Sicherlich gehört das Lexem »Geistesgeschichte«, welches die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte in ihrem Titel führt, einer heute etwas anachronistisch anmutenden Semantik an. Die Frage nach der Beziehung von Literaturwissenschaft zu anderen Gebieten der Geisteswissenschaften, die zur »Geistesgeschichte« gehören, hat allerdings von ihrer Aktualität nichts eingebüßt. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, sich mit der Beziehung von Literatur und Philosophie als Feld der Geisteswissenschaften zu befassen. Spezifisch soll hierzu das Verhältnis von Literaturkritik und Ästhetik in den Blick genommen werden, und zwar anhand eines historischen Fallbeispiels, das für die Bedeutung nationaler bzw. kultureller Unterschiede in der Abgrenzung von Literatur und Philosophie aufschlussreich ist: Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung steht die Auseinandersetzung französischer Gelehrter, Schriftstellerinnen und Schriftsteller mit der deutschen philosophischen Wissenschaft der Ästhetik um 1800.

Dass ich mich schon früh und immer wieder mit diesem Forschungsfeld befasst habe,Footnote 1 liegt sicherlich an meiner Ausbildung und Tätigkeit als Literaturwissenschaftlerin und Germanistin, die in Frankreich begonnen hat, im Rahmen eines Bildungssystems, in dem die Beziehung von Philosophie und Literatur bei Weitem nicht so intensiv ist wie in Deutschland, wo ich anschließend einen wichtigen Teil meiner wissenschaftlichen und beruflichen Laufbahn absolviert habe. Inwieweit und warum die Beziehung von Philosophie und Literatur komplex ist, lässt sich an der Geschichte der Rezeption der deutschen Ästhetik in Frankreich an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert gut ablesen.

I.

»Esthétique«: Geschichte einer Neuschöpfung zwischen Deutschland und Frankreich

Nach dem Erscheinen von Alexander Gottlieb Baumgartens Æsthetica (1750) und Georg Friedrich Meiers Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften (1748-1750) wird die sprachliche Neuschöpfung »Ästhetik« in Deutschland relativ schnell aufgenommen.Footnote 2 Zwar stößt diese Wortprägung auf Kritik und Widerstand. Herder, Kant, August Wilhelm Schlegel und Hegel – um nur einige Namen zu erwähnen – nehmen nachdrücklich Abstand zu einem Begriff, der ihnen als irreführend, ungenau bzw. ungeeignet vorkommt.Footnote 3 Trotz all dieser Einwände und Vorbehalte bürgert sich jedoch das Lexem »Ästhetik« als Begriff sowie als Bezeichnung einer wissenschaftlichen Disziplin schnell in dem deutschen Wortschatz ein – ein Assimilationsprozess, der sich an zwei Phänomenen besonders gut beobachten lässt: am Ende des 18. Jahrhunderts werden an zahlreichen deutschen Universitäten Ästhetik-Vorlesungen gehalten und auf dem Büchermarkt erscheint um 1800 eine große Anzahl von Werken unter dem Titel »Ästhetik«. Diese Konjunktur ist dem scharfen Blick Jean Pauls nicht entgangen, der in seiner bezeichnenderweise als Vorschule der Ästhetik betitelten Poetik feststellt: »Von nichts wimmelt unsere Zeit so sehr als von Ästhetikern«.Footnote 4 An der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert ist die Bezeichnung »Ästhetik« in Deutschland schwer zu verdrängen.

