität). Auch diese Studien bescheinigen den ehemaligen Frühgeborenen eine im Vergleich zu reifgeborenen Kindern niedrigere Lebensqualität im Schulalter.

In den Studien zur Lebensqualität von ehemaligen Frühgeborenen im Jugendalter wird hingegen durchgängig die selbstberichtete Lebensqualität untersucht (Bozzetto et al. 2016; Schmidt et al. 2019). Die Fragebögen nutzen sowohl Items aus den Bereichen des gesundheitlichen als auch des sozialen Wohlergehens, gehen also tendenziell über die rein gesundheitsbezogene Lebensqualität hinaus. Die Mehrheit dieser Studien legt nahe, dass im Jugendalter die Lebensqualität der ehemaligen Frühgeborenen vergleichbar mit derjenigen von Reifgeborenen ist (Indredavik et al. 2005; Bozzetto et al. 2016).

Der Großteil der Studien bezieht sich auf das junge Erwachsenenalter. In dieser Altersgruppe sind die Studienergebnisse widersprüchlicher als in den anderen Lebensabschnitten. Während mehrere Studien keinen Unterschied zwischen der Lebensqualität von ehemaligen Frühgeborenen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung feststellen konnten (Verrips et al. 2012; Saigal et al. 2006), zeigten andere Studien eine niedrigere Lebensqualität bei ehemaligen Frühgeborenen im Vergleich zu Reifgeborenen (Båtsvik et al. 2015; Dinesen und Greisen 2001). Eine Studie stellte sogar höhere Lebensqualitäts-Werte für ehemalige Frühgeborenen im Vergleich zu Reifgeborenen fest (Dalziel et al. 2007).

Kritische Einordnung der empirischen Ergebnisse zur Lebensqualität ehemaliger Frühgeborener

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Lebensqualität von ehemaligen Frühgeborenen im Vorschul- sowie im Schulalter im Vergleich zu der von reifgeborenen Kindern reduziert zu sein scheint, im Jugend- und Erwachsenenalter hingegen vergleichbar. Es scheint demnach im Laufe des Lebens zu einer Verbesserung der Lebensqualität zu kommen, wofür unterschiedliche Erklärungen angeführt werden. So könnte es sein, dass die Lebensqualität im Vorschul- und Schulalter nicht wirklich reduziert ist, sondern lediglich anders definiert und erfasst wird als im Jugend- und im Erwachsenenalter. In den ersten Lebensabschnitten wird die Lebensqualität zumeist vermittelt über die Fremdwahrnehmung der Eltern erhoben und ist zudem stärker auf den Gesundheits- und Funktionsstatus der Kinder fokussiert (vgl. objektivistische und gesundheits- bzw. krankheitsbezogene Konzepte der Lebensqualität). In späteren Jahren beruht die Messung der Lebensqualität hingegen auf der Selbsteinschätzung der ehemaligen Frühgeborenen (subjektivistische Konzepte der Lebensqualität) und verschiebt sich stärker in Richtung der Erhebung einer allgemeinen Lebensqualität. In Studien zum allgemeinen Zusammenhang von Gesundheit und Lebensqualität wurde gezeigt, dass Patient*innen trotz schwerer Beeinträchtigungen in ihrem Alltag von einer guten Lebensqualität berichten und ihre Lebensqualität von Außenstehenden (Angehörige und Behandlungsteam) häufig unterschätzt wird (Albrecht und Devlieger 1999, S. 982). Dieses Phänomen wird als Zufriedenheitsparadox bezeichnet. Die scheinbar positive Entwicklung im Lebensverlauf könnte zudem auf dynamische Adaptationsmechanismen zurückzuführen sein, die auch zur Erklärung für das Zufriedenheitsparadox herangezogen werden. Personen mit chronischen Erkrankungen passen ihre persönlichen Wertevorstellungen laufend an ihre Beeinträchtigungen an (Herschbach 2002, S. 146). Es kommt zu einer Präferenzadaptation und einer damit einhergehenden Erhaltung der subjektiven Lebensqualität (Reichardt 2016, S. 112). All diese Gründe sprechen aus ethischer Sicht für die Bevorzugung einer subjektivistischen, nicht auf objektive Funktions- und Gesundheitsparameter beschränkten Definition und Erhebung von Lebensqualität, wenn mittels Lebensqualitätskonzepten tatsächlich eine die Morbiditätsrate ergänzende Perspektive in die gemeinsame Entscheidungsfindung eingebracht werden soll. Auch sollte betont werden, dass zwar mehrere Studien für ehemalige Frühgeborene eine Lebensqualität erhoben haben, die niedriger zu sein scheint als die von Reifgeborenen, dieser Unterschied jedoch oftmals sehr gering ist und die Lebensqualität der Frühgeborenen nicht per se als schlecht eingestuft wird.

