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Methode und Erkenntnisfortschritt

Kritische Bemerkungen zum Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte

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Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie Aims and scope Submit manuscript

Summary

Seit einiger Zeit werden wissenschaftstheoretische Behauptungen zunehmend durch wissenschaftshistorische Hinweise gestützt oder bestritten. Die vorliegenden Ansätze (etwa bei Kuhn und Lakatos) zu einer methodologischen Reflexion auf dieses Verfahfahren sind aber unzureichend. Eine genauere logische Analyse zeigt, daß wissenschaftshistorische Begründungen wissenschaftstheoretischer Behauptungen spezielle Formen praktischer Syllogismen sind und daß die Zulässigkeit derartiger Begründungen nicht nur von der Gültigkeit praktischer Syllogismen abhängt, sondern auch von der Feststellbarkeit des Erkenntnisfortschritts sowie von der Rechtfertigung wissenschaftshistorischer Aussagen unabhängig von allen erst noch zu prüfenden methodologischen Modellen.

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References

  1. E. Husserl, Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos I, 1910/11, S. 289–341; jetzt auch in: Quellen der Philosophie. Texte und Probleme. 1. Hrsg. v. R. Berlinger, Frankfurt/M. 1965.

  2. Descartes, Discours de la méthode (Regulae ad directionem ingenii), Oeuvres AT X, S. 371f.

  3. Vgl. auch W. Whewell, On the Philosophy of Discovery, New York 1971 (11860), S. 3.

  4. Vgl. z. B. Th. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt/M. 1973, S. 17, wo Kuhn, sicherlich auch mit einem Blick auf die gegenwärtige Wissenschaftstheorie, von einem Bild der Wissenschaft spricht, „das vorschnell und in erster Linie nach dem Studium abgeschlossener wissenschaftlicher Leistungen gezichnet worden“ ist. Kuhns Ziel ist ein „Entwurf der recht abweichenden Konzeption der Wissenschaft, wie man sie aus geschichtlich belegten Berichten über die Forschungstätigkeit selbst gewinnen kann“. (ibid.) In seinen „Bemerkungen zu meinen Kritikern“ (in: Lakatos, Musgrave (Hrg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt, Braunschweig 1974, S. 228) schreibt Kuhn: „Nachdem ich entdeckt hatte, daß manches wissenschaftliche Verhalten und darunter auch dasjenige der größten Wissenschaftler immer wieder die akzeptierten methodologischen Kanones verletzt, mußte ich mich fragen, wieso die Fälle des Versagens den Erfolg des Unternehmens doch nicht beeinträchtigten“.

  5. So schreibt etwa Watkins, „Das Interesse der Methodologie gilt meiner Auffassung nach der Wissenschaft in ihrer besten Form, der Weise, wie sie betrieben werden sollte, und nicht der abgedroschenen Wissenschaft (sc. der Normalwissenschaft im Kuhnschen Sinne)“ (J. Watkins, Gegen die ‚Normalwissenschaft‘, in: Lakatos, Musgrave (Hrg.) a.a.O., S. 27). Entsprechend räumt Watkins ein, daß Normalwissenschaft historisch vorkommt (S. 32), bezweifelt dann aber, daß sie historisch eine so große Rolle gespielt habe, wie Kuhn behauptet, und kritisiert schließlich Kuhns positive Bewertung normalwissenschaftlicher Tätigkeit („Rätsellösen“) durch den Hinweis auf die Verwandtschaft von Normalwissenschaft und orthodoxer Theologie. Ähnlich argumentiert Popper selbst: „Das, was Kuhn beschrieben hat (sc. die Normalwissenschaft), existiert in der Tat ... Daß ich diese Erscheinung nicht mag, während Kuhn dieselbe Erscheinung ganz gut leiden kann, das ist eine andere Frage, allerdings eine sehr wichtige“ (strikte Trennung von deskriptiver und normativer Ebene). Dann aber heißt es: „Aber ich möchte doch die Ansicht vertreten, daß wenige Wissenschaftler, die man aus der Geschichte der Wissenschaft kennt, jemals in Kuhns Sinne ‚normal‘ waren“ (historischer Hinweis zur Verteidigung der eigenen Position). Und schließlich: „Kuhn behauptet nämlich, daß die Rationalität der Wissenschaft einen gemeinsamen Rahmen voraussetzt ... Ich halte dies für eine irrige These“ (normative Interpretation und Kritik des Kuhnschen Standpunktes, daß Normalwissenschaft auch betrieben werden solle, wenn Erkenntnisfortschritt erwünscht ist) (vgl. K. R. Popper: Die Normalwissenschaft und ihre Gefahren, in: Lakatos, Musgrave (Hrg.), a.a.O., S. 52–55).