In Frankreich verhält es sich ganz anders. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stößt der Begriff »Esthétique«, der als direkte Übersetzung des deutschen Wortes »Ästhetik« importiert wird, auf zähen Widerstand.Footnote 5 Schon ein schneller Überblick über die Wortgeschichte zeugt von dieser Resistenz. Zwar taucht der Terminus bereits 1753 auf, aber dieser erste Beleg (der im Werk eines französischsprachigen Mitglieds der Berliner Akademie der Wissenschaften erscheint) bleibt lange Zeit isoliert und ohne Widerhall.Footnote 6 In der Encyclopédie von Diderot und d’Alembert ist bezeichnenderweise kein Artikel »Esthétique« zu finden. In den Jahren 1775-1776 erscheinen in der Encyclopédie d’Yverdon von Fortunato Bartolomeo de Felice sowie in dem Supplément à l’Encyclopédie von Charles-Joseph Panckoucke zwei unterschiedliche Übersetzungen von Sulzers Artikel »Aesthetik« aus der Allgemeinen Theorie der schönen Künste.Footnote 7 Der Text findet aber so wenig Widerhall, dass Claude-Henri Watelet und Pierre-Charles Lévesque, die Herausgeber der 1788 erschienenen Encyclopédie méthodique es nicht für nötig halten, diesen Eintrag wiederaufzunehmen.Footnote 8 1799 fasst Charles de Villers, einer der wichtigsten Beobachter der deutsch-französischen Verhältnisse, diesen verfehlten Einbürgerungsprozess folgendermaßen zusammen: »Diderot hat den Terminus Esthétique in die Encyclopédie einführen wollen,Footnote 9 ist aber dabei gescheitert [...]. Es liegt auf der Hand, dass wir bis heute noch keine Ästhetik haben und dass das Wort dort nicht aufbewahrt werden konnte, wo die Sache selbst fehlte«.Footnote 10

Erst 1835 wird das Wort zum ersten Mal in der sechsten Ausgabe des Dictionnaire de l’Académie Française aufgenommen.Footnote 11 Den ersten wichtigen Beleg für einen regelrechten Einbürgerungsversuch liefert eigentlich aber erst der zweite Band des Dictionnaire des sciences philosophiques, der 1845 erscheint. Dort ist ein »Esthétique«-Artikel zu finden, der von Charles Bénard, dem ersten Übersetzer von Hegels Ästhetik ins Französische, unterzeichnet ist.Footnote 12 Damit wird dem Wort »Esthétique« in der Sprache der französischen Philosophie sozusagen sein erster Taufschein erstellt. Jedoch stellt Bénard die »Esthétique« keineswegs als eine nach langer Ablehnung endlich anerkannte und gebührlich triumphierende Wissenschaft dar, sondern betont ganz im Gegenteil ihr fortdauerndes Schattendasein innerhalb der philosophischen Wissenschaften in Frankreich.Footnote 13

Diese Zurückhaltung lässt sich auch an der Geschichte der Übersetzungen von Schriften zur Ästhetik herauslesen. Vor dem letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts sind die Hervorbringungen der deutschen ästhetischen Wissenschaft in Frankreich kaum bekannt. Baumgartens Aesthetica, die in einem recht schwierigen Latein geschrieben war, wird in den Jahren 1750–1760 kaum erwähnt. Erst ab den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts erwecken einige Schriften Mendelssohns und Sulzers über die schönen Wissenschaften ein gewisses Interesse: Sie erscheinen im Rahmen des Journal étranger – einer Zeitschrift, die unter anderem von Diderot regelmäßig gelesen wird.Footnote 14 Schon dort rufen jedoch Mendelssohns Briefe über die Empfindungen einige Skepsis hervor: »Durch welche verhängnisvolle Fügung des Schicksals wird hier die Metaphysik so hoch getrieben, so wichtig, ja so notwendig gemacht?«, fragt verzweifelt der Übersetzer im Vorwort zum siebten Brief.Footnote 15 Erst 1846 wird die Kritik der Urteilskraft zum ersten Mal ins Französische übersetzt, d. h. mehr als fünfzig Jahre nach ihrer Erstveröffentlichung in Deutschland. Zwar werden Hegels Vorlesungen über die Ästhetik schon 1840–1851 ins Französische übertragen. Sie fanden aber einen nur geringen Widerhall. Im Jahre 1847 lieferte eine Sammlung von Texten einige Einblicke in Schellings Betrachtungen über die Kunst, aber diese Übersetzung blieb damals ebenfalls ohne größere Einwirkung.Footnote 16

Dieser kurze Einblick in die Wort- und Übersetzungsgeschichte zwischen 1750 und 1850 wäre wohl nutzlos, wenn er nicht ein Unbehagen an den Tag legte, das weit über das bloße Wort hinausgeht. Die mögliche Aufnahme des philosophischen Diskurses, welcher in Deutschland unter dem Namen »Ästhetik« bekannt ist, stellt das französische Publikum vor mehrere grundlegende Probleme, unter denen hier ein besonderes untersucht werden soll: die Frage nach der Anwendung eines philosophischen Begriffsinstrumentariums zur Erfassung literarischer Produktion um 1800. An der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert wird in Frankreich heftig diskutiert, ob die Philosophie als Fach überhaupt einen berechtigten Anspruch auf die Hervorbringung eines spezifischen Diskurses über die Literatur erheben darf.