Die Studien zur Lebensqualität von ehemaligen Frühgeborenen haben aufgrund methodischer Schwächen allerdings nur eine begrenzte Validität für die Bestimmung des besten Interesses des Kindes in der prognostischen Grauzone. Bei den eingeschlossenen Patientenkohorten handelt es sich häufig nicht um ehemalige Frühgeborene im engeren Sinn, sondern um Kinder mit einem niedrigen und extrem niedrigen Geburtsgewicht, bei denen das Gestationsalter nicht explizit angegeben wird, oder um Neugeborene, die nach Geburt während 24 h auf einer neonatologischen Intensivstation behandelt wurden (Klassen et al. 2004). Teilweise wurden ehemalige Frühgeborene mit schweren Behinderungen aus den Studien ausgeschlossen oder nur ehemalige Frühgeborene befragt, die eine ambulante Nachsorge erhalten oder eine Regelschule besuchen können. Die Validität der Ergebnisse für die gesamte Gruppe an Frühgeborenen ist demnach keineswegs gewährleistet. Die Studienergebnisse dürften zudem durch die zu Beginn angesprochenen unterschiedlichen Vorgehensweisen in den einzelnen Ländern und Zentren bei der Behandlung und Entscheidungsfindung von extremen Frühgeborenen beeinflusst sein, so dass sich die verfügbaren Daten nicht ohne weiteres auf das Kollektiv der Patient*innen im eigenen Land übertragen lässt. So fanden sich unter den 29 Studien beispielsweise nur eine deutsche und eine französische Studie. Zudem wurden die in den Studien eingeschlossenen Proband*innen vor mehreren Jahren geboren, während sich im Bereich der Neonatologie die medizinisch-technologischen Behandlungsoptionen deutlich weiterentwickelt haben. Dies trifft insbesondere auf die Studien im Erwachsenenalter zu, da diese Proband*innen vor der Einführung der Surfactant-Therapie Anfang der 90er-Jahre geboren wurden, welche die respiratorische Morbidität und Prognose der Frühgeborenen fundamental verändert hat.

Des Weiteren liegt den meisten StudienFootnote 8 keine explizite Definition von Lebensqualität zu Grunde – ein Kritikpunkt, der allgemein auf die Untersuchungen zur Lebensqualität im medizinischen Bereich zuzutreffen scheint (Gill und Feinstein 1994). Allgemein zielen die Studien sehr stark auf den Funktions- und Gesundheitsstatus der ehemaligen Frühgeborenen ab. Diese können aber nicht mit der Lebensqualität gleichgesetzt werden, noch korrelieren sie immer mit dieser (vgl. die Ausführungen zum Zufriedenheitsparadox).

Der Blick auf die verfügbaren empirischen Ergebnisse zeigt, dass die zurzeit verfügbaren Studien zur langfristigen Lebensqualität nur begrenzt dazu geeignet sind, die besten Interessen der Frühgeborenen in der prognostischen Grauzone inhaltlich näher zu bestimmen, ähnlich wie dies bereits allgemein für die Mortalitäts- und Morbiditätsraten festgehalten wurde. Um eine individualisierte, am besten Interesse des Kindes orientierte gemeinsame Entscheidungsfindung zu stützen, bedarf es einer soliden empirischen Basis und der Entwicklung von altersspezifischen Messinstrumenten, die soweit möglich die Selbsteinschätzung der Lebensqualität der ehemaligen Frühgeborenen erfassen. Die Fremdbeurteilung sollte ausschließlich in Fällen genutzt werden, in denen die ehemaligen Frühgeborenen nicht in der Lage sind, eigene Aussagen über ihre Lebensqualität zu machen. Basierend auf einer guten empirischen Datenlage, deren Erhebung eine reflektierte und explizit ausformulierte Definition von Lebensqualität zu Grunde liegt, könnten zukünftig unter Berücksichtigung der Wertevorstellungen und Präferenzen der Eltern gegebenenfalls Lebensqualitätsurteile in die gemeinsame Entscheidungsfindung in der prognostischen Grauzone einfließen. Hierfür wäre eine Differenzierung nicht nur nach Geburtsgewicht, sondern auch nach Gestationsalter sowie der vor und unmittelbar nach Geburt eingeleiteten Therapiemaßnahmen wünschenswert.