  6. „Eine Analyse der Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnis muß auch jene Frage berücksichtigen, wie die wissenschaftliche Tätigkeit de facto ausgeübt wird“ (Th. S. Kuhn, Logik der Forschung oder Psychologie der wissenschaftlichen Arbeit? in: Lakatos, Musgrave (Hrsg.), a.a.O., S. 4). Darin glaubt sich Kuhn noch mit Popper einig. Aber folgende Sätze würde Popper nicht mehr ohne weiteres unterschreiben: „Damit ist festgestellt, daß, wenn Geschichtswissenschaft oder irgendeine andere empirische Disziplin uns zu der Überzeugung führt, daß die Entwicklung der Wissenschaft wesentlich von dem Verhalten abhängt, das wir früher für irrational gehalten haben, wir dann daraus schließen sollten, daß ... unser Begriff von Rationalität hier und dort korrigiert werden muß“ (Th. S. Kuhn, Bemerkungen zu Lakatos, in: Lakatos, Musgrave (Hrg.), a.a.O., S. 319; vgl. auch ders., Bemerkungen zu meinen Kritikern, ibid. S. 255). Historisch-deskriptive Forschung hat also zunächst Priorität, dient der Kritik an methodologischen Vorschlägen, hat dann aber auch ihrerseits normative Konsequenzen: „Meine Arbeit soll zugleich in beiderlei Sinn (sc. deskriptiv und normativ) gelesen werden. Habe ich eine Theorie darüber, wie und warum die Wissenschaft funktioniert, so muß diese Theorie natürlich auch Konsequenzen dafür haben, wie sich die Wissenschaftler verhalten sollen, wenn ihr Unternehmen gedeihen soll„ (Bemerkungen zu meinen Kritikern, a.a.O., S. 229).