II.

1800: der Kant’sche Moment

In dieser Diskussion spielt die Frührezeption von Kants Philosophie in Frankreich eine zentrale Rolle. Diese Rezeption setzt erst an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert an und beruht zunächst auf allgemeinen Darstellungen zweiter Hand, die insbesondere Charles de Villers, Johann Kinker sowie den »idéologues« Destutt de Tracy und Degérando zu verdanken sind.Footnote 17 Die Übersetzungen der drei Kritiken erscheinen erst ab den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts.Footnote 18 Zu betonen ist dabei, dass das Interesse sich um 1800 auf die Kritik der reinen Vernunft konzentriert. Die Kritik der Urteilskraft, die am Rande der Diskussionen bleibt, stößt in diesem Zusammenhang auf besonders scharfe Ablehnung. Charles de Villers, der es 1801 fast als einziger gewagt hatte, sich begeistert über die dritte Kritik zu äußern, wird zur bevorzugten Zielscheibe der Décade philosophique, einer einflussreichen Zeitschrift, die die Positionen des »Institut national des sciences et des arts« wiedergibt. Unter den vielen Gründen, die zur Ablehnung des Kant’schen Werkes angeführt werden, sollen hier uns vor allem diejenigen interessieren, die sich als besonders aufschlussreich für die Beziehung von Literatur und Philosophie erweisen.

Wie ein Leitmotiv zieht sich durch die damaligen Diskussionen die Kritik an dem »Stil« der deutschen Schriften zur Ästhetik hindurch – oder zumindest der Texte, die der Gattung der deutschen Ästhetik zugeordnet werden. Die – zugestandenermaßen recht nebeligen – Abschnitte, die Charles de Villers dem Kommentar von Kants Kritik der Urteilskraft 1801 widmet, stoßen aufgrund ihrer fehlenden Klarheit und Annehmlichkeit auf herbe Kritik. So schreibt Amaury Duval 1801 in einer Rezension der Décade philosophique zu Villers’ Philosophie de Kant, nachdem er eine längere Passage daraus zitiert hat:

Es ist möglich, dass der gemeine Leser dieses überwältigende Fragment des Buchs zur Transzendentalphilosophie [von Charles de Villers] nicht recht versteht. Wir empfehlen ihm, es ein erstes Mal zu lesen, dann ein weiteres Mal, so lange, bis er es begriffen hat. Dann wird er imstande sein, unsere Gemäldegalerien und unsere Schulen aufzusuchen und ein Urteil darüber abzugeben, was das wahre Schöne ausmacht. Bedauern wir diesen armen Abbé Du Bos, der drei dicke Bände verfasst hat, um ein System zu lehren, das Kants Keule mit einem Schlag zunichte gemacht hat.Footnote 19

Als Kant-Schüler wird der Kunsttheoretiker Schiller in diesem Zusammenhang nicht geschont. 1804 lässt Charles de Vanderbourg eine Übersetzung von Schillers Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen erscheinen, in der die exzessive Abstraktheit des deutschen Autors heftig angeprangert wird. Um dem französischen Leser eine ermüdende Lektüre zu ersparen, habe sich der Übersetzer erlaubt, Schillers Text durch tiefgreifende Veränderungen zu verbessern, wie etwa durch die systematische Ausmerzung des Wortes »esthétique«, einer Neuprägung, die man auf Französisch gar nicht verstehe und deshalb auch nicht brauche.Footnote 20