Eine weitere Hürde für die Einbeziehung von Lebenswerturteilen in die gemeinsame Entscheidungsfindung in der prognostischen Grauzone scheint die mangelnde Vertrautheit des Behandlungsteams mit Konzepten der Lebensqualität zu sein. So gaben in einer Studie zu Ärzt*innen, die mit der Versorgung von extremen Frühgeborenen betraut sind, alle Befragten, die bis zum Ende der zwei Befragungsrunden an der Studie teilgenommen haben, ausnahmslos an, dass sie nicht hinreichend über die Anwendung von Lebensqualitätskonzepten in der medizinischen Versorgung informiert seien (Einaudi et al. 2013). Der Mangel an Kenntnissen auf diesem Gebiet war zudem einer der wesentlichen Gründe, warum einige der Ärzt*innen ihre Teilnahme an der Studie verweigerten (Einaudi et al. 2013). Unsicherheiten des Behandlungsteams im Umgang mit Lebensqualitätskonzepten stellen eine weitere Herausforderung dar, wenn diese nun gerade die Schwangere bzw. Eltern bei der Einbeziehung von Lebenswerturteilen in die gemeinsame Entscheidungsfindung unterstützen sollen.

Fazit

Die Entscheidungsfindung in der prognostischen Grauzone sieht sich mit einer Reihe von medizinischen und ethischen Herausforderungen konfrontiert. Wir haben dahingehend argumentiert, dass diesen Herausforderungen am ehesten im Rahmen eines Modells der gemeinsamen Entscheidungsfindung (SDM) begegnet werden kann, die sowohl die palliative als auch kurative Therapie als ethisch vertretbare Therapieoptionen ansehen und den Präferenzen der Eltern bzw. Schwangeren einen besonderen Stellenwert im Prozess der Entscheidungsfindung einräumen. Wesentliche Gründe hierfür sind zum einen, dass eine evaluative Einordnung mittels der Präferenzen und Wertvorstellungen der Eltern bzw. Schwangeren insbesondere dann notwendig ist, wenn es wie in der prognostischen Grauzone mehrere als medizinisch gleichwertig anzusehende Behandlungsoptionen gibt. Zum anderen haben Eltern bzw. Schwangere unterschiedliche Präferenzen hinsichtlich des Ausmaßes und der Art ihrer Einbindung in die Entscheidungsfindung. Wie oben erläutert, ergibt sich hieraus aus ethischer Sicht die Anforderung an das Behandlungsteam, gemeinsam mit den Eltern herauszuarbeiten, welche Rolle sie bei der Entscheidungsfindung einnehmen wollen – eine Forderung, die sich nun gerade am ehesten im Rahmen eines Modells des SDM realisieren lässt.

Ein weiterer Grund für die Bevorzugung eines Modells des SDM findet sich in der Forderung, dass sich die Entscheidungsfindung im Allgemeinen am besten Interesse des Kindes orientieren sollte. Wie dargelegt, stehen in der prognostischen Grauzone neben der Lebenssituation und den Präferenzen der Eltern bzw. Schwangeren kaum handfeste Kriterien zur inhaltlichen Bestimmung desselben zur Verfügung. Informationen zur prognostischen Grauzone, den verfügbaren Behandlungsmöglichkeiten mit ihren jeweiligen Chancen, Risiken, möglichen Outcomes und prognostischen Unsicherheiten, ebenso wie zur langfristigen Lebensqualität ehemaliger Frühgeborener sind den Eltern bzw. Schwangeren als Teil des SDM in laienverständlicher Form darzulegen. Aufgrund der prognostischen Unsicherheiten in der Grauzone dienen diese Informationen vornehmlich zur Bestimmung derjenigen Behandlungsoption, die am ehesten den Präferenzen und Wertvorstellungen der Schwangeren bzw. Eltern entspricht. Eine Einschränkung des elterlichen Entscheidungsspielraumes in der Grauzone durch das Behandlungsteam wäre mit Verweis auf das beste Interesse des Frühgeborenen nur dann ethisch gerechtfertigt, wenn besondere Umstände vorliegen (z. B. geringeres Geburtsgewicht als erwartet, schlechter klinischer Zustand des Kindes nach Geburt). Validere Daten zur Lebensqualität von ehemaligen Frühgeborenen an der Grenze der Lebensfähigkeit könnten dazu beitragen, den Verweis auf das beste Interesse des Frühgeborenen zukünftig inhaltlich weiter auszufüllen. Diese sollten sich, wie gezeigt, soweit möglich an der subjektiven Lebensqualität orientieren und über den Bereich der gesundheits- und krankheitsbezogenen Aspekte von Lebensqualität hinausgehen.