  7. Dazu rechne ich nicht jene Arbeiten, die ohne genauere methodologische Diskussion eine mögliche Beziehung zwischen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie rundweg leugnen. Ein Beispiel ist McMullins Versuch, die Weisen zu klassifizieren, in denen Wissenschaftsgeschichte für Wissenschaftstheorie relevant sein kann. Dafür unterscheidet McMullin zwischen einer externen Wissenschaftstheorie, die normativ von allgemeinen Begriffen aus konzipiert werde, und einer internen Wissenschaftstheorie, die ihre Ergebnisse durch Analyse tatsächlicher Verhaltensweisen von Wissenschaftlern gewinne. Nach dieser Unterscheidung ist man nicht überrascht zu erfahren, daß die externe Wissenschaftstheorie (zu der auch Poppers Methodologie zu rechnen ist) wissenschaftsgeschichtliche Fakten allenfalls als Illustrationen benutzen, keinesfalls aber durch sie geprüft werden können (E. McMullin, The History and Philosophy of Science. A Taxonomy, in: Minnesota Studies in the Philosophy of Science V, 1970, S. 12–67). Wenig konstruktiv ist der Hinweis einiger Wissenschaftshistoriker, daß sehr viele Wissenschaftstheoretiker sich nicht hinreichend auf die Interpretation historischer Dokumente einlassen; nicht selten steht hier nämlich die Überzeugung im Hintergrund, Interpretation wissenschaftshistorischer Texte sei letztlich doch etwas ganz anderes als wissenschaftstheoretische Arbeit und werde durch letztere allenfalls beeinträchtigt (vgl. z. B. I. B. Cohen, History and the Philosopher of Science, in: F. Suppe (Hrg.): The Structure of Scientific Theories, Urbana 1974, S. 308–349, bes. S. 345f. Vgl. dazu die Replik von Achinstein (ibid. S. 350–360) sowie die anschließende Diskussion (S. 361–373), die sich dann freilich leider auf das Anachronismusproblem konzentriert und die Frage der Prüfbarkeit von Methodologien anhand der Wissenschaftsgeschichte aus den Auguen verliert). Wenn umgekehrt die zunehmende Beschäftigung der Wissenschaftstheoretiker mit der Wissenschaftsgeschichte „das szientistische Selbstverständnis der Wissenschaften Lügen strafen“ und einen „Paradigmawechsel in der analytischen Wissenschaftstheorie“ einleiten soll (so D. Böhler: Paradigmawechsel in analytischer Wissenschaftstheorie? Wissenschaftsgeschichtliche und wissenschaftstheoretische Aufgaben der Philosophie, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 5, 1974, S. 256–284), so sollte doch zuvor geklärt werden, unter welchen Bedingungen diese Beschäftigung überhaupt sinnvoll ist. Dies wäre auch von Marxisten zu fordern, die sicherlich nicht an einer nur deskriptiven Wissenschaftstheorie interessiert sind. Die Wendung zum Historischen zu begrüßen — wie es etwa Engels angesichts der Wissenschaft des 17. Jahrhunderts getan hat —, dürfte kaum genügen.

  8. Vgl. z. B. die Einleitung des Aufsatzes „Logik der Forschung oder Psychologie der wissenschaftlichen Arbeit“, a.a.O., S. 1ff., sowie „Bemerkungen zu meinen Kritikern“, a.a.O. S. 225 und 233.

  9. So schreibt Kuhn in den „Bemerkungen zu meinen Kritikern“: „Der erste Punkt ist der wahrnehmbare Unterschied zwischen unseren (sc. der von Kuhn und seinen Kritikern) Methoden: Logik gegen Geschichte und Sozialpsychologie, normativ gegen deskriptiv. Dies sind aber, wie ich gleich zu zeigen versuche, kuriose Kontraste ... Ferner sind in diesen (sc. von Kuhn und seinen Kritikern gemeinsam entwickelten) Gesichtspunkten das bloß Beschreibende und das Normative unlösbar miteinander verbunden“ (a.a.O. S. 225).

  10. „Mich interessieren die rationale Rekonstruktion und die Entdeckung der wesentlichen Züge (sc. der Wissenschaft) um gar nichts weniger, als dieselben Dinge den Wissenschaftsphilosophen interessieren. Auch ich erstrebe das Verständnis der Wissenschaft, das Verständnis der Gründe ihrer außerordentlichen Leistungsfähigkeit und des kognitiven Status ihrer Theorien“ (Th. S. Kuhn, Bemerkungen zu meinen Kritikern, a.a.O. S. 228).

  11. Vgl. I. Lakatos, Criticism and the Methodology of Scientific Research Programmes, in: Proceedings in the Aristotelian Society N. S. 69, 1969, S. 149–186; ders., Falsification and the Methodology of Scientific Research Programmes, in: Lakatos/Musgrave (ed.), Criticism and the Growth of Knowledge, London 1970, S. 91–196.