Diese Kritik am Stil der deutschen ästhetischen Schriften geht weit über die formale Gestaltung des Textes hinaus: Sie zielt eigentlich auf die disziplinäre Verortung und Bestimmung von Literaturkritik und Kunsttheorie überhaupt. Mit aller Energie wird der Philosophie – oder der »Metaphysik«, um den damaligen Sprachgebrauch wiederaufzunehmen – das Recht abgesprochen, auf den Literatur- und Kunstdiskurs Anspruch zu erheben. So ironisiert Amaury Duval in der schon erwähnten Rezension von Villers’ Darstellung der Philosophie Kants im Jahre 1801:

Die Franzosen werden es kaum glauben, aber Deutschlands Plato [d.h. Kant] hat vor kurzem bewiesen, dass die wenigen Erfolge, die wir bisher in den schönen Künsten erlangt haben, nicht der Vernunft, sondern dem Instinkt zu verdanken sind. […] Wir können es kaum abwarten, die wunderbaren Maximen dieses an den Universitäten jenseits des Rheins so berühmten Doktors mit gebührender Achtung und Anerkennung bei uns aufzunehmen. Erfolgreicher noch als Mercier wird er eines Tages Locke und Condillac vom Thron stürzen.Footnote 21

Um diese hartnäckigen Angriffe gegen die Ästhetik zu rechtfertigen, wird explizit an eine Hierarchie der Kompetenzbereiche appelliert, die innerhalb des literarischen Felds nur dem Schriftsteller bzw. dem Künstler – und nicht dem Philosophen – das Recht auf kritische und theoretische Besprechung der eigenen Kunst anerkennt. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang an das Primat der literarischen bzw. künstlerischen Tätigkeit vor der philosophischen Reflexion erinnert, und dies ganz besonders in den Schriften einiger französischsprachigen Gelehrten, die in Deutschland leben und dort mit besonderer Aufmerksamkeit den Schwung der philosophischen Ästhetik verfolgen können. So behauptet Frédéric Ancillon, ein Mitglied der Berliner Akademie, im Jahre 1809, dass »Forschungen über das Schöne, so gelungen sie auch sein mögen, mit keiner einzigen Schönheit der Kunst an Wert gleichzusetzen sind«.Footnote 22 Carlo Denina, Mitglied der Berliner Akademie und scharfer Beobachter des französischen und des deutschen intellektuellen Felds, war in den Jahren 1790 noch weiter gegangen, indem er in der Prusse littéraire behauptete, dass die Ästhetik den Deutschen »mehr schädlich als nützlich« sei, denn sie »verhindere die Entfaltung der Einbildungskraft«.Footnote 23 In künstlerischen Sachen wird dezidiert in der Décade philosophique die gesetzgebende Gewalt nur den Dichtern und Künstlern zugeschrieben, und nicht den Ästhetikern. »Die gesamte Ästhetik der Welt macht noch kein geniales Kunstwerk und ist ihm an Wert nicht gleich«, schreibt gegen Villers ein anonymer Rezensent im Jahre 1804.Footnote 24 Aufgrund dieser praxisorientierten Verteilung der Befugnisse werden der Ästhetik als philosophischer Wissenschaft der Kunst die traditionelleren kunsttheoretischen Formen vorgezogen, die sich vor allem durch eine induktive Verfahrensweise kennzeichnen: Poetiken, Rhetoriken für den dichterischen Bereich; Betrachtungen von Kunstliebhabern und Künstlern über die Malerei und Skulptur für den plastischen Bereich, wie sie etwa im Rahmen der »conférences« an der Pariser Académie royale de peinture et de sculpture vorgetragen wurden.

Diese Rangordnung drückt sich um 1800 durch die immer wieder heraufbeschworene Gegensätzlichkeit von Kritik und Ästhetik aus. Unter zahlreichen Fällen liefert Frau von Staël hierfür ein durchaus aufschlussreiches Beispiel.Footnote 25 Trotz aller Bewunderung für das historische und dramatische Werk Schillers äußert sie sich in ihrem 1813 erschienenen Werk De l’Allemagne recht kritisch zu seinen ästhetischen Schriften:

In seinem Aufsatz über Anmut und Würde und in seinen Briefen über die Ästhetik, d.h. über die Theorie des Schönen, gibt es zu viel Metaphysik. Wenn man vom Kunstgenuss sprechen möchte, zu welchem alle fähig sind, muss man sich immer auf die Eindrücke stützen, die die Menschen erhalten haben. Man darf sich die Abstraktionen nicht erlauben, die die Spuren dieser Eindrücke verwischen. [...]