  12. Vgl. folgende Bemerkungen aus der deutschen Übersetzung des zweiten der in Anm. 11 genannten Aufsätze (in: Lakatos/Musgrave (Hrg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt, a.a.O. S. 89–191): „Die wichtigsten dieser Reihen (sc. von Theorien) sind durch eine gewisse Kontinuität charakterisiert, die ihre Glieder verbindet. Diese Kontinuität entwickelt sich aus einem echten Forschungsprogramm ...“ (S. 129). — „Wenn wir uns die Wissenschaftsgeschichte ansehen, wenn wir sehen wollen, wie gefeierte Falsifikationen zustandegekommen sind, dann werden wir zur Schlußfolgerung gezwungen, daß einige von ihnen entweder völlig irrational waren oder Rationalitätsprinzipien entsprechen, die sich von den eben diskutierten radikal unterscheiden“ (S. 112). — „Die Wissenschaftsgeschichte legt den Gedanken nahe, daß Tests zumindest dreiseitige Kämpfe sind zwischen theoretischen Rivalen und dem Experiment“ (S. 112). — „Die (sc. wissenschaftshistorischen Fallstudien in diesem Abschnitt zeigen, daß die Rationalität viel langsamer arbeitet, als die meisten Leute glauben wollen“ (S. 168).

  13. So diskutiert Lakatos, was zu tun sei, „wenn die Wissenschaftsgeschichte unsere Theorie der wissenschaftlichen Rationalität nicht bestätigt“. Dann gebe es nur die Alternative, entweder das Ziel der Methodologie, „eine rationale Erklärung für den Erfolg der Wissenschaft zu geben“, aufzugeben und statt dessen sozialpsychologische Beschreibungen zu liefern (Kuhns Weg nach Lakatos), oder eine neue Theorie der Rationalität zu ersinnen, „die die Methodologie und die Idee des wissenschaftlichen Fortschritts rettet“ (a.a.O. S. 112f.). Das Liberalitätskriterium kommt, mehr implizit als explizit, in Sätzen wie den folgenden zum Ausdruck: „So erklärt die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme die relative Autonomie der theoretischen Wissenschaft: eine historische Tatsache, deren Rationalität die früheren Falsifikationisten nicht zu erkären vermochten“. (a.a.O. S. 134). Und: „Dieses methodologische Abgrenzungskriterium ist viel liberaler als das dogmatische. Der methodologische Falsifikationismus eröffet neue Wege der Kritik: Eine viel größere Zahl von Theorien kann als ‚wissenschaftlich‘ gelten“ (a.a.O. S. 107).

  14. Schon im Falsifikationismus-Aufsatz selbst findet man gelegentlich skeptische Bemerkungen: „Es ist gewöhnlich sehr schwer, eine Theorie der Kritik zu kritisieren ... Im gegenwärtigen Stadium der Diskussion besitzen wir noch keine allgemeine Theorie der Kritik für wissenschaftliche Theorien, und schon gar nicht für Theorien der Rationalität. Der Versuch, unseren methodologischen Falsifikationismus zu falsifizieren, muß also unternommen werden, noch bevor wir eine Theorie besitzen, die uns zeigen könnte, wie wir vorgehen sollen“ (a.a.O. S. 111f.).

  15. I. Lakatos, History of Science and its Rational Reconstructions, in: Boston Studies of the Philosophy of Science VIII, 1971, S. 91–136; dtsch. in: Lakatos/Musgrave (Hrg.), Kritik und Erkenntnisfortschritt, a.a.O. S. 271–312, neuerdings auch in: W Diederich (Hrg.), Theorien der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt 1974, S. 55–119.

  16. „Die Geschichte der Wissenschaft ist eine Geschichte von Ereignissen, die in normativer Weise ausgewählt und interpretiert werden. Unter diesen Umständen wird das bisher vernachlässigte Problem der Bewertung rivalisierender Forschungslogiken und damit rivalisierender Rekonstruktionen der Geschichte ein Problem von höchster Wichtigkeit“ (Lakatos/Musgrave, Kritik und Erkenntnisfortschritt, a.a.O. S. 290). Schon diese Problembeschreibung zeigt, daß es ganz abwegig ist anzunehmen, Lakatos schlage eine Prüfung von Methodologien anhand externer Wissenschaftsgeschichte vor, und daß eine entsprechende Kritik gegenstandslos ist, wie Giesen und Schmid sie vorbringen (vgl. B. Giesen/M. Schmid, Rationalität und Erkenntnisfortschritt, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 5, 1974, S. 250–284, dort bes. S. 279).

  17. Vgl. folgende Bemerkungen dazu: „Während es nur wenig Einmütigkeit in bezug auf ein allgemeines Kriterium des wissenschaftlichen Charakters von Theorien gab, gab es doch in den letzten zwei Jahrzehnten beträchtliche Einmütigkeit hinsichtlich einzelner Errungenschaften“. — „Bis zum heutigen Tage waren es die wissenschaftlichen Maßstäbe, so wie sie von der wissenschaftlichen Elite instinktiv in besonderen Fällen angewendet werden, die den hauptsächlichen — wenn auch nicht ausschließlichen — Maßstab der universellen Gesetze der Philosophen bildeten“ (Lakatos/Musgrave, Kritik und Erkenntnisfortschritt, a.a.O. S. 294 und 307).

  18. Vgl. vor allem Lakatos/Musgrave, Kritik und Erkenntnisfortschritt, a.a.O. S. 302f.

  19. Darin erschöpft sich allerdings auch die Analogie zwischen methodologischer und metamethodologischer Ebene. Eine vollständige Parallelisierung zwischen wissenschaftlichen und methodologischen Forschungsprogrammen, wie sie Lakatos offenbar vorschwebt, ist nicht erkennbar. Vgl. dazu W. Detel, Zwei Fallstudien zur Prüfung des Falsifikationismus, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 5, 1974, S. 233 mit Anm. 15.

  20. Ähnlich argumentiert auch Diederich in seiner Einleitung zu W. Diederich, Theorien der Wissenschaftsgeschichte, a.a.O. S. 19–22. Hall bezweifelt außerdem, daß Methodologien überhaupt eine scharfe Trennung zwischen externer und interner Wissenschaftsgeschichte ermöglichen — tatsächlich fragt es sich, ob man sich, wenn die Tautologie nicht gänzlich offensichtlich werden soll, diese Trennung nicht besser als durch die Basiswerturteile definiert denken soll (vgl. dazu: R. J. Hall, Can we use the history of science to decide between competing methodologies? in: Boston Studies of the Philosophy of Science VIII, 1972, S. 151–158). Diederich und Hall weisen auch auf die Konventionalität der Basiswerturteile hin. — Stegmüllers neuester Versuch, anhand eines jüngst von Sneed, van Fraassen, Suppe und anderen entwickelten modell-theoretischen Ansatzes nachzuweisen, daß die angeblich bei Kuhn bestehende Rationalitätslücke geschlossen und alle normativen Elemente der Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme als überflüssig angesehen werden können, ist unter metamethodologischem Aspekt nicht überzeugend. Wenn wissenschaftliche Theorien als mathematische Strukturen aufgefaßt werden, deren (mögliche) Anwendungsbereiche als Mengen (potentieller) Modelle beschrieben werden, so ist es nach Stegmüller erstens vernünftig, an einer Theorie solange festzuhalten, als sie noch zulässige Modelle besitzt, ohne Berücksichtigung jener Gegenstandsbereiche, die nicht zu ihren Modellen gehören, also ihrer „Falsifikatoren“ im alten Sinne (Verhalten des Normalwissenschaftlers im Kuhnschen Sinne); und zweitens ist es möglich, eine Reduktionsrelation zwischen Theorien zu definieren derart, daß von einer Reduktion einer Theorie auf eine andere gesprochen werden kann, auch wenn beide Theorien logisch inkommensurabel sind, so daß es vernünftig ist, eine Theorie zugunsten einer anderen zu verwerfen, wenn sie auf diese reduzierbar ist, ohne mit ihr vergleichbar zu sein (Verhalten des revolutionären Wissenschaftlers im Kuhnschen Sinne). So lassen sich nach Stegmüllers Auffassung alle von Kuhn festgestellten faktischen Verhaltensweisen der Wissenschaftler im Lichte des modelltheoretischen Ansatzes als vernünftig verstehen; mithin gibt es den Wissenschaftlern nichts mehr vorzuschreiben, d.h. normative Methodologie ist überflüssig. Es ist nun aber offensichtlich, daß Stegmüller hier das einfache, bereits von Lakatos angedeutete Liberalitätskriterium als Bewertungskriterium für Methodologien verwendet: der modelltheoretische Ansatz gilt historisch als gerechtfertigt, insofern eralle (von Kuhn festgestellten) faktischen Verhaltensweisen als rational anzusehen gestattet. Dieses Kriterium ist aber offenbar völlig inadäquat. Erst wenn die relevanten, d.h. als erfolgreich ausgezeichneten historischen Tatsachen festgelegt sind, kann geprüft werden, ob die modelltheoretischen Angaben notwendige oder hinreichende Bedingungen für Erkenntnisfortschritt sind. Sie scheinen, nebenbei bemerkt, nicht einmal notwendige Bedingungen zu sein; denn es gibt sicher Fälle von Erkenntnisfortschritt, an denen Theorien beteiligt waren, die nicht nur quantitative Begriffe enthielten; der modelltheoretische Ansatz gilt jedoch nur für völlig mathematisierte Theorien (vgl. dazu W. Stegmüller; Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie, Bd. II, 2 (Theorienstruktur und Theoriendynamik), Berlin 1973, S. 153ff., bes. S. 287ff.).