Die lebendige Beschreibung von Kunstwerken macht die Kritik viel interessanter als jene allgemeinen Vorstellungen, die über alle Themen schweben, ohne jemals ein besonderes zu charakterisieren. Die Metaphysik ist sozusagen die Wissenschaft des Unveränderlichen; jedoch ist alles, was der Veränderung der Zeit unterworfen ist, nur durch eine Mischung von Fakten und Reflexionen zu erklären. Über jeden Gegenstand möchten die Deutschen zu einer vollständigen, von den Umständen unabhängigen Theorie kommen. Da dies aber unmöglich ist, darf man nicht auf die einzelnen Fakten verzichten [...]. Auf theoretischer sowie auf praktischer Ebene sind es nur die Beispiele, die die allgemeinen Lehrsätze in das Gedächtnis prägen.Footnote 26

Schillers ästhetische Schriften sind Madame de Staël nur »kalte Überreste von lebensvollen Empfindungen«.Footnote 27 Hiermit führt die Verfasserin von De l’Allemagne ihre um 1800 in De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales dargelegten Überlegungen zum Literaturbegriff weiter.Footnote 28 Zwar bleibt sie ihrer »Littérature«-Auffassung aus De la littérature treu, einem breit angelegten Oberbegriff, der in ihren Augen nicht nur die »belles-lettres«, sondern auch die Philosophie einschließt. In De l’Allemagne versucht sie allerdings mit neuer Schärfe, der Philosophie mit Blick auf die »belles-lettres« Grenzen zu setzen, als würde sie ihre kurz zuvor durchgeführte Deutschland-Reise auf die für die Werke der Einbildungskraft tendenziell bedrohlichen Machtansprüche der philosophischen Wissenschaft der Ästhetik aufmerksam gemacht haben.

Der Versuch eines Imports der deutschen Ästhetik nach Frankreich stieß noch lange auf erhebliche Hindernisse. So hielt es Auguste Ott, Autor einer breit angelegten Anleitung zur Lektüre von Hegels Philosophie, 1844 für überflüssig, die Hegel’sche Ästhetik ausführlich darzustellen, denn dieses Werk enthalte viele Passagen, »die dem eigentlichen Bereich der Philosophie nicht angehören und sich nur schwer für die Analyse eignen«.Footnote 29 Erst gegen Ende der 1850er Jahre scheint sich der Widerstand in französischen akademischen Kreisen allmählich zu lösen. Die Académie des sciences morales et politiques schreibt im Jahre 1857 einen Preis zu einer Frage der Ästhetik aus: »Suchen Sie nach den Prinzipien der Wissenschaft des Schönen« (»Rechercher quels sont les principes de la science du beau«). Bezeichnenderweise wird aber bei diesem Wettbewerb kein ausgewiesener Kenner der deutschen Ästhetik ausgewählt, wie etwa der Übersetzer von Hegels Vorlesungen über die Ästhetik Charles Bénard,Footnote 30 sondern ein Lehrbeauftragter des Collège de France, der die deutsche Ästhetik nur indirekt kennt und erwähnt.Footnote 31 Mit Charles Lévêques Science du beau, dessen Titel schon als eine Widerlegung der Kant’schen Grundthese von der Unmöglichkeit einer Wissenschaft des Schönen erscheint, versucht die Akademie, so drängt sich der Eindruck auf, die Entwicklung einer spezifisch französischen Tradition der Ästhetik zu fördern. Die an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert heftig geführte Diskussion über die Legitimität der Ästhetik hat in französischen intellektuellen Kreisen tiefe Spuren hinterlassen und legt schon um 1800 Facetten an den Tag, die für das spätere Spannungsverhältnis zwischen Philosophie und Literaturkritik (bzw. Literaturwissenschaft) prägend geblieben sind.