  21. Vorausgesetzt wird damit eine strikte Unterscheidung zwischen Bestätigung bzw. Falsifikation einer Theorie einerseits und ihrer Annahme oder Verwerfung andererseits — eine Unterscheidung, die, wie Kutschera mit Recht bemerkt, nicht immer streng genug durchgeführt wird, offensichtlich z.B. auch von Popper nicht (vgl. F. v. Kutschera, Wissenschaftstheorie, München 1972, Bd. II, S. 404). Das schließt natürlich nicht aus, daß man Bestätigung bzw. Falsifikation als eine der notwendigen oder hinreichenden Bedingungen für Annahme bzw. Verwerfung ansehen kann. Ein konsequent deduktivistischer oder induktivistischer Standpunkt, nach welchem (deduktive oder induktive) Bestätigung bzw. Falsifikation notwendig und hinreichend, oder zumindest hinreichend, für Annahme bzw. Verwerfung einer Theorie ist, dürfte kaum haltbar sein (dazu F. v. Kutschera, Wissenschaftstheorie, a.a.O., Bd. II, S. 453ff.).

  22. Selbst Stegmüller, der normativen Methodologien gegenüber so skeptisch ist, schreibt (und dieser Text scheint recht genau die Einstellung vieler Wissenschaftstheoretiker zu treffen): „Die Kuhnsche Inkommensurabilitätsthese schließt jeden logischen Vergleich zwischen der ursprünglichen Theorie und der sie verdrängenden Ersatztheorie aus und macht damit das Reden vom Fortschritt unmöglich. Es kann höchstens von einem Wandel gesprochen werden. Dies ist ein intuitiv unbefriedigendes Resultat, sowohl in logischer als auch in historischer Hinsicht. In logischer Hinsicht deshalb, weil doch der Fall, daß Theorienverdrängung Fortschritt bedeutet, wenigstens denkbar sein sollte. In historischer Hinsicht deshalb, weil wohl nicht zu leugnen ist, daß gewisse tatsächliche Theorienverdrängungen mit Fortschritt verbunden waren. Dieses Fortschrittsphänomen gilt es nicht zu leugnen, sondern aufzuklären“ (W. Stegmüller, Probleme und Resultate ... Bd. II, 2, a.a.O. S. 254f.).

  23. Der Terminus „bedingter (hypothetischer) Normsatz“ wird in der Normenlogik gewöhnlich für Sätze der Form „A ⊃ O(B)“ verwendet, in denen Bedingungen erwähnt werden, die hinreichend — und nicht, wie im Text, notwendig — sind für die Geltung einer Norm. Ich nehme mir die Freiheit, diesen Terminus auf Sätze der Form „O(A ⊃ B)“ bzw. „O(A) ⊃ B“ auszudehnen (Vgl. zu Fragen der Symbolisierung etwa H. Lenk: Zur logischen Symbolisierung bedingter Normsätze, in: H. Lenk (Hrg.), Normenlogik, München 1974, S. 112–136). Ob es sich im übrigen um präskriptive oder deskriptive Normsätze handelt, ist für die folgende Diskussion nicht relevant. Wenn es sich jedoch um präskriptive Normsätze handelt, dann heißen — dies zur Vermeidung von Mißverständnissen — Sätze, die Kant „hypothetische Imperative“ genannt hat, jetzt „technische Normsätze“, während Kant bedingte (hypothetische) Gebote im modernen Sinne nicht behandelt hat (vgl. z.B. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Abschn., BA 40ff.; Kritik der praktischen Vernunft, 1. Buch, 1. Hauptstück, Anm zu § 1; Kant kennt übrigens auch den Begriff des technischen Imperatives, der aber als Spezialfall des hypothetischen Imperativs angesehen wird, vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 2. Abschn., BA 44.).

  24. Vgl. G. H. v. Wright, An Essay in Deontic Logic and the General Theory of Action, Amsterdam 1968, S. 16. Zu den bereits von Prior (The Paradoxes of Derived Obligation, in: Mind LXIII, 1954, S. 64f.) entdeckten Paradoxien der Symbolisierung bedingter Normsatze in der Form O(A ⊃ B) vgl. Lenk, Zur logischen Symbolisierung bedingter Normsätze, a.a.O. S. 114ff.

  25. Ein Beispiel für viele: Der anerkannte Wissenschaftshistoriker Rupert Hall kennzeichnet den Inhalt seines vielgelesenen Standardwerkes zur Wissenschaftsgeschichte des 17. Jahrhunderts (Die Geburt der naturwissenschaftlichen Methode, Darmstadt 1965 (1London 1963)) zunächst ganz im Sinne einer Ereignisgeschichte: „Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit den zentralen und entscheidenden Stadien der naturwissenschaftlichen Revolution im 17. Jahrhundert“. Schon hier schwingt allerdings in den Ausdrücken „zentral“ und „entscheidend“ eine Bewertung mit, die sich sicher am langfristigen Erkenntnisfortschritt orientiert. In bezug auf die gesamte betrachtete Epoche wird diese Bewertung dann auch explizit formuliert: „Diese Revolution war und ist immer noch die größte geistige Leistung des Menschen seit den ersten Regungen des abstrakten Denkens, weil sie das ganze Universum der kumulativen Forschung erschloß“. Schließlich versucht Hall auch Bedingungen — und zwar methodische! — für dieses positiv bewertete Ereignis zu finden: „Natürlich hatte Mersenne recht. Die naturwissenschaftliche Revolution wurde nicht nur durch empirische Methoden bewirkt. Sie stellte die Ersetzung eines Denksystems durch ein anderes dar. Der Wissenschaft der Experimente stand also die Wissenschaft der Ideen gegenüber“. Anschließend weist Hall u.a nach, daß Galilei allein durch Auswertung seiner experimentellen Daten seine Hypothesen weder hätte entwickeln noch ausreichend stützen können.

  26. Zu diesen und anderen Formen des „praktischen Schließens“ (practical inference) vgl. z.B. G. v. Wright, The Logic of Practical Discourse, in: R. Klibansky (ed.): Contemporary Philosophy I, 1968, S. 141–167, bes. S. 157f.; M. Bunge, Scientific Laws and Rules, ibid. II, 1968, S. 128–140; N. Rescher, Practical Reasoning and Values, in: The Philosophical Quarterly 16, 1966, S. 3–18; G. v. Wright, Practical Inference, in: Philosophical Review 72, 1963, S. 159–179; E. Sosa, On Practical Inference and the Logic of Imperatives, in: Theoria 32, 1966, S. 211–223; H. N. Castaneda, Imperative Reasonings, in: Philosophy and Phenomenological Research 21, 1960, S. 21–49, bes. S. 46–48; A. J. Kenny, Practical Inference, in: Analysis 26, 1966, S. 65–75 (dazu Geach ibid. S. 76–79); Y. Bar-Hillel, Imperative Inference, ibid. S. 79–82.

  27. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten formuliert Kant einen Grundsatz, der dem praktischen Syllogismus (10) entspricht: „Wer den Zweck will, will auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist“. (BA 44f.). Von diesem Grundsatz heißt es anschließend: „Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch; denn in dem Wollen eines Objekts, als meiner Wirkung, wird schon meine Kausalität, als handelnder Ursache, d.i. der Gebrauch der Mittel, gedacht“ (BA 45). Kant spricht hier allerdings vom „Wollen“, nicht vom „Sollen“.

  28. v. Wright interpretiert z.B. in Practical Inference, a.a.O., die Teilsätze der Schlußform (10) folgendermaßen: „O(A)“ bedeutet: „Es ist X's Pflicht, A zu erreichen“; „A ⊃ B“ bedeutet: „Wenn X nicht B tut, kann X A nicht erreichen“; „O (B) bedeutet: „Es ist X's Pflicht, B zu erreichen“, was nun aber äquivalent ist mit „Wenn X B nicht tut, erfüllt X seine Pflicht nicht“. Damit wird (10) überführt in folgendes Argument: „Es ist X's Pflicht, A zu erreichen; wenn X nicht B tut, kann X A nicht erreichen; also, wenn X nicht B tut, erfüllt X seine Pflicht nicht“. Dieses Argument ist ein logischer Schluß; aber seine Form ist nur formulierbar durch die künstliche (und gezielte) Interpretation des Teilsatzes „O (B)“.

  29. Angenommen etwa, historisch könnte festgestellt werden, daß die Herstellung eines gesellschaftlichen oder sozialen Freiraumes im 17. Jahrhundert eine notwendige Bedingung für die erfolgreiche Entwicklung der Physik gewesen ist, so wäre vor der Formulierung entsprechender methodologischer Empfehlungen zu prüfen, ob ein derartiger Freiraum jedenfalls in einigen Bereichen nicht unerwünschte gesellschaftliche (vielleicht nicht unbedingt wissenschaftliche) relevante Folgen hat, die für einige Zeit einen Verzicht auf Erkenntnisfortschritt in diesen Bereichen geboten erscheinen lassen. Konkrete Beispiele gibt es genug — von Finanzierungsproblemen bis zur Waffentechnik.

  30. Der berühmte Anfangsatz der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft lautet: „Ob die Bearbeitung der Erkenntnisse, die zum Vernunftgeschäfte gehören, den sicheren Gang einer Wissenschaft gehe oder nicht, das läßt sich bald aus dem Erfolg beurteilen“ (B VII). Die folgenden Sätze machen deutlich, daß für Kant kumulative und lineare Forschung sowie methodische Einigkeit sichere Kriterien für erfolgreiche Wissenschaft sind.

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Detel, W. Methode und Erkenntnisfortschritt. Zeitschrift für Allgemeine Wissenschaftstheorie 8, 237–256 (1977). https://doi.org/10.1007/BF01800696